Stein des Anstoßes

Wie angemessen an NS-Täter erinnern?

Neu angekommene Häftlinge haben auf der Todesrampe im KZ Auschwitz Aufstellung genommen. Links Frauen und Kinder, rechts die Männer. Anschließend wird mit der Selektion begonnen.
Häftlinge auf der Todesrampe im KZ Auschwitz Aufstellung. © dpa / picture alliance
Von Anke Petermann · 24.03.2017
Eine spezielle Hinterlassenschaft aus der Zeit des Nationalsozialismus sind die Gräber ehemaliger Protagonisten der NS-Herrschaft. Gauleiter Josef Bürckel hat zehntausende Juden in Konzentrationslager deportieren lassen. Jetzt sorgt sein Grabstein für Diskussionen.
"Wie hieß der Typ, der politisch das Sagen hatte in Neustadt und der Pfalz?"
Neustadt an der Weinstraße - die Sonne fällt auf den historischen Marktplatz mit mächtiger Stiftskirche und kleinen Fachwerkhäuschen. Auf den Stufen des Sandsteinbrunnens steht Eberhard Dittus vom Vorstand der örtlichen KZ-Gedenkstätte (http://www.gedenkstaette-neustadt.de/) und erwartet eine Antwort von den Achtklässlern vor ihm.
"Josef Bürckel – genau. Den Namen könnt ihr euch ruhig merken."
Der evangelische Diakon ruft das Frühjahr 1933 in Erinnerung, damals hieß der Markt "Adolf-Hitler-Platz". Und eine der Gassen im Zentrum "Josef-Bürckel-Straße". Schon 1927 wurde Neustadt zentraler Verwaltungssitz der NS-Parteiorganisation in der Pfalz, mit Bürckel an der Spitze. Von Beruf Lehrer, später freigestellt für "große Aufgaben" im nationalsozialistischen Machtapparat. Dass die Bücherverbrennung in Neustadt erst vier Tage später als in Berlin stattfand, lag nicht an Bürckels mangelndem Eifer.

Bücherverbrennung in Neustadt an der Weinstraße

"In Neustadt wollten sie es eigentlich auch am 10. Mai machen, aber da hat es geregnet. Und wenn 's regnet, brennt natürlich kein Feuer. Übrigens waren damals net nur in Neustadt, sondern auch bei anderen Bücherverbrennungen viele Jugendliche dabei. Die hatten Spaß dran, die Bücher ins Feuer zu werfen. Die Nazis wussten ganz genau, wie sie Kinder und Jugendliche instrumentalisieren konnten und praktisch für ihre Zwecke begeistern."
Hitlers pfälzischer Statthalter Bürckel war beliebt bei Bürgern jeden Alters. Er sprach Dialekt, trank gern Wein und führte seinen Dackel Gassi.

Der "rote Gauleiter"

Als arbeiterfreundlich galt er, trug sogar den Beinamen "roter Gauleiter". Adressat Bürckelscher Sozialpolitik war jedoch allein die "Volksgemeinschaft", wie sie die Nationalsozialisten definierten. Sukzessive vergrößerte sich der Einflussbereich des Gauleiters um das Saarland und Lothringen zur sogenannten "Westmark". Gnadenlos verfuhr er dort mit allen, die nicht zum "deutschen Volk" gehören durften. Eberhard Dittus wendet sich erneut an die 14-, 15-jährigen Gymnasiasten, kommt auf Bürckels Rolle im Jahr 1938 zu sprechen und deutet quer über den Marktplatz.
"Er hat mit gesteuert die Verbrennung der jüdischen Synagoge, die da vorn war. Übrigens in derselben Nacht, als die Synagoge gebrannt hat, hat man das jüdische Altenheim in Brand gesteckt. Und in dieser Nacht sind zwei alte Frauen im Alter von 80 Jahren in dem Altenheim bei lebendigem Leib verbrannt, weil die beiden Frauen es nicht mehr geschafft haben, rauszukommen, aus dem brennenden Altenheim."
Ob Bücherverbrennung oder das Tourismusprojekt Deutsche Weinstraße, ob Juden-Verfolgung oder sozialer Wohnungsbau: Für all das war Josef Bürckel als Gauleiter mit Dienst- und Wohnsitz Neustadt zuständig.
Ortswechsel: Vom Marktplatz zum Neustädter Hauptfriedhof am Stadtrand – Treffpunkt von Diakon Dittus mit Marc Weigel, Lehrer und Mitstreiter in der Gedenkarbeit. "Wäre Bürckel nicht vor Kriegsende gestorben, dann würden wir heute nicht an seinem Grab stehen", merkt der Kirchenmann mit dem roten Schal an:
"Denn dann wäre er mit Sicherheit zum Tode verurteilt worden, wegen der Menschenrechtsverletzungen, die er begangen hat, so wie sein Kollege Wagner aus Baden."

Überzeugte Täter

Der wurde zum Tode verurteilt - von dem gibt es kein Grab. Diese "Bürckel-Wagner Aktion", das war ja diese Aktion, in der die beiden ihre Gaue "judenfrei" gemacht haben. Da waren sie sogar stolz darauf und haben das Berlin telegrafiert, an ihren Führer, dass jetzt die Gaue "judenfrei" sind. Das hat damals immerhin mehr als 6000 jüdische Menschen aus der gesamten Pfalz und aus Baden betroffen."
Bürckel und Wagner machten als erste im Deutschen Reich ernst mit der sogenannten "Entjudung" – ein Jahr, bevor die Juden reichsweit deportiert wurden. Die beiden Übereifrigen aus dem Südwesten lieferten dazu den Masterplan.
"Diese Menschen wurden alle nach Gurs in Südfrankreich deportiert, das ist über tausend Kilometer von hier entfernt, und wer die Strapazen der Fahrt nicht überstanden hat, wer die zwei nächsten Jahre nicht überstanden hat, wurde 1942 nach Auschwitz deportiert und dort vergast. Also, die allermeisten Menschen von den 6.500 sind Todesopfer dieser Aktion geworden."
Robert Wagner, NS-Gauleiter und Reichsstatthalter von Baden sowie Chef der Zivilverwaltung des Elsaß, wurde 1946 nach dem Prozess in Straßburg hingerichtet. Sein Komplize Josef Bürckel starb kurz vor Kriegsende nach einer Darm- und Lungenentzündung an Kreislaufversagen, keine 50 Jahre alt. Sein Begräbnis - ein Staatsakt. Gerüchte über einen Selbstmord halten Historiker für unzutreffend. Beerdigt wurde der Antisemit im September 1944 im sogenannten Ehrenhain des Neustadter Hauptfriedhofs, wo auch die Gefallenen des Ersten Weltkriegs begraben liegen.

Ehrengrab für einen Mörder

"Das wurde auch live im Rundfunk übertragen, die Trauerfeier, Baldur von Schirach hat die Trauerrede gehalten, damals."
Von Schirach - ehemaliger Reichsjugendführer und NS-Gauleiter, nach dem Krieg wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt, Mitte der siebziger in Kröv an der Mosel gestorben. Sein Grab wurde 2015 planiert.
Bürckels nationalsozialistisches Ehrengrab in zentraler Lage, so erzählt Marc Weigel, wurde nach dem Krieg zum Problem. Vor gut siebzig Jahren beschloss der Neustädter Stadtrat, die Leiche des Gauleiters umzubetten.
"Und dann gab's hier im Winter eine wahrscheinlich etwas gespenstische Versammlung in früher Morgenstunde, wo der zuständige Beigeordnete und Ratsherren anwesend waren und auch ein Vertreter der Polizei. Man hat das Grab dann geöffnet, den Sarg geöffnet, hat sich davon überzeugt, ob es auch wirklich der Bürckel ist. Und als man das allgemein festgestellt hat, hat man dann das Grab hier an den äußersten Rand des Friedhofs verlegt, unweit der auch damals schon hier befindlichen Latrinen, und das war dann so die Lösung."

Zwischen Pietät und Ehr-Entzug

Das Grab in Klo-Nähe - der Nachkriegs-Kompromiss zwischen Pietät und Ehr-Entzug - Jahrzehnte lang weitgehend unbeachtet. Blick aufs Grabmal: Fünf pyramidenförmige Stützen tragen einen massiven Querblock aus Sandstein. Der Name Josef Bürckel in Großbuchstaben eingemeißelt, darunter Geburts- und Todesdatum – mehr nicht. Nur durch einen Busch ist das Nazi-Grab abgetrennt von einer Reihe älterer bedeutender Grab-Denkmäler, die in öffentlichem Interesse erhalten werden. Stelen, Amphoren, Putten aus dem 19. Jahrhundert.
Viele Neustadter finden diese Denkmäler schön, in dem wuchtigen Nazi-Grab sehen sie dagegen einen hässlichen Schandfleck, den man besser beseitigen sollte.

Bei Nacht und Nebel

Und eines Tages im Mai vergangenen Jahres war es dann beseitigt. Zur Überraschung des ehemaligen Kulturdezernenten Weigel, der auf seinen Friedhofsführungen hier regelmäßig Station macht. Ein leerer Fleck – Weigel traute seinen Augen nicht.
"Ich war ein bisschen perplex und hatte aber das Glück, aufmerksame Teilnehmer bei der Führung zu haben, die sich umgeschaut haben und sahen, dass hier auf dem Gelände der benachbarten Bildhauerei und des Steinmetzbetriebs die Steine noch lagen, in den einzelnen Bestandteilen aufgetürmt."
Was war passiert mit dem Grab, das in der Denkmal-Topographie des Landes Rheinland-Pfalz mit Foto verzeichnet ist? Nach Ablauf der Ruhezeit wollte weder die Stadt noch die Familie von Josef Bürckel für das Grab zahlen. Die Familie glaubte, sie könne das Grab abtragen lassen, die Stadt widersprach nicht. Von der Denkmalwürdigkeit wollen die Angehörigen, die immer noch in Neustadt an der Weinstraße leben, nichts gewusst haben. Tatsächlich werden Betroffene oft nicht über diesen Status informiert. Das alles "peinlich" für Neustadt, meint Mac Weigel, der für die Freien Wähler bei der Oberbürgermeister-Wahl im kommenden September kandidiert. Aber:
"Dadurch dass die Steine nicht entsorgt waren, sondern hier noch alles vorhanden war," Weigel deutet auf den Steinmetzbetrieb hinterm Grab: "war letztlich mit dem Zutun des Denkmalschützers klar, dass es wieder aufgerichtet werden muss."
Über den wieder aufgestellten Stein kippten anonyme Täter rote Farbe, wohl um ihren Protest gegen diese Entscheidung auszudrücken.

Makaber: blasse Schlieren wie Blutspuren auf dem Grabmal

Beim Versuch, die Schlieren abzuwaschen, blieben blassrote Spuren zurück, die an getrocknetes Blut erinnern – makaber. Das Nazi-Grab, ein Stein des Anstoßes. Viele Neustadter erfuhren erst durch den missglückten Abräum-Versuch, dass die Stätte Denkmalrang hat. Und sind irritiert, weil sie darin eine Ehrerweisung sehen.Christian Schüler-Beigang vom Landesamt für Denkmalpflege in Mainz korrigiert:
"Wenn wir ein Grabmal, das seit 1944 besteht, erhalten, erhalten wir einen Ausschnitt aus der Zeitgeschichte. Wir erhalten ja auch das Hexenbürgermeisterhaus, wo zu einer anderen Zeit schreckliche Dinge passiert sind, als Zeitzeugnis. Und genauso betrachten wir auch das Grabmal von Bürckel – als Zeitzeugnis."
In seiner Wuchtigkeit erzählt der massive Querblock, wie in der NS-Zeit ein hoher Parteifunktionär geehrt wurde.
"Also zunächst einmal ist es der Wunsch, sich monumental zu äußern, und die Formensprache des Grabmals transportiert eben den Anspruch auf Monumentalität. Zum anderen: Die fünf Sockelsteine rufen bei uns Assoziationen an die Höckerlinien des Westwalls hervor."

Ein Grabmal wie eine Panzersperre

"Drachenzähne" hießen im Volksmund die Betonhöcker an Hitlers westlicher Verteidigungslinie, die letztlich das Rückgrat des nationalsozialistischen Angriffskriegs formte. Bürckels letzte Ruhestätte -ein Grabmal wie eine Panzersperre – martialisch über den Tod hinaus. Dennoch denkmalwürdig, bekräftigt Schüler-Beigang.
"Es geht der Denkmalpflege um ein Dokument der Kunstauffassung dieser Zeit, und wir stören uns auch nicht an martialischen Kriegerdenkmälern, die irgendwo im Straßenraum oder auf Friedhöfen an anderer Stelle stehen."
Mit anderen Worten: Denkmalwürdig kann auch sein, was heute als unästhetisch oder gewaltverherrlichend empfunden wird. Das Bürckel-Grab bleibt anstößig. Für diejenigen, die nicht mehr erinnert werden wollen. Aber auch für viele, die sich in der Erinnerungsarbeit engagieren. Wie die Religionslehrerin Karin Hoffman, die ihren Achtklässlern gemeinsam mit Eberhard Dittus über ausgelöschtes jüdisches Leben in Neustadt erzählt. "Ein Grabmal bleibt ein Ehrenmal, und Bürckel sollte man keine Ehre erweisen", meint die Pädagogin. "Ein Grabmal zu erhalten, um es zu verachten", findet sie wiederum auch nicht in Ordnung, ins Mikrofon will sie das aber nicht sagen.
"Ach, schreiben Sie es so, wie ich 's gesagt hab'."
Marc Weigel, ebenfalls Lehrer und ehrenamtlicher Führer über den Hauptfriedhof, macht sich dagegen stark für das umstrittene Zeitzeugnis.
"Ich spüre, wenn die Schüler hier stehen an dem Grab, dass sie unmittelbarer betroffen sind davon, dass sie das verstehen, dass das nicht irgendwas ist, das sich in den Geschichtsbüchern zugetragen hat, oder irgendwo in Berlin, an weit entfernten Orten, sondern dass das hier in Neustadt war. Und dafür sind diese Mahnmale, eben auch negativen Denkmale, gut geeignet."
Den Stein erhalten - ja, da liegen Weigel und Dittus vom Gedenkstätten-Verein auf einer Linie mit der Denkmalpflege und der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz.
"Aber ein Hinweisschild mit dem Namen und der Funktion und vielleicht einem Querverweis darauf, wo man sich und wie man sich da weiter informieren kann, scheint mir sinnvoll zu sein."

Wie umgehen mit dem Schandmal?

"Dieses Grab darf nicht unkommentiert hier stehen! Hier muss eine Erklärung angebracht werden, wer dieser Herr Bürckel war. Ich weiß das, und manche andere, die sich auseinandersetzen mit dieser Zeit, wissen auch, wer Bürckel war. Aber die allermeisten Menschen, die hier auf den Friedhof kommen und an dem Grab vorbei gehen, wissen 's eben nicht. Und zunehmend, wenn die Zeit fortschreitet, wird man davon ausgehen können, dass die Verbrechen des Josef Bürckel einfach nicht mehr bekannt sind. Und das kann meines Erachtens so nicht stehen bleiben."
Hinweise auf NS-Verbrechen ja, aber – auch aus Pietätsgründen - nicht direkt am Grab, wenden die Experten für politische Bildung und Denkmalpflege in Mainz ein. Einer von ihnen ist Christian Schüler-Beigang.
"Es ist unserer Gesellschaft eigentlich angemessener und würdiger, wenn wir am Eingang zum Friedhof auf einer großen Tafel auf die Gräber bedeutender Persönlichkeiten hinweisen und darunter dann auch Bürckel ist."

Aufklärung als Bringschuld?

"Die Auseinandersetzung mit den Untaten ist an einer anderen Stelle besser aufgehoben, da ist die Gedenkstätte in Neustadt sicher der richtige Ort, und von dort hat man dann die Möglichkeit, das authentische Grab auf dem Friedhof aufzusuchen. Aber die Auseinandersetzung mit Bürckel und der Judenverfolgung, die sollte nicht auf dem Friedhof an der Stelle passieren, wo er beerdigt liegt."
Eberhard Dittus und Marc Weigel sehen das anders. Der Kompromissvorschlag - Information vorn auf der Eingangstafel - stellt die beiden Ehrenamtlichen vom Verein der KZ-Gedenkstätte nicht zufrieden. Wer zufällig und uninformiert am Nazi-Grab steht, der erführe auf diese Weise nämlich nichts, es sei denn, er vertieft sich direkt auf dem Friedhof ins Smartphone.
Aber ist nicht schonungslose historische Aufklärung eine Bringschuld der Gedenkarbeit? Der Streit geht vorerst weiter. Und nach dem wissenschaftlichen Kongress zur Person Bürckels vor knapp zwei Jahren scheint jetzt ein Forum über das angemessene Erinnern notwendig.
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