Stéphane Hessel: Zusammen ein neues Europa aufbauen

Stéphane Hessel im Gespräch mit Burkhard Birke · 22.01.2013
Im Zweiten Weltkrieg war Stéphane Hessel in der Résistance aktiv, wurde von der Gestapo verhaftet und hat das KZ nur mit Glück überlebt. Die Tatsache, dass junge Deutsche und Franzosen sich gut verstehen, sei das Wichtigste, was der Elysée-Vertrag mit sich gebracht hat, so der 95-Jährige.
Deutschlandradio Kultur: Viel ist erreicht worden in den 50 Jahren seit dem Abschluss des Elysée-Vertrags. Die Europäische Union ist zusammengewachsen. Stéphane Hessel, Sie plädieren ja grundsätzlich dafür, dass wir mehr nationale Souveränität abgeben an europäische Instanzen. Brauchen wir ganz dringend jetzt mit Blick auf die Finanzkrise eine Wirtschaftsregierung, einen europäischen Finanzminister? Wäre das ein erster Schritt, den Sie sich vorstellen könnten?

Stéphane Hessel: Bestimmt. Also, das Finanzsystem hinter dem Wirtschaftssystem, die gerade von der Wirtschaft abgelöste Finanzmacht, das ist eine große Gefahr. Unter der haben wir in den letzten fünf Jahren besonders gelitten. Das müssen wir überwinden. Wir können die ärmeren Länder nicht darunter leiden lassen, dass die reicheren die Finanz an sich reißen und den anderen wegnehmen. Das ist die Gefahr, gegen die wir jetzt versuchen zu kämpfen. Und da ist viel noch zu tun.

Deutschlandradio Kultur: Was wäre da zu tun und wer soll das denn bezahlen?

Stéphane Hessel: Wir sollen es alle zusammen bezahlen. Und zu tun ist, dass wir uns gemeinsam aussehen, was brauchen wir. Zum Beispiel, wir brauchen bestimmt nicht, dass alle Aktienhalter in den Banken 15 Prozent Profit jedes Jahr haben. Ich bin kein Finanzmensch. Ich kann darüber nichts Gültiges Ihnen sagen. Aber es steht schon fest, das Finanzproblem ist ein mathematisches Problem, das geschickte Menschen ausarbeiten können. Aber dass Kulturen zusammenkommen, das Lernen von unseren Sprachen, das Lernen vom Französischen in Deutschland, vom Deutschen in Frankreich, die Kenntnis von der Jugend, von der Erfahrung über die deutsch-französischen Jugendwerke hinüber, das sind die wichtigen Elemente eines Zusammenkommens unserer beiden Kulturen und unserer beiden Nationen, was für Europa eine ganz besondere Wichtigkeit hat.

Daher müssen wir auf den Elysée-Vertrag zurückblicken mit dem Gefühl, er hat in der Tiefe etwas gemacht, was gar nicht mehr auszulöschen ist. Die Tatsache, dass junge Deutsche, wenn sie junge Franzosen treffen, sich gut fühlen und dasselbe umgekehrt, das ist das Wichtigste, was der Elysée-Vertrag mit sich gebracht hat.

Deutschlandradio Kultur: Herr Stéphane Hessel, also auch eine gewisse Normalität. Ist denn diese Normalität nicht auch so etwas, wo man sagen muss, hier müssten wir dieser Beziehung nach 50 Jahren, wie bei einem alten Paar, wo die Anziehungskraft nachlässt, neue Anziehungskraft geben? Man müsste sich was einfallen lassen, um die Anziehungskraft wieder spielen zu lassen.

Stéphane Hessel: Natürlich, ja. Man kann sagen, das ist jetzt ganz normal. Daher braucht man sich nicht mehr darum zu kümmern. Das wäre falsch. Denn natürlich, die Gefahr gibt es in allen unseren Ländern. Gott sei Dank, ein bisschen weniger in Frankreich und in Deutschland, aber man fühlt es in anderen Ländern. Was in Ungarn zum Beispiel augenblicklich passiert, ist eine Gefahr. Man kann es auch manchmal in gewissen Parteien, wie zum Beispiel in Frankreich im Front National oder in Deutschland in gewissen Bedingungen, die nördlich oder südlich passieren. Also, die Gefahr gibt es immer. Und die Gefahr muss immer wieder gekannt und bekämpft werden.

Aber ich rechne damit, dass gerade das zusammen Aufbauen von einem größeren Europa, das ist das Notwendige. Wenn Deutsche und Franzosen miteinander nur für sich selbst arbeiten würden und irgendwie die Idee haben würden, ein deutsch-französisches Zusammenkommen bedeutet eine größere Macht für diese beiden Länder über die anderen europäischen Länder herüber, das wäre eine ganz falsche Ansicht. Man muss im Gegenteil darüber nachdenken: Wenn wir beide, unsere beiden Länder zusammen etwas den anderen erzählen können, so ist es, wenn man zusammenarbeitet, die Kulturverschiedenheiten überwindet, dann kommt etwas, das wirklich für jeden das Wichtigste ist.

Also, Frankreich und Deutschland nach 50 Jahren Elysée-Vertrag haben eine gemeinsame Verantwortung zusammen mit den anderen Ländern Europas, südlich, östlich, westlich und nördlich, zusammen ein neues Europa aufzubauen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Das ausführliche Interview mit Stéphane Hessel lief in unserer Sendung Tacheles.

Links bei dradio.de:

50 Jahre Elysée-Vertrag -
Deutsche und Franzosen feiern 50 Jahre Freundschaft

50 Jahre Elysée-Vertrag -
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50 Jahre Elysée-Vertrag im Bild -
Originalaufnahmen und -berichte vom Januar 1963