Streit um Flüchtlingspolitik-Artikel

Polen wollen Historiker Gross Verdienstorden aberkennen

Zwei Juden, die sich in einem Haus versteckt hatten, werden von SS-Soldaten gefangen genommen. Die Aufnahme entstand während des Warschauer Ghetto-Aufstands, der vom 19. April 1943 bis zu seiner blutigen Niederschlagung am 16. Mai 1943 dauerte. Die Nationalsozialisten hatten ein Jahr nach der Besetzung Polens im November 1940 in Warschau ein Ghetto errichtet und dorthin annähernd eine halbe Million Juden verschleppt. Zwischen Juli und September 1942 wurden 300 000 Opfer in den Todeslagern, die meisten in Treblinka, ermordet. Als am 19. April 1943 die SS mit der Verschleppung der restlichen 60 000 Ghetto-Einwohner begann, leisteten mehrere hundert militärisch organisierte Juden bewaffneten Widerstand. Bei den Kämpfen wurden etwa 14 000 jüdische Aufständische getötet.
Ein Foto vom Aufstand im Warschauer Ghetto 1943: Der Historiker Jan Tomasz Gross provoziert seine ehemaligen polnischen Landsleute mit seiner Forschung zum Holocaust in Polen. Und nun mit einem Kommentar zur polnischen Flüchtlingspolitik. © picture alliance / dpa
Von Sabine Adler · 17.02.2016
Der polnisch-amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross polarisiert seit langem mit seinen Schriften über den Antisemitismus in Polen. Jetzt soll ihm möglicherweise ein Verdienstorden aberkannt werden: wegen eines kritischen Artikels über die Flüchtlingspolitik Polens.
Der in Polen geborene amerikanische Historiker konfrontiert seine früheren Landsleute regelmäßig mit unbequemen Wahrheiten, hält ihnen den Spiegel vor, in dem sie entdecken, was sie lieber nicht sehen möchten. Zum Beispiel: den in der Vergangenheit weitverbreiteten Antisemitismus.
Jan Tomasz Gross initiierte Debatten, frei nach dem Motto, dass nur die schmerzhaften Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte die Gesellschaft voranbringen, Selbstbetrug und Lügenmuster nur wenn es wehtut, besiegt werden können.
Als im vorigen Sommer in der Westukraine, ganz nah an der polnischen Grenze, sechs Gedenkstätten für Hunderttausende im Holocaust getötete ukrainische Juden eröffnet wurden, war Jan Gross dabei. "Die Verstorbenen im Boden gehören zu einem wichtigen Teil einer langen Geschichte und die Ukrainer reagieren darauf." Gross wurde mit Zeuge, wie manch Ukrainer rundweg abstritt, dass eine Kollaboration mit den Deutschen bei der Auslöschung der Juden stattgefunden hat. Derartige Auseinandersetzungen gab es auch in Polen, aber sie schienen inzwischen der Vergangenheit anzugehören. Doch nun wurde bekannt, dass Präsident Andrzej Duda angeblich rund 2.000 Anträge bekommen habe, Jan Tomasz Gross den polnischen Verdienstorden abzuerkennen. Der Geschichtswissenschaftler, der 1969 mit seinen Eltern in die USA emigrierte, verfolgt die Debatte derzeit von Israel aus.

Erinnerungen an die Kollaboration mit den Nazis

"Das geht schon eine ganze Weile so. Die rechten und nationalistischen Kräfte stellen mich schon seit langem als jemand dar, der falsch über Polen schreibt. Ich habe einen Artikel über die Flüchtlingskrise geschrieben. Er ist in 20 Ländern erschienen, aber weil er auch in der deutschen Tageszeitung 'Die Welt' gedruckt wurde, fanden sie, dass ich auf alle mögliche Art und Weise bestraft werden soll, unter anderem, in dem man mir den Orden aberkennt und strafrechtlich gegen mich ermittelt wegen übler Nachrede gegen die polnische Nation."
Gross hat in dem Artikel den osteuropäischen Mitgliedsländern der EU in der Flüchtlingskrise intolerantes, engherziges und fremdenfeindliches Verhalten vorgeworfen, sie hätten den Geist der Solidarität zu Zeiten des Mauerfalls vergessen. Vor allem aber erinnerte er einmal mehr an das dunkle Kapitel Kollaboration mit den Nazis. Zitat:
"Die Polen waren zwar zu Recht stolz auf den Widerstand ihrer Gesellschaft gegen die Nazis, haben aber tatsächlich während des Krieges mehr Juden als Deutsche getötet. Natürlich gab es auch Polen, die Juden (...) geholfen haben. Tatsächlich ist die Anzahl der polnischen 'Gerechten unter den Völkern', die im israelischen Yad Vashem für ihre Heldenhaftigkeit ausgezeichnet wurden, unter allen europäischen Nationalitäten die größte (was nicht überrascht, da Polen vor dem Krieg die Heimat der mit Abstand größten jüdischen Gemeinde in ganz Europa war). Aber diese bemerkenswerten Individuen haben normalerweise allein und gegen die vorherrschenden sozialen Normen gehandelt. Alle besetzten europäischen Gesellschaften haben sich in gewissem Ausmaß an den Bemühungen der Nazis zur Vernichtung der Juden beteiligt."

Wissenschaftler erklären sich solidarisch

Den Verdienstorden bekam er 1996 - für sein Engagement in der polnischen Opposition zu Zeiten der sozialistischen Volksrepublik, für seine Mitgliedschaft im Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, im Solidarnosc-Komitee im Ausland und für seine wissenschaftlichen Werke. Gerade weil viele der älteren polnischen Politiker der gemeinsamen früheren Oppositionsbewegung entstammen, dürfte es der derzeitigen Regierung in erster Linie um die Bücher des Historikers gehen und den Zeitungsartikel.
Während das Präsidialamt nun auf eine Stellungnahme des polnischen Außenministeriums wartet, haben 30 polnische und ausländische Wissenschaftler in einem öffentlichen Brief ihre Solidarität mit Jan Tomasz Gross bekundet. Die Aberkennung des Ordens würde Polen nicht nur in den Augen seiner Bürger, sondern in der Welt kompromittieren und wäre ein Zeichen der Einschränkung der Freiheit der Wissenschaft und des Wortes, so die Unterzeichner des Briefes. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder erklärte per Twitter, sollte Jan Tomasz Gross den Orden zurückgeben, würde er gleiches mit seinem polnischen Verdienstorden tun.
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