Strafe für Hilfe

Von Heidi Mühlenberg · 20.07.2009
Die Hanseaten in der Ostseestadt Lübeck proben den Aufstand. Grund ist ein politischer Schauprozess gegen den Lübecker Kapitän Stefan Schmidt und seinen Kollegen Elias Bierdel. Schmidt hatte als Kapitän der "Kap Anamur" vor fünf Jahren 37 schwarzafrikanische Bootsflüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet.
Nach einem halben Jahrzehnt fordert die Staatsanwaltschaft im sizilianischen Agrigent vier Jahre Haft ohne Bewährung und eine Geldstrafe von 400.000 Euro wegen Schlepperei. Der Vorwurf lautet: "Beihilfe zur illegalen Einreise in einem besonders schweren Fall". Am 21. Juli, also morgen, sollte das Urteil gesprochen werden, nun hat das Strafgericht die Verkündung auf den 7. Oktober verschoben.

Probe Shanty-Chor: "Steht ihr mal bitte auf…"

Die Sänger vom Passatchor Lübeck lieben Shanties über alles, die alten Arbeitslieder der Seeleute. Kein Wunder: Lübeck ist Ostseestadt. Hier ist die Welt dunkelblau und riecht nach Tang. Die Männer proben keinen Steinwurf entfernt vom Seehafen mit den großen Fähren nach Malmö.

Peter Lohrisch: "Man sieht ständig die Schiffe vor Augen, fühlt sich auch zum Wasser hingezogen, zum nassen Element. Das ganze Maritime, die Atmosphäre, das wollen wir dann auch mit unseren Liedern zum Ausdruck bringen."

Einige hier waren selbst Seeleute, andere sind bei der Wasserschutzpolizei oder Hobbysegler. Auch Lehrer, Banker oder Maurer singen im Chor. Der Chor hat Maximen: Alle sind gleich. Und: Politik bleibt draußen.

Roloff Spanuth: "Der Passatchor hält sich aus allen politischen Diskussionen raus. Aber dies hat für uns eine andere Qualität. Hier ist einer von uns für eine Sache vor Gericht gekommen, die wir alle so gemacht hätten. Niemand von uns hätte Leute, wo auch immer, absaufen lassen, weil irgendwelche Menschen das nicht für rechtens halten In dem Punkt ist der Käptn Schmidt einer von uns. Wir wollen ihn da raus gehauen sehen. Das hat er nicht verdient."

Chorsänger Roloff Spanuth macht aus seinem Zorn keinen Hehl. Der frühere Gefängnisaufseher hatte fassungslos in der Zeitung gelesen, welche Strafe Kapitän Stefan Schmidt in Italien droht. Er wollte irgendwas tun. Und die Gelegenheit kam, beim Sonntagskonzert auf dem Segelschiff "Passat", ein Highlight in Lübeck. Wo plötzlich auch der angeklagte Kapitän auftauchte.

Roloff Spanuth: "Mir kam dieses Gesicht bekannt vor, ich bin mehrfach an der Luke vorbei und fragte meine Sangesfreunde: Sagt mal, ist das nicht der Kapitän von der Cap Anamur? - Ja , das isser. Und so ist es ganz spontan gekommen, dass ich mich mit dem Vorstand abgestimmt hab. Wir holen den Schmidt auf die Bühne und erzählen mal, was man mit dem in Italien treibt. Und es kam dann an Bord ganz schnell dazu, dass Unterschriften gesammelt wurden, die ihn unterstützen sollen bei seiner Verteidigung in Italien."

160 Konzertbesucher haben spontan unterschrieben. "Pro Asyl" hatte die Soli-Unterschriften-Aktion gestartet. Die Protestkarten gehen direkt an Italiens Justizminister. Listen liegen vielerorts in Lübeck aus, im Ruderklub, in karitativen Einrichtungen, Schulen und Kirchen. Pro Asyl hat Schmidt kürzlich auch den Menschenrechtspreis verliehen. Der Kirchentag bat ihn mehrfach aufs Podium. Vom Passatchor haben alle unterschrieben.

Damals, 2004, hatten deutsche Medien der Schiffbesatzung der "Cap Anamur" Profilneurose und Medienmache vorgeworfen. Davon ist nichts übrig geblieben. Im Gegenteil: Zwei Expertisen bescheinigten der Besatzung im Grundsatz ein korrektes Verhalten während und nach der Seerettung - von der Uni Hamburg und vom Menschenrechtsinstitut Berlin. Und niemand - selbst Italiens Justiz - bestreitet, dass die Angeklagten die Flüchtlinge vor dem sicheren Tod bewahrt haben. Der 67-jährige Kapitän selbst gibt sich kämpferisch.

Stefan Schmidt: "Natürlich würden wir gar kein Urteil, was nicht auf Freispruch lautet, akzeptieren, ist ja ganz klar. Also selbst bei 'ner kleinen Mitschuld würden wir sagen: Nein, Menschen retten, dafür kriegt man keine Mitschuld, dafür kriegt man einen Orden. Das Schiff wurde ja damals gegen Kaution rausgelassen. Und die Kaution liegt da immer noch, und das sind immerhin zwei Millionen. Und wenn wir irgendwie verurteilt werden, dann ist das Geld weg. Und das ist ja Geld, was dem Verein Cap Anamur gehört und was gespendet wurde, um irgendwelchen armen Leuten in der Welt zu helfen. Und nicht, um Berlusconi zu helfen."

Gespendet hatten auch die Bürger von Lübeck, wo das Schiff umgebaut und umgetauft wurde: Rollstühle, 800 mechanische Schreibmaschinen für Liberia und Geld für den Umbau der "Cap Anamur" zum Lazarettschiff mit moderner Ausstattung. Dann mussten sie miterleben, wie das einzigartige Hilfsprojekt Schiffsbruch erlitt - im EU-Land Italien. Acht Monate lag das Schiff in Agrigent an der Kette, beschlagnahmt als "Tatwerkzeug." Container mit Medikamenten im Wert von 100.000 Euro verdarben, weil die Kühlung abgestellt wurde. Bestimmt waren sie für ein Kinderkrankenhaus in Bagdad. Die Empörung ist groß in Lübeck. Selbst der Grand Signeur der Lübecker Politik meldet sich aus dem Ruhestand zu Wort, Ex-Ministerpräsident Björn Engholm:

"Herr Schmidt hat sich eingesetzt für Menschen, die in Not sind, erkennbar in Not waren, hat Courage gezeigt. Und Courage ist das wesentliche Element einer mobilen Zivilgesellschaft. Und nun braucht er selbst die Unterstützung durch Zivilcourage, durch andere Leute. Er braucht die Solidarität, die er für die Schiffsbrüchigen eingesetzt hat. Und die kriegt er in Lübeck natürlich ganz leicht , weil er ist ja hier im Kopf der denkenden Leute eine Institution, hat jahrelang sich immer für andere eingesetzt, hat das jetzt wieder getan und kriegt als Strafe möglicherweise das Ende seiner Existenz mit hohen Kosten, 400.000 hab ich gehört, möglicherweise gar Gefängnis. Wer das zulässt, ja der muss mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wie man hier so sagt."

Die Seemannsschule in Lübeck-Travemünde. 300 angehende Matrosen haben heute ihren großen Tag. Bei der Abschlussprüfung müssen sie unter Beweis stellen, was sie in drei Jahren gelernt haben. Matrosen nennen sie sich übrigens nicht mehr. Schiffsmechaniker heißt jetzt ihr Beruf. Hier arbeitet Kapitän Stefan Schmidt - eigentlich im Ruhestand - noch tageweise als Ausbilder.

Für die Brandschutzübung müssen die Prüflinge feuerfeste Kleidung und Atemmasken anlegen und die Stahlflaschen ihrer Feuerlöscher befüllen.

"Flaschenfüllen gut…"
- "Mit was wird gelöscht?"
"Mit CO2."
- "Und das Szenario ist: Schiffsbrand an Bord?"
"Ja, genau, Schiffsbrand an Bord und Bergung einer vermissten Person."
- "Und schwer?"
"Unter Atemmaske: Ja, wenn man's noch nie vorher gemacht hat, auf jeden Fall."

Stefan Schmidt: "Jedes Mal ist da ein Teil Sicherheit dabei. Ich bin da neben den anderen Lehrern auch speziell für Sicherheit zuständig. Was jetzt hier geprüft wird, das haben wir ganz oft geübt. Damit das nachher an Bord auch ohne Kinken - wie man an Bord sagt - klappt Also, da muss alles wirklich schnell gehen. Und es kann sein, dass ein Zimmer, was an Bord brennt, innerhalb von drei Minuten, wenn man nicht sofort was tut, dann nicht mehr zu retten ist."

"Ich gehe rein - Feuer gesichtet - Feuer gelöscht - Achtung Rückzündung, keine Rückzündung bemerkbar - Achtung Rückzündung - Feuer gelöscht!"

Alle hier - die Ausbilder wie die Schüler - wissen von der Anklage gegen den früheren Kapitän der Cap Anamur. Die Schüler bringen Zeitungsartikel mit, die sie in ihren Heimatzeitungen finden über den Fall, und hängen sie ans Schwarze Brett. Der Direktor der Seemannsschule, Holger Gabelmann, sorgt sich um die Moral der angehenden Seeleute, sollte es tatsächlich in Italien zu einem Schuldspruch kommen.

"Wenn jemand, der Menschenleben rettet, dafür bestraft wird, überlegen sich natürlich andere, die in eine vergleichbare Situation kommen, was sie tun. Und das ist das völlig falsche Signal, das darf niemals zugelassen werden."

Grundlos ist diese Sorge nicht. In ihren drei Jahren Ausbildung fahren die Schüler schon zwei Jahre zur See und tauschen ihre Erlebnisse aus. Gerade machte so ein Fall hier die Runde. Ein Schiffsoffizier erhielt mündlich Order von seinem Reeder, ein Flüchtlingsboot in Not zu ignorieren. Offenbar aus Sorge vor den Kosten. Er tat es nicht, rettete die Schiffsbrüchigen und wurde anschließend unter einem Vorwand fristlos entlassen. Auch Stefan Schmidt kennt ähnliche Fälle.

"Wir wissen zum Beispiel, dass 14 Tage nach uns ein deutsches Schiff, die 'Solterdieb' Menschen gerettet hat auch in der Nähe von Sizilien. Das war ein Boot, da waren viel mehr Leute drin als bei uns, die Hälfte waren schon tot. Die trieben schon zehn Tage da rum. Der hat die an Bord geholt, hat die nach Sizilien gebracht. Der durfte auch am nächsten Tag wieder auslaufen, ohne Probleme. Nur die Leute, die gerettet wurden, ham erzählt,/ dass ungefähr acht große Schiffe am Tage an ihnen vorbei gefahren sind, also dicht vorbeigefahren. Sie konnten die Leute oben sehen. Und die ham nicht angehalten und ham sie nicht gerettet."

In Deutschland und England ist das eine Straftat. "Unterlassene Hilfeleistung auf See" wird mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft, eigentlich und natürlich nur, wenn jemand Klage erhebt.

An der Seemannsschule Lübeck-Travemünde ist die Welt in Ordnung - noch. Letzter praktischer Prüfungsteil: Die Bergung Schiffsbrüchiger. Dazu wird ein Rettungsschlauchboot mit der Seilwinde ins aufgewühlte Wasser der Travemündung gesetzt. Heute bei Regen und hohem Wellengang keine leichte Sache, noch dazu in dem sperrigen Überlebensanzug, den die Prüflinge tragen müssen.

Holger Gabelmann: "Hier in dem Boot da rechts, in dem größeren Boot, haben wir einen Übungs-Dummy. Der wird über Bord geworfen und dann heißt es also Mann über Bord. Und dann macht sich ein Rettungsteam, das ist da hinten in diesem Rescue-Boot, auf den Weg, um den aus dem Wasser zu bergen."

Stefan Schmidt: "Sie können den Mann zum Beispiel sehr schnell umbringen, indem sie ihn nicht waagerecht transportieren, sondern hinstellen oder hinsetzen. Das ist möglicherweise, wenn er schon stark unterkühlt ist, sein Todesurteil, so schnell geht das. Nur liegen, und behandeln wie ein rohes Ei, da ist jede unnötige Bewegung fehl am Platz. Ich hab mal einen Fall erlebt auf einem Boot, da wollte ein Arzt den Geretteten aufsetzen, um ihn abzuhorchen. Der war so unterkühlt, der ist da dran gestorben."

Doch die Prüfer sind diesmal zufrieden. Alle waren konzentriert bei der Sache. Am späten Nachmittag ist es geschafft. Die Schüler warten im Regen vorm Eingang auf ihre Prüfungsergebnisse. Zeit für ein kurzes Gespräch.

"Bei uns ist meistens so, dass wir Westküste Afrika fahren, da kann uns das auch passieren, von Nigeria. Das sind dann zwar erstmal blinde Passagiere, aber sind auch Flüchtlinge. Ja, was will man machen? Ich hoffe, dass mir es nicht passiert."
"Wir ham eigentlich alle, als wir Herrn Schmidt nach einem Jahr wieder gesehen ham, noch mal nachgefragt. Und natürlich stehen wir alle hinter ihm als Seemann und auch als Person, - schicken auch fleißig die Postkarten ab - Schicken die Postkarten ab, genau."
"Humanitäre Hilfe als Straftat…"
"Genau, das kann einfach nicht sein, dass so was dann bestraft wird."
"Wenn Sie in so eine Situation kommen, was würden Sie machen?"
"Ich würde auch auf jeden Fall Rettungsaktion starten."
"Da gibt's gar keine Frage."
"Das ist Gesetz, dass man Seebrüchige aufzunehmen hat, egal, ob Asiaten oder Flüchtlinge - (Gemurmel, genau) Man hat sie zu retten."
"Und wenn der Reeder sagt: Nö, weggucken?"
"Dann ist das vom Reeder 'ne Aufforderung zur Straftat, die darf ich natürlich nicht begehen."

Zurück in der Innenstadt vom Lübeck. Direkt vorm Rathaus hat sich eine Gruppe Straßenmusiker vor dem Regen unter die Kaufhauspassagen geflüchtet. Was denkt der unbeteiligte Lübecker über den Prozess gegen den Kapitän? Ich frage die Verkäuferin im Buchladen an der Jakobikirche.

"Auf jeden Fall ein Freispruch, er hat Menschen das Leben gerettet. Was wäre denn passiert, wenn herausgekommen wäre, dass er diese Menschen nicht gerettet hat? Er kann sie nicht einfach zum Tode verurteilen, indem er ihnen nicht hilft. Gut, er hat vielleicht organisatorische Fehler gemacht, hat's nicht rechtzeitig gemeldet, aber das ist kleinkariert."

In der Lübecker Bürgerschaft: "Ich kann nur ermahnen, diesen Eid zum Wohl der Stadt ernst zu nehmen und unserer Beschlussvorlage zuzustimmen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit."
Die entscheidende Unterstützung bekam Kapitän Stefan Schmidt hier, im altehrwürdigen Rathaus, von der Lübecker Bürgerschaft. Der getäfelte Prachtsaal ist eigentlich Schauplatz heftiger Wortgefechte in der Kommunalpolitik. Doch mitten im Europawahlkampf, Ende Mai, geschah hier ein kleines Wunder. Einstimmig beschloss die Bürgerschaft - alle Parlamentarier von allen Fraktionen - eine Resolution als Zeichen Lübecker Solidarität mit den beiden Angeklagten der "Cap Anamur": "Stefan Schmidt und Elias Bierdel haben die Hochachtung der Lübecker Bürgerschaft für die Rettung der 37 Schiffsbrüchigen im Mittelmeer. Zur See Fahrende, die Schiffsbrüchige aus Seenot retten und diese im Hafen eines EU-Mitgliedsstaates absetzen, sollen nicht strafrechtlich verfolgt werden". Im Gegenteil:" Das italienische Gericht wird aufgefordert, den Vorwurf der Schleuserei fallen zu lassen."

Katja Mentz, Stellvertretende Vorsitzende der grünen Fraktion, hatte den Antrag eingebracht und auch dafür gesorgt, dass die italienischen Medien - ganz offiziell - von der Protest-Resolution der Bürgerschaft in Kenntnis gesetzt werden.

"Uns war es wichtig, zum einen, weil Kapitän Schmidt aus Lübeck stammt und in Lübeck wohnt, das Schiff auch aus Lübeck ausgelaufen ist, als es 2004 in See stach und Lübeck offiziell verkündet hat, über den Bürgermeister Bernd Saxe, dass, wenn sie mal in Schwierigkeiten seien, Lübeck hinter ihm stehen würde. Und daran wollten wir die Bürgerschaftsmitglieder erinnern. Denn was an den Außengrenzen passiert, ist definitiv 'ne Schweinerei, es wird letztendlich zugeguckt, wie Tausende Menschen ertrinken und sterben. Zudem haben wir hier in Lübeck oder vor den Toren von Lübeck in Groß-Grünau die Frontex, ein Ausbildungszentrum für die Flüchtlingsabwehr. Und damit tragen wir auch ein Stückweit Verantwortung, für das, was hier geschieht und an den Außengrenzen letztendlich fortgesetzt wird."

Stefan Schmidt: "Vorher war das Gefühl so: Wir wussten, der italienische Staat, also ein ganzer Staat, will uns etwas Böses. Das war ganz eindeutig. Und unser eigener Staat hat sich total raus gehalten, die Medien ham sich raus gehalten. Wir standen praktisch ganz alleine da. Das ist schon en komisches Gefühl. Und jetzt wissen wir eben: Aha, die Leute hier wachen auch langsam auf und da fühlt man sich anders. Es wird zwar erstmal nicht Eindruck machen auf die Italiener, ob wir hier Unterstützer haben oder nicht, aber trotzdem: Für uns ist es schon gut."

Björn Engholm: "Lübeck hat eine ausgeprägte Geschichte, die aufs engste verbunden ist mit der Hanse. Eine große Schar reisender Kaufleute. Dazu gehört, dass die Kaufleute schon im 12. Jahrhundert aufgestiegen sind auf Schiffe, die damals vielleicht 30, 40, 50 Tonnen groß waren. Also jede mittelgroße Privatyacht heute ist größer. Und da ham sie Hab und Gut drauf getan und sind eigentlich mit Mut ins Ungewisse gefahren. Sie wussten ja nicht genau, was dahinten in Russland so alles passieren kann. Und wenn sie Glück hatten, kamen sie wohlhabend zurück. Mit ein oder zwei Touren waren sie wohlhabend. Und dieser Geist, Mut zum Risiko, Innovation, ins Ungewisse vordringen und dabei zugleich anständig sein, das ist der Geist, der sich bis heute in der alten Lübecker Schicht erhalten hat. Und von diesem Geist - denke ich - wird Kapitän Schmidt, was das Engagement der Lübecker anbetrifft, profitieren."

Der alte Geist von Lübeck - besonders eindrucksvoll lebt der in der Jakobikirche fort, seit über 600 Jahren genutzt als Seefahrer- und Fischerkirche in Lübeck. Sie beherbergt heute die nationale Gedenkstätte für die zivilen Opfer der Seefahrt. Denn pro Jahr sinken 200 Schiffe, ertrinken 2000 Seeleute. Die tausenden Bootsflüchtlinge nicht mitgerechnet. Pfarrer Lutz Jedeck hat auch hier die Protestpostkarten ausgelegt, wie alle seine Kollegen in Lübeck. Seine Pröbstin richtete im Namen des gesamten Kirchenkreises Lübeck Lauenburg einen ungewöhnlichen scharfen Protestbrief an Italiens Justizminister.

Gegen den Trend zur anonymen Seebestattung hat die Jakobikirche hier einen Ort des Erinnerns für Angehörige verstorbener Seefahrer geschaffen. Seeleuten ohne Heimathafen bietet die Kirche eine letzte Ruhestätte an, eine Urnenbestattung im so genannten "Columbarium". Auf dem Boden sind die Namen der Seeleute der "Pamir" verewigt. Sie starben 1957 beim Untergang des Segelschulschiffs, eine der tragischsten Katastrophen der zivilen deutschen Seefahrt. In der Pamir-Kapelle steht noch das originale hölzerne Rettungsboot - ziemlich lädiert - in dem sich sechs der Seeleute retten konnten.

Pfarrer Lutz Jedeck: "Jakobi ist seit 2007 Gedenkstätte für die Opfer der zivilen Schifffahrt und hat sich zum Auftrag gemacht, den Opfern auf See einen Namen zu geben, allen Opfern auf See. Und dass, was Herr Schmidt getan hat, ist Menschen zu retten, die in Seenot waren, die zu Ertrinken drohten. Darum fühlen wir uns natürlich verpflichtet, Herrn Schmidt zu unterstützen."

Helga Lenz von der Lübecker Flüchtlingshilfe sieht noch einen weiteren historischen Grund, warum sich gerade Lübeck für seinen Kapitän stark machen sollte.

"Wir wollen auf das Flüchtlingselend an Europas Grenzen hinweisen, das sich jetzt vor allem im Mittelmeer abspielt. Aber wir kennen das als Lübecker auch sehr gut. 20 Jahre ostdeutsche Grenze. Da sind damals die Flüchtlinge, die es hier rübergeschafft haben, auch mit Schlauchbooten, anders empfangen worden als die Flüchtlinge, die es jetzt im Mittelmeer schaffen."

Für die Flüchtlingshilfe wie für die Kirche ist der Prozess gegen die beiden Menschenretter ein Fanal, ein gefährlicher Angriff auf humanistische Grundwerte mit verheerender Signalwirkung. Pastor Heinz Rußmann kennt nicht nur Stefan Schmidt gut, der lange in seiner Kirchgemeinde aktiv war, sondern auch dessen ganze Familie.
"Du siehst jemanden, der ist am Ertrinken, er reicht Dir seine Hand entgegen und Du ziehst ihn nicht aus dem Wasser raus. Dann bist Du ein Mörder, hat Martin Luther so in aller Deutlichkeit im großen Katechismus gesagt und also, den kann man nicht ... Also, das widerspricht aller Humanität, wenn der richtig rechtskräftig verurteilt werden würde."

Was kann denn Kirche in Lübeck noch machen, haben Sie nicht alle Register schon gezogen?
- Lacht - "Das weiß ich auch nicht. Ja, ihn entführen."
Sie würden ihm Kirchenasyl geben?
"Wir würden ihm Kirchenasyl geben, das wäre so 'ne Lösung. Er wird in Italien verurteilt, und darf nie wieder nach Italien fahren. Aber in Deutschland, denke ich, wird er nicht ausgeliefert."

Katja Mentz: "Wir wollen an unsere Abgeordneten im Europaparlament herantreten und sehen, dass wir dort etwas bewirken. Sollte es zur Verurteilung kommen, werden wir sicher weitere Proteste organisieren und die werden sicher noch lauter werden als die jetzigen."

Holger Gabelmann: "Wenn es denn tatsächlich dazu kommt, muss man abwarten, in welcher Weise eine Verurteilung erfolgen würde. Selbstverständlich stehen wir absolut hinter Herrn Schmidt. Und wenn er uns zeitlich zur Verfügung stehen kann, werden wir ihn selbstverständlich weiter beschäftigen. Das ist gar keine Frage."

Björn Engholm: "Also, wir ham ja in sehr viel schwierigeren Fällen über diplomatische Kanäle eine ganze Menge herausbekommen. Und unser Eindruck hier in Lübeck ist, dass die Bundespolitik, die Bundesdiplomatie sich in dieser Frage extrem schleichend bewegt."