Steven Uhly: "Marie"

Verdrängung als Überlebensinstinkt

Himmel
"Tief versunken in nächtlichen Träumen finden sie Bilder, die ihre Lebenssituation spiegeln." © picture alliance/dpa/Foto: Maximilian Schönherr
Von Sigrid Brinkmann · 22.12.2016
"Marie" von Steven Uhly ist die Fortsetzung seines erfolgreichen Romans "Glückskind". Marie wurde als Säugling zum Sterben in eine Mülltonne gelegt und von einem Hartz-IV-Empfänger gerettet. Wenige Jahre später kommt sie ihrer eigenen Geschichte nun langsam auf die Spur.
Steven Uhlys 2012 publizierter und zwei Jahre später von Michael Verhoeven verfilmter Roman "Glückskind" ist eine märchenhafte Geschichte über Empathie, Verantwortung und das Lügen für einen guten Zweck: veritable Erbauungsliteratur und doch ein großartiges poetisches Werk. Die Frage, ob man einem Kind die verletzende Wahrheit über seine frühe Aussetzung ersparen darf, greift der Autor vier Jahre später in dem Buch "Marie" wieder auf. Man kann den neuen Roman aber auch ohne Vorkenntnisse der Geschichte des in eine Mülltonne gelegten und von einem Hartz-IV-Empfänger geretteten Säuglings lesen.

Leiden an enttäuschter Liebe

Uhly erzählt aus der allwissenden Perspektive von drei Geschwistern, die mit einer permanent überforderten Mutter leben. Mit zu vielen Aufgaben belastet, werden sie schlicht um ihre Kindheit gebracht. Dass Kinder äußerst loyale Wesen sind, immer bereit, ihren Erzeugern aufs Neue zu verzeihen, Nachsicht mit deren Egomanie zu üben und für sie zu lügen, führt der Autor auf schmerzhafte Weise vor. Leiden an enttäuschter Liebe, Ignoranz und verquaste Selbstsucht bilden den Boden, auf dem sich die mütterliche Tragödie und somit die ihrer Kinder auswächst.
Der Roman liest sich seitenweise wie eine Sozialreportage, aber Uhly, selber Vater von vier Kindern, versteht es, den Nahblick auf schwierige Alltagsverhältnisse und explosive Familiengeheimnisse literarisch zu gestalten. Immer wieder wiederholt er Worte, um seinen Beobachtungen Nachdruck zu verleihen. Ganz so, als wolle er sicherstellen, dass sie in uns nachklingen. Hier und da fügt er Traumschilderungen zwischen die selten mehr als zehn Seiten umfassenden Kapitel, die das Romangeschehen gliedern. Diese kurzen Sequenzen schaffen Öffnungen. Der Leser schöpft Atem und Mut, denn die Geschichte des Mädchens Chiara, das sich Marie nennen will, ist bedrückend. Auch die kindliche Gabe, sich selbst zu helfen, nimmt nichts von der Beklemmung, die einen bei der Lektüre packt.

Fragen stellten sie nie

Steven Uhly stattet seine Titelheldin, die nichts von ihrer Vergangenheit als zum Sterben in eine Abfalltonne gelegtes Baby weiß, mit einer starken Intuition aus, mit Eigensinn und Zähigkeit. Auch mit Zorn. Der ältere Bruder hatte, weil er so schlecht Gutenachtgeschichten erfinden kann, seiner sechs Jahre alten Schwester Chiara von einem Mädchen erzählt, dass gestohlen worden war und es gut hatte bei einem gewissen Hans. Er kante die Geschichte vom Hörensagen. Wir erleben, wie der Junge unbewusst vage Erinnerungsbruchstücke zusammenfügt. Intuitiv verfolgt er eine eigene Strategie, die ihn der Wahrheit näherbringt. Er und seine Schwester waren kleine Kinder, als die Mutter sie von einem Tag auf den anderen ohne die neugeborene Schwester im Arm aus dem Kindergarten abholen kam. Sie sahen mit eigenen Augen, wie der Vater die Wohnung aufschloss und seine Frau von der Polizei zum Verhör abholen ließ. Fragen stellten sie nie.
Dass Verdrängung einem Überlebensinstinkt gehorcht, macht Steven Uhly behutsam deutlich. Im letzten Kapitel fokussiert er auf das Kernpersonal: das durch eine kriminelle Tat und einen Meineid auf immer verbundene Trio Mutter, Kind und Lebensretter. Tief versunken in nächtlichen Träumen finden sie Bilder, die ihre Lebenssituation spiegeln. Hans, der Kindsretter, wird von einer grellen Sonne geblendet und sieht keinen Menschen mehr neben sich. Marie träumt, Hans läse ihr das Märchen von Frau Holle vor und sie sei die Pechmarie wie auch die Goldmarie. Und die Mutter von Chiara-Marie? Sie beginnt, einen Brief an sich selbst zu schreiben. Steven Uhly besitzt die seltene Gabe, kitschlose Versöhnungsmärchen zu ersinnen.

Steven Uhly, Marie
Secession Zürich, 2016
272 Seiten, 20,00 Euro

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