Steffen Martus: "Aufklärung"

Kant und Co. als Schöpfer eines unvollendeten Projektes?

Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ("Kritik der reinen Vernunft") in einem Stich von Johann Leonhard Raab nach einem Gemälde von Gottlieb Döbler aus dem Jahr 1781.
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant. © dpa / picture alliance / Bertelsmann Lexikon Verlag
Von Thorsten Jantschek · 30.10.2015
In seinem Buch "Aufklärung - Das deutsche 18. Jahrhundert" skizziert Steffen Martus auf fulminante Weise ein Epochenbild. Immanuel Kant kommt darin als marktschreierischer Werbetexter der Aufklärung vor, die damaligen Verhältnisse erscheinen als ein meisterhaftes Wimmelbild.
Zwei Krönungsszenen rahmen dieses Epochenbild, beide spielen in Königsberg. Im Winter des Jahres 1700 bricht der Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg auf zu jenem abgelegenen Ort, um sich – akribisch diplomatisch vorbereitet – selbst am 18. Januar 1701 die Königskrone aufzusetzen.
Als Friedrich I., König von Preußen, kehrt er zurück nach Berlin. 83 Jahre später beantwortet der Königsberger Philosoph Immanuel Kant in der Zeitschrift "Berlinischen Monatsschrift" die Frage "Was ist Aufklärung?" mit jenen berühmten Sätzen, die heute der Sound der Aufklärung sind. Aufklärung – so postulierte er - sei der Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.
Und er ruft mit dem "sapere aude", dem "habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" jene Formel auf, ohne die heute keine akademische Sonntagsrede auskommt und die zur der entscheidenden Formel geworden ist, wenn es darum geht, die Idee der Aufklärung auf den Punkt zu bringen. Kant setzt sich die Krone des Philosophenkönigs auf.
Unterwegs zu den Universitäten und Höfen, die die Zeit prägten
Beiden Gesten, so die Einsicht von Steffen Martus, eignet ein imperialer Anspruch. Während Friedrich I. durch diesen Akt der Selbstkrönung den Anspruch Preußens als europäische Großmacht zum Ausdruck bringt, habe Immanuel Kant dem Meinungspluralismus, der das Zeitalter der Aufklärung prägte, und der von den Aufklärern des 18. Jahrhunderts stets in der Suche nach harmonischem Ausgleich von Sinnlichkeit und Vernunft oder Religion und Verstand gründete, eine "monarchische Ordnung" des Richterstuhls der reinen Vernunft entgegen gehalten. Kant sei zum marktschreierischen Werbetexter einer großen und wirkmächtigen Aufklärungserzählung geworden.
Dieser Erzählung stellt der Literaturwissenschaftler der Berliner Humboldt Universität sein Epochenbild entgegen, eine gewichtige Erzählung, die mit Kant beginnt und endet, aber nicht auf ihn zulaufe. Und dieses Epochenbild ist ein meisterhaftes Wimmelbild der wirtschaftlichen, politischen, intellektuellen und gesellschaftlichen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts geworden. Denn darum geht es Martus: Den Menschen der Aufklärung zu zeigen als einen, der beständig in die Aushandlung von Autonomiebestrebungen und Abhängigkeitsverhältnissen verstrickt ist, der von bürgerlichen Emanzipationsimpulsen und sozialen Verpflichtungen höfischer Patronagesysteme gleichermaßen geprägt ist, der von Glauben und klassischer theologischer Dogmatik genauso geformt war wie von der aufkommenden Tradition naturrechtlichen Denkens und säkularer Bestrebungen.
Martus sucht die schulbildenden Intellektuellen des 18. Jahrhunderts vor allem an den Orten auf, an denen Bindungen und Bündnisse geschmiedet und verworfen wurden, an den Höfen und Universitäten, jenen Versuchslaboren, in denen neue Gesellschaftsformen gedacht, neue Gemeinschaften gebildet wurden. Christian Thomasius etwa als Gründungsrektor der Universität Halle, oder den großen Rationalisten Christian Wolff oder den Vordenker des Pietismus August Hermann Francke. Er zeigt Glaubens- und Konfessionskonflikte, macht anschaulich, wie empirisches Denken oder die Erkundung der individuellen Psyche neuzeitliche Individualität entstehen lässt.
Habe Mut, dich deiner Unvollkommenheit zu stellen
Und Martus analysiert genau, wie die Gelehrtenkultur der Universitäten sich durch die neu entstehende Zeitschriften- und Buchkultur zu einer gebildeten literarischen Öffentlichkeit veränderte, wie Denken und Dichten ineinandergriffen. Oder wie der Schwung der Religionskritik aus dem Geist der Vernunft sofort konterkariert wurde von einer Flut esoterischen Denkens oder der Gefühlsmanie der Literatur der Empfindsamkeit.
Der Mensch erscheint in dieser Sichtweise der Aufklärung als ein Mängelwesen, das in seinem Bedürfnis nach Geselligkeit die Sorge, das Verständnis und die Nachsicht der Aufklärungsdenker des 18. Jahrhunderts auf sich zog. "Die Aufklärung brachte Prinzipienreiter und Pragmatiker hervor, ‚gründliche' Denker (..) und solche, die intellektuell flanierten."
Die Vielfältigkeit aufklärerischen Denkens ist nun für Martus aber keineswegs historischer oder philologischer Selbstzweck, es geht ihm nicht nur um ein opulentes Epochenbild, sondern er versucht, hier mit jenem sanften, galanten, dem Mängelwesen Mensch zugewandtem Licht der Aufklärung Geisteshaltung einzufangen, die uns auch heute, da die Welt immer unübersichtlicher wird, noch gut zu Gesicht stünde. "Es tut uns nicht gut", so heißt es ganz am Ende dieses fulminanten Buchs, "schnell und hart zu reagieren und Phantasien einer starken Hand nachzuhängen, die für ordentlich einfache Verhältnisse sorgt. Uns überfordert die Aufgabe, große Ideen strikt zu realisieren." Habe Mut, dich deiner eigenen Unvollkommenheit zu stellen und die anderen nicht vor den Kopf zu stoßen. So oder ähnlich könnte der Leitspruch dieser Aufklärung lauten.

Steffen Martus: Aufklärung - Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild
Rowohlt.Berlin, 2015
912 Seiten, 39,95 Euro

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