Stille Stelen in Berlin

Von Wolfgang Stenke · 25.06.2009
Es brauchte zwei Ideenwettbewerbe und zahlreiche Anhörungen von Historikern, Architekten und Künstlern bis der Bundestag am 25. Juni 1999 den Bau des "Denkmals für die ermordeten Juden Europas" beschließen konnte.
"Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir müssen heute entscheiden: Wollen wir nach zehnjähriger Debatte ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas errichten?”"

Als der SPD-Abgeordnete Wolfgang Thierse am 25. Juni 1999 im Bundestag als erster Redner die letzte Debatte am Parlamentsstandort Bonn eröffnete, ging es um eine geschichtspolitische Entscheidung ersten Ranges: Wie sollte das wiedervereinigte Deutschland in der Hauptstadt Berlin, einst Zentrale des nationalsozialistischen Genozids an den Juden, der Opfer dieses Menschheitsverbrechens gedenken?

""Natürlich stimmt es, wenn Ignatz Bubis sagt, er brauche ein solches Denkmal eigentlich nicht; das wahre Denkmal sei in seinem Herzen. Aber was für den deutschen Juden Ignatz Bubis gilt, das kann und darf für uns, die Nachkommen der Täter, nicht in gleichem Maße gelten, denn nicht für die Juden – ob deutsche oder andere – bauen wir dieses Denkmal, sondern für uns. (...) Vor diesem Denkmal dürfen Wegsehen und Gleichgültigkeit keinen Bestand haben."

Die Bundestagsdebatte stand am Ende eines Diskussionsprozesses, den 1988 eine Bürgerinitiative initiiert hatte. Schon gleich zu Anfang entbrannte ein Streit um die Frage, welche Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu berücksichtigen wären: allein die Juden – oder auch Sinti, Roma, Behinderte, Homosexuelle und Zeugen Jehovas? Als Kanzler Kohl 1993 sein umkämpftes Projekt einer nationalen Gedenkstätte in Schinkels "Neuer Wache" durchsetzte, das unterschiedslos allen Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft gewidmet wurde, gab es, wie die "Süddeutsche Zeitung" schrieb, einen "Kuhhandel": Kohl bekam sein Projekt mit der monumental vergrößerten Pietà von Käthe Kollwitz und sprach sich für ein Holocaust-Mahnmal aus. Das Ergebnis des künstlerischen Wettbewerbs – eine riesige schiefe Ebene aus Beton, auf der die Namen von mehr als vier Millionen ermordeter Juden eingraviert werden sollten – befriedigte niemanden. Der Architekt Salomon Korn, Denkmalbeauftragter des Zentralrats der Juden, kommentierte:

"Die gigantische Grabplatte hat mit Kunst wenig zu tun. Solche Schieflagen können sinnbildlich für alle Übel einer aus den Fugen geratenen Welt stehen und bleiben beliebig austauschbar."

1997 begann ein neuer Wettbewerb, aus dem der Architekt Peter Eisenman als Sieger hervorging. Er plante, zunächst mit dem Bildhauer Richard Serra, für den Standort dicht am Brandenburger Tor ein Feld aus mehr als 4000 grauen Betonstelen. Wieder gab es Streit. Der Schriftsteller Martin Walser urteilte im Oktober 1998 über den Entwurf:

"Die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum. Die Monumentalisierung der Schande. (...) Wahrscheinlich gibt es auch eine Banalität des Guten."

Ästhetische Bedenken, revisionismusverdächtiger Überdruss an der Dauerdiskussion und gute volkspädagogische Absichten verwickelten sich im Herbst 1998 zu einem schier unauflösbaren Knoten. Dann legte die neu gewählte Regierung aus SPD und Grünen im Koalitionsvertrag fest, dass der Bundestag über das Holocaust-Denkmal entscheiden sollte.

Am 25. Juni 1999 war es soweit. Bis dahin hatte Eisenman die Pläne mehrfach überarbeitet: Er verringerte die Zahl der Betonquader, auch ein Informationszentrum, das Politiker gefordert hatten, integrierte der Architekt in den Entwurf. Zur Debatte standen noch vier weitere Lösungen – von einer monumentalen Platte – mit der Inschrift: "Du sollst nicht morden!" - bis zur Gründung eines israelisch-deutschen Jugendwerkes anstelle eines Denkmals. 32 Redner arbeiteten sich in der Sitzung an den Beschlussvorlagen ab – mit historischen, ethischen, politischen und ästhetischen Argumenten. Darunter der CDU-Abgeordnete Norbert Lammert. Er plädierte für einen "Ort der Irritation":

""'Ein Platz, zu dem man gerne geht', wie Sie, Herr Bundeskanzler, das in einem Interview einmal öffentlich eingefordert haben, muss diese Erinnerungsstätte ganz gewiss nicht sein. Dieses Mahnmal muss stören, sonst ist es überflüssig.”"

Am Ende beschloss der Bundestag in namentlicher Abstimmung den Bau des "Denkmals für die ermordeten Juden Europas". Samt angegliederter Informations- und Erinnerungsstätte. Eröffnet wurde Peter Eisenmans Stelenfeld im Mai 2005.