Streitfall Sparpaket

19.06.2010
Es ist das größte Sparpaket aller Zeiten: Mehr als 80 Milliarden Euro will die schwarz-gelbe Bundesregierung bis zum Jahr 2014 sparen. Die Kürzungsliste, die besonders den Sozialbereich trifft, hat für massive Kritik gesorgt, nicht nur bei Gewerkschaften und Sozialverbänden, sondern auch bei der Opposition und in den eigenen Reihen. Gegner des Sparpakets warnen vor einer gesellschaftlichen Spaltung. Sie werden durch eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) bestätigt, ihr zufolge klafft die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland immer weiter auseinander.
"Der Vorschlag zur Streichung des Elterngeldes für Hartz IV Bezieher ist kinder- und familienfeindlich und zeigt, dass im Kanzleramt momentan offenbar alle sozialpolitischen Sicherungen durchbrennen", sagt Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. "Statt von den Starken zu nehmen um den Schwachen zu helfen, wird skrupellos ausgerechnet bei den Ärmsten gespart."

Seine Forderung: "Solange Deutschland eine Steueroase für Erben, Vermögende und Spekulanten darstellt, kann von sozialer Gerechtigkeit keine Rede sein. Um eine ausgewogene, faire und gerechte Haushaltskonsolidierung zu gewähren, muss sich die Regierung endlich an die Einnahmenseite heran trauen."

Ähnlich wie die Gewerkschaften mahnt auch der Sozialexperte vor weiteren Protesten: "Dieses Maßnahmenpaket gleicht einem sozialen Sprengsatz. Es schafft keine Arbeitsplätze, sondern wird die Armut in unserem Land verschärfen. Nach den Milliardenhilfen für Banken und Automobilindustrie werden die Bürgerinnen und Bürger diese Ungerechtigkeiten nicht mittragen."

Zu den Experten, die das Sparpaket verteidigen, gehört der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Meinhard Miegel. Der Sozialetat umfasse 810 Milliarden Euro, davon würden drei Milliarden gestrichen, "das ist sehr maßvoll." Im Gegenteil: Das Sparpaket sei eigentlich noch zu klein, Deutschland habe zu lange auf Pump gelebt. "Die Maßnahmen sind nur eine Notoperation."

Auch die immer wiederkehrende Mahnung vor der sozialen Spaltung sei übertrieben. Man tue so, als seien das "Machenschaften von sinistren Mächten", dabei zeige auch die DIW-Studie die wahren Gründe auf: "Der zentrale Punkt ist die wachsende Zahl von Menschen ohne Ausbildung und ohne Schulabschluss. Und in unserer höchst entwickelten Volkswirtschaft haben diese Menschen keinen Platz."

Jetzt "reflexhaft" von sozialem Kahlschlag zu sprechen, sei unangemessen und gesellschaftspolitisch heikel. "Der Sozialetat umfasst 810 Milliarden Euro, das ist ein Drittel dessen, was wir erwirtschaften, das können wir uns schon noch leisten. Der zentrale Punkt ist, dass dieses Drittel auf immer mehr Menschen aufgeteilt werden muss, weil sich die Demographie verschiebt. Der Transferbedarf wird immer höher."
Der Ökonom, der in seinen Büchern immer wieder die Erosion und die Grenzen des Sozialstaates beschrieben hat, sieht aber auch an anderer Stelle Kürzungspotential, beim Verteidigungsetat, dem öffentlichen Dienst, den Subventionen.

"Wir leben in einer Vergoldungswirtschaft. Wir sind kein Gemeinwesen, wo der Cent umgedreht wird. Es wird unglaublich viel Geld rausgeworfen. Da müssen Sie nur mal die Zahlen des Bundes der Steuerzahler nehmen oder des Bundesrechnungshofes – das sind Milliardenbeträge, die in diesem System vergeudet werden."

Wer nach einer Reichensteuer rufe, müsse auch die steuerliche Realität zur Kenntnis nehmen: "Das obere Zehntel der Bevölkerung trägt die Hälfte der Steuerlast, die oberen 50 Prozent tragen 96 Prozent der Steuerlast. Das heißt auch, eine Hälfte der Bevölkerung trägt überhaupt nicht zum Steuereinkommen bei." Auch dies sei eine bemerkenswerte Leistung unseres Sozialstaates, die viel zu wenig zur Kenntnis genommen werde.

"Streitfall Sparpaket" - darüber diskutiert Dieter Kassel heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit Ulrich Schneider und Meinhard Miegel. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 / 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.


Informationen im Internet:
Über Ulrich Schneider und den Paritätischen Wohlfahrtsverband

Über Meinhard Miegel und die Stiftung "Denkwerk Zukunft"

Literaturhinweis:
Meinhard Miegel: "Exit. Wohlstand ohne Wachstum", Propyläen Verlag, Berlin 2010