Staub und Musik im Blut

Von Bettina Rühl · 11.11.2010
Niger gilt Angaben der UN zufolge als ärmstes Land der Welt. Arbeit ist knapp. Arlit, eine Siedlung im Norden des Landes, lebt vom Uranbergbau. Der Ort zieht Menschen aus allen Teilen des Landes an, weil er Arbeit und damit Hoffnung auf ein besseres Leben verspricht. Trotz möglicher Gefahren für ihre Gesundheit.
"Meine Brüder, warum das alles? Die Kinder und die Alten leiden – warum?
Es ist Zeit, dass wir "nein" sagen zu dem, was geschieht. Es ist Zeit, dass wir die Dinge verändern."

Ein Haus in Arlit, einer Bergbaustadt im Norden von Niger, einem Staat im Westen Afrikas. Ein Ventilator eiert vor sich hin, es ist noch Vormittag und trotzdem schon heiß: 80.000 Menschen leben in der Region um Arlit, ein Ort in der Wüste Sahara, der Menschen auf der Suche nach Arbeit aus dem ganzen Land anzieht.

Matratzen liegen auf dem Boden. Es gibt einen Stuhl, sonst kaum Möbel. Nur eine Gitarre, auf der gerade jemand spielt. Arbeit haben die meisten jungen Männer, die sich hier treffen, nicht. Aziz und seine Freunde reden und rauchen – es herrscht eine Stimmung wie in einer europäischen WG der 70er-Jahre. Einer hat noch einen kalten Speiserest vom Vorabend gefunden und isst. Ein anderer gießt allen in der Runde Tee ein, den süßen Pfefferminztee der Nomaden, den er draußen im Innenhof auf einem Holzkohlenfeuer gekocht hat. Gleich danach ist er wegen der Hitze wieder nach drinnen geflohen.

"Ich heißt Mohammed. Ouelen Mohammed Aziz. Ich bin 23. Was ich spiele, ist Tuareg-Musik."

Aziz ist stolz auf seine Herkunft. Er trägt - wie die meisten - die traditionelle Kleidung der Tuareg: ein auf der Brust fein besticktes, hellblaues, bodenlanges Gewand und ein dunkelblaues Kopftuch. Hier drinnen haben sie die Tücher locker um die Schulter liegen.

Doch wenn sie draußen sind und die Sonne von der sandgeschwängerten Luft verschluckt wird, der Wind aus der Wüste durch die Straßen von Arlit fegt und den Abraum aus den Uranminen verwirbelt, verschleiern sie mit den blauen Stoffen ihre Gesichter und lassen nur einen Schlitz um die Augen frei.

Als Nomaden durchstreifen die Tuareg die Wüste Sahara schon seit Jahrhunderten mit ihren Herden. Auch heute besitzen die meisten von ihnen Kamele, Schafe und Ziegen. Doch die Viehzucht allein kann das Überleben der Familien nicht mehr sichern. In den Dürren der vergangenen Jahrzehnte sind zudem viele Tiere verendet und das verbliebene Weideland ist selbst für die verkleinerten Herden knapp. So ziehen heute vor allem die Alten, die Frauen und die Kinder mit dem Vieh durch die Wüste. Die Männer suchen Arbeit in den Städten.

"Nur ein paar von den Leuten, die Sie hier sitzen sehen, haben Arbeit. Sie sind Fahrer in einer Uranmine und wohnen in dem Haus. Ich selbst treibe ein bisschen Handel mit Kleinigkeiten: mit traditionellen Stoffen und Prepaid-Karten für Handys zum Beispiel. Oft habe ich nichts zu tun, dann gehe ich zu Freunden, nehme eine Gitarre und fange an zu spielen. Das ist mein Alltag."

Die Musik füllt die Leere des Alltags der Männer. Sie singen die traditionellen Lieder der Tuareg-Nomaden, melancholische Stücke, von der Liebe, der Einsamkeit in der Wüste und den beiden Tuareg-Rebellionen der vergangenen Jahre. Kauza ist einer der wenigen von ihnen, die eine feste Arbeit haben und sich nicht nur mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Er trägt westliche Kleidung; das weite Gewand der Tuareg wäre wegen der Maschinen am Arbeitsplatz für ihn zu gefährlich.

"Ich arbeite in der Uranmine, seit zwei Jahren schon. Ich mache meinen Job gern, weil mein Vater auch schon Fahrer in der Mine war."

Seit den späten 60er-Jahren wird in der Nähe von Arit Uran gefördert. Bis dahin war der Ort nur ein Haltepunkt der Tuareg, die in der Region lebten. Dann begann der Abbau von Uran, zwei Minen wurden eröffnet: eine unter freiem Himmel, danach eine zweite unter Tage. In der Nähe der beiden Uranminen wuchsen die Städte Arlit und Akokan.

Das Loch in der Erde von Arlit ist selbst auf Satellitenbildern zu sehen. Bis zu 80 Meter haben sich die Menschen in die Tiefe gesprengt, Stufe für Stufe: Erst das Gestein abgetragen, das kein Uran enthält, und dann die uranhaltigen Schichten. Staubwolken steigen auf - nach jeder Sprengung und jedes Mal, wenn ein Bagger seine Schaufel über einem LKW entlädt. Mit viel Wasser versucht das Unternehmen, die Partikel in der Luft so weit wie möglich zu binden.

"Schon als Junge fand ich die riesigen Maschinen und Fahrzeuge großartig. Wirklich, ich arbeite gerne in der Uranmine. Auch wenn die Arbeit hart ist und gefährlich. Der Uranabbau birgt viele Risiken, man kann gar nicht alle vermeiden. Uran kann einen krank machen. Aber wissen Sie, hier in Afrika gibt es kaum Arbeit, die einfach oder ungefährlich ist. Wir alle wollen arbeiten – wir wollen ja leben. Also nehme ich die Gefahren in Kauf, denn ich verdiene etwas und kann meine Familie unterstützen."

Nach Angaben der UN ist Niger das ärmste Land der Erde. Wer hier geboren wird, wird wegen der hohen Kindersterblichkeit statistisch gesehen kaum älter als 40. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Im Norden, in den Lebensgebieten der Nomaden, ist Arbeit besonders knapp. Das Nebeneinander von existenzieller Armut und den Gewinnen der Nuklearindustrie hat die Tuareg schon zwei Mal in einen Aufstand getrieben. Anfang der 90er-Jahre griffen sie zum ersten Mal zu den Waffen. Im Februar 2007 begann der zweite Aufstand. Ouelen Mohammed Aziz war damals 20 Jahre alt.

"Ich war selbst bei den Rebellen, ich habe alles miterlebt. Vor mir hatten sich schon viele Angehörige meiner Familie den Kämpfern angeschlossen. Alle meine Cousins waren im Untergrund - da bin ich auch gegangen. Wir haben dafür gekämpft, dass wir in Politik und Gesellschaft nicht mehr so benachteiligt werden. Denn bis heute gibt es auf wichtigen Posten in Niger kaum Tuareg. Nehmen wir die Präfekten: Weder der von Arlit noch der von Agadez sind Tuareg. Unsere Region wird von Leuten kontrolliert, die nicht aus der Gegend stammen. Es gibt hier zwei Unternehmen, die Uran fördern, deren Minen und Industrieanlagen sich auf traditionellem Weideland unserer Familien befinden. Trotzdem arbeiten nur wenige Tuareg in einer der Bergbaugesellschaften, höchstens fünf Prozent der Belegschaft. Das alles zusammen hat uns so empört, dass wir schließlich zu den Waffen gegriffen haben."

Viele seiner Freunde waren ebenfalls bei den Rebellen: Ging der erste aus einer Familie, war es für die übrigen schwer, sich den Kämpfern nicht anzuschließen, oder die Rebellion nicht wenigstens mit Geld oder logistisch zu unterstützen. Zumal das Militär ohnehin davon ausging, dass Verwandte eines Rebellen ebenfalls zu den Kämpfern zählen und dementsprechend hart mit den Zurückgebliebenen verfuhr. So kam es, dass selbst diejenigen in den Untergrund flohen, die eigentlich nicht kämpfen wollten - schlicht, weil sie sich vor den Sanktionen der Armee fürchteten. Kauza blieb dennoch in Arlit.

"Erst wollte ich mitmachen, aber genau in dem Moment fand ich Arbeit. Deshalb bin ich geblieben. Im Nachhinein sage ich mir, dass es besser so war. Diejenigen, die mitgekämpft haben, stehen heute mit leeren Händen da. Außerdem glaube ich, dass zu viel Blut vergossen wurde. Der Preis war zu hoch für das, was wir erreichen wollten. Selbst wenn wir es erreicht hätten, wären zu viele Menschen dafür gestorben."

"Ich habe fast keine Bildung, das bedaure ich oft. Auch jetzt, in diesem Moment: Wenn ich Französisch könnte, wäre ich nicht auf einen Dolmetscher angewiesen, um mit Ihnen zu reden. Ich habe im Leben schon so viel Zeit verloren, dass ich gar nicht mehr alles aufholen kann. Hätte ich mehr gelernt, wäre mir vieles erspart geblieben. Auch die Erfahrung des Krieges: Hätte ich eine gute Ausbildung gehabt, hätte ich bei der Rebellion bestimmt nicht mitgemacht. Jetzt würde ich gerne wenigstens Französisch lernen. Aber das ist nicht möglich: Meine Familie ist darauf angewiesen, dass ich Geld verdiene. Wenn ich zur Schule ginge, müsste ich - statt zu verdienen – dafür sogar noch bezahlen. Wir haben während der Rebellion hart für unsere Ziele gekämpft. Wir haben trotzdem keins davon erreicht. Wir haben noch immer keine Arbeit und kaum Chancen. Wir haben dafür gekämpft, dass sich die Lage der Tuareg verbessert. Aber heute stehen wir genauso da, wie vor der Rebellion. Das könnte eines Tages Folgen haben."

Der Uranabbau befeuerte damals die Rebellion und führt auch heute wieder verstärkt zu Unfrieden. Die Tuareg fordern einen höheren Anteil an den Gewinnen aus der Förderung des Rohstoffs. Ein Teil der Einnahmen soll verwendet werden, um den dünn besiedelten Norden des Landes zu entwickeln, um Schulen, Straßen und Krankenhäuser zu bauen. Dazu kommt die wachsende Sorge über die gesundheitlichen Folgen des Uranabbaus.
Nach Schätzungen von Kritikern türmen sich rund um die Städte Arlit und Akokan bereits 35 Millionen Tonnen Abraum. Jedes Jahr kommen ein paar hunderttausend Tonnen dazu. Das Erdreich aus den Minen sei unbedenklich, sagen Vertreter der Bergbaugesellschaften: zwei Tochterfirmen des französischen Nuklearkonzerns AREVA, an denen der Staat Niger beteiligt ist.

Almoustapha Alhacen ist wegen der Uranförderung geradezu alarmiert. Geboren wurde er als Sohn von Nomaden. Im Alter von 15 kam er nach Arlit und wurde sesshaft. Heute lebt er in einem schlichten Haus mit großem Hof. Mauern aus Lehm begrenzen das Grundstück. Die Sonne hat das Wasser aus dem Baustoff gebrannt, der trockene Lehm ist von Rissen durchzogen. In der Ecke des Hofes hat die Ziege ihren Pferch, einen Zaun aus rohen Ästen. Alhacen wohnt hier mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern, außerdem mit Nichten und Neffen, die in Arlit zur Schule gehen, obwohl deren Eltern als Nomaden in der Wüste leben. Almoustapha Alhacen arbeitet für einen der Minenbetreiber.

"Ab dem Jahr 2000 fing ich an, mir immer größere Sorgen zu machen, weil viele meiner Kollegen krank wurden und starben. Sie litten an Krankheiten, die wir bis dahin nicht kannten. Wir hörten uns um, doch niemand hier hatte je von solchen Krankheiten gehört."

Er selbst bekam den Verdacht, dass das große Sterben mit dem Uranabbau in Zusammenhang stand. Er gründete die Organisation "Aghir In Man", "Schutz der Seele". In Internet suchte er nach Informationen und Hinweisen auf Fachleuten und fand Unterstützung: Mehrere Delegationen von Physikern und anderen Experten kamen aus Europa in den Norden von Niger, um die Strahlenbelastung zu messen. Die gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung seien tatsächlich erheblich, sagt Angelika Claußen. Die Ärztin ist Vorsitzende der Organisation IPPNW, der "Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges”. Sie war zwar nicht selbst in Arlit, kennt aber alle Studien. Und zählt eine Reihe von Krankheiten auf, die durch radioaktive Belastung infolge des Uranabbaus auslöst würden:

"Das sind überwiegend bei erwachsenen Menschen Krebserkrankungen, Lungenkrebserkrankungen, es können auch andere Krebsarten entstehen, dann gibt es eine toxische Wirkung durch den Uranstaub auch selbst. Wenn es hoch dosiert ist, kann es schwere Nierenschäden erzeugen, es kann die Niere auch vollständig kaputtmachen, und wenn es an den Embryo gelangt, also wenn der Staub von Müttern, die in der Gegend wohnen, aufgenommen wird, und die sind gerade schwanger, dann wird der Embryo geschädigt und das führt zu erhöhter Säuglingssterblichkeit, zu Missbildungen, Fehlgeburten und möglicherweise auch zum Downsyndrom."

Der französische Nuklearkonzern AREVA und seine Tochterfirmen in Niger erklären jedoch, alle Grenzwerte würden nicht nur eingehalten, sondern regelmäßig unterschritten. Das gelte für die Belastung der Luft durch das radioaktive Gas Radon, für die Belastung des Trinkwassers, des Erdreichs und für die Strahlendosis, der die Arbeiter ausgesetzt seien. Olivier Muller leitet "AREVA Niger.”

"Die Krankheiten der Menschen in den Uranabbaugebieten sind nicht auffällig. Sie unterscheiden sich nach unseren bisherigen, eher stichprobenartigen Untersuchungen nicht wesentlich von dem, woran die Menschen in anderen Regionen von Niger erkranken. Das sind vor allem Erkältungskrankheiten, Erkrankungen der Atemwege, Diarrhöe und Ähnliches. Noch einmal: nichts Besonderes."

Kritiker wie Angelika Claußen glauben die Beteuerungen des französischen Nuklearkonzerns nicht. Die Statistik der Krankheiten in Niger sei nur deshalb unauffällig, weil nie eine solide Statistik erhoben wurde, vermutet die Ärztin.

"Man müsste die Kinder untersuchen, man müsste nach Leukämien schauen, man müsste bei den Frauen nach Fehlbildungen schauen, man müsste nach Downsyndrom schauen, weil wir diese Folgen sehr schnell sichtbar werden. In anderen Uranabbaugebieten der Welt, zum Beispiel in Indien, sind ja solche Folgen beobachtet worden. Unsere indische Partnerorganisation, also die IPP. In Indien, hat das Gebiet und die Bevölkerung von Jadugora untersucht, und hat dort eben erhöhte Kinder Leukämien, erhöhtes Downsyndrom, um erhöhte Krebserkrankungen bei der Bevölkerung festgestellt. Und das ist ein Abbaugebiet, wo das Wasser auch sehr stark belastet ist."

Doch viele junge Männer, die Arbeit im Uranbergbau gefunden haben, glauben verzweifelt daran, dass die Aussage der Firmen in Bezug auf die Sicherheit stimmt. Auch Mohammed Elias:

"Wissen Sie, bei uns sucht man sich die Arbeit nicht aus. Niemand hier hat sich das, was er macht, wirklich ausgesucht – wir haben keine Wahl, dafür gibt es viel zu wenig Möglichkeiten. Jede Arbeit ist ein großes Glück für den, der sie bekommt, egal was es ist. Denn Hunderte sind ohne Beschäftigung - die haben sich das auch nicht ausgesucht. Das gilt nicht nur für uns Tuareg, sondern für alle Menschen in Niger."