Sterne und ihre Wirkung auf Denker

Unerleuchtete Philosophen

Die Skyline der brasilianischen Stadt Sao Paulo bei Nacht
Ein Drittel der Menschen können keine Sterne mehr sehen, weil die Erde zu stark beleuchtet ist. © dpa/ picture-alliance/ Marcus Brandt
Von Arno Orzessek  · 19.06.2016
Ein Drittel der Menschen kann heute die Milchstraße nicht mehr sehen, weil auf der Erde zu viel Licht ist. Wäre das zu Kants Zeiten schon passiert, hätte der womöglich weniger philosophische Erkenntnisse gehabt. Was bedeutet das für die Zukunft?
Nicht nur Musiker, auch Philosophen produzieren manchmal Ohrwürmer. Wenn etwa Leser Immanuel Kants in stimmungsvollen Nächten draußen in der Natur den Blick nach oben richten - was schwirrt ihnen dann unwiderstehlich durch den Sinn?
Genau! Es sind jene gloriosen Worte aus der Kritik der praktischen Vernunft: "Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir"...
Vorausgesetzt natürlich, es versperren keine Wolken den Blick und die Sterne sind sichtbar.
Dass einem Drittel aller Menschen auch in sternenklaren Nächten die Milchstraße mittlerweile unsichtbar bleibt lässt beunruhigende philosophiehistorische Rückschlüsse zu. Hätte nämlich Kant selbst damals den bestirnten Himmel über Königsberg nicht sehen können, hätte er wohl kaum ein Faible für Teleskope entwickelt, wäre kein leidenschaftlicher Astronom geworden, hätte das Werk "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" nie geschrieben. Und wer weiß, ob ohne seine sternenfunkelnde Frühphase die drei Kritiken je entstanden wären.
Die traurige lichtmetaphorische Pointe lautet also: Heutige Helligkeit hätte Kant den galaktischen Durchblick versperrt und sein Aufklärungsprojekt gefährdet.

Apollo 8 und die Menschheit als kosmisches Kollektiv

Indessen hat die moderne Raumfahrt Kants Erdmännchen-Perspektive in puncto bestirnter Himmel stark verändert.
Die "Kritik der praktischen Vernunft" zielt ja auf die Geringfügigkeit des einzelnen Nachtschwärmers, wenn es heißt: Der "Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs".
Spätestens jedoch, seit Heiligabend 1968 die Besatzung von Apollo 8 bei der Umkreisung des Mondes die Erde am Mondhorizont aufgehen sah und ergriffen Fotos schoss, haben wir ein abgerundetes Gesamtbild von der Erde, das zugleich eine Art Gruppenfoto von uns ist.
Die Menschheit lernte sich damals als kosmisches Kollektiv-Objekt kennen und schlägt sich seither mit der über-individuellen Frage herum, wie wichtig ihr der blaue Planet sei. Nicht umsonst wurde das Foto eine Ikone der frühen Umweltbewegung.
Und nicht nur der deutsche Astronaut Alexander Gerst, der als Bordingenieur auf der Internationalen Raumstation ISS war, wünscht sich, "dass jeder Mensch einmal die Erde mit seinen eigenen Augen von oben sehen könnte".
Keineswegs, um à la Kant über die mickrige eigene Existenz nachzugrübeln, sondern über die prekären Existenz-Bedingungen der Gattung und des höheren Lebens überhaupt.

Warum sonnen wir uns, aber monden nicht?

Eben das hat der Nachtmensch Hans Blumenberg in dem Glossen-Band "Die Vollzähligkeit der Sterne" getan. Anstatt persönlich ins All zu fliegen, erfand er allerdings die "Astronoetik", was so viel heißt wie 'Gedankenraumfahrt'.
Schon deshalb hätte die akute Unsichtbarkeit der Gestirne Blumenbergs Schaffen weniger anhaben können als hypothetischerweise dem Astronomen Kant. Außerdem war der Mond, der nach wie vor allen sichtbar ist, Blumenbergs Lieblingshimmelskörper...
Und veranlasste ihn zu einigen anthropologischen Klarstellungen, darunter diese: Man könne sich "zwar sonnen, doch nicht monden. (...) So brauchen wir weder Mondcremes noch Mondbrillen".
Blumenberg war sich sicher, dass die Menschen auch nach einem kollektiven Aufbruch ins All nicht wirklich von ihrem Planeten loskämen. Er behauptete:
"Die Erde bleibt das Schicksal des Menschen, auch wenn er sie eines Tages aus der Ferne des Raumes nicht mehr erblicken können sollte: Er macht aus allem, was er bewohnt und befährt, kleine Erden mit ihrer und seiner Geschichte."
Bestimmt trägt die akute Licht- und Sichtverschmutzung dazu bei, dass sich die Menschen solche eminenten Gedanken, die der bestirnte Himmel provoziert, noch seltener machen als zuvor.
Insofern ist die Nacht-Helligkeit eine Agentin der Gegenaufklärung und leistet der menschlichen Kurzsichtigkeit weiteren Vorschub.
Das wird jene bestätigen, die ohnehin ein defätistisches Weltbild pflegen. Ihnen sei jedoch mit Blumenberg gesagt: "Es mag sein, dass die Welt nicht zu existieren verdient. Aber das hätte man vorher wissen müssen, um es zu verhindern."
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