"Stan Lee hat da wirklich ein Näschen für gehabt"

Andreas Platthaus im Gespräch mit Susanne Führer · 28.12.2012
Seine Protagonisten hatten psychologische Probleme mit ihrem Superheldendasein. Das sei das Neuartige an Stan Lees Comicfiguren gewesen, sagt der "FAZ"-Redakteur Andreas Platthaus: Spider-Man, Hulk oder The Fantastic Four wären eigentlich alle lieber normal geblieben.
Susanne Führer: Der Amerikaner Stan Lee hat nicht nur einige der berühmtesten Superhelden des Comics erfunden, darunter Spider-Man und Hulk, er hat auch wesentlich dazu beigetragen, aus dem einmal kleinen Verlag Marvel Comics einen Konzern mit über 100 Millionen Dollar Jahresumsatz zu machen. Heute wird Stan Lee 90 Jahre alt.

Und ich bin nun verbunden mit dem "FAZ"-Redakteur und, ja, Comicologen und sowieso Comicophilen Andreas Platthaus. Ich grüße Sie, Herr Platthaus!

Andreas Platthaus: Guten Tag, Frau Führer!

Führer: Ja, einige der Geschöpfe Stan Lees wurden uns ja gerade vorgestellt. Welches ist denn Ihr liebstes, falls Sie eins haben?

Platthaus: Doch, durchaus, und das wurde nicht vorgestellt. Ich bin ein großer Anhänger des mächtigen Thor, eines nordischen Gottes, ich gebe zu, ich bin gar nicht so begeistert von diesem Helden als solchem, aber ich mag die Ursprungsgeschichte von ihm so wahnsinnig gerne, weil da ein gehbehinderter, schon etwas ältlich wirkender Mensch durch ein abgelegenes Terrain geht und dort einen Hammer findet und dadurch sofort zur nordischen Gottheit mutiert. Das hat mich dermaßen beeindruckt, als ich das das erste Mal las, dass ich dieser Figur doch große Sympathie entgegenbringe.

Führer: Hat Sie das schon als Kind beeindruckt oder haben Sie erst als Erwachsener dazu gefunden?

Platthaus: Als Kind war ich kein richtiger Superhelden-Fan, das hat sich erst als Erwachsener dazu ergänzt, als ich mich für Comicgeschichte mehr interessiert habe als für Comicgeschichten, und dann muss man irgendwann sich auch sehr intensiv mit Superhelden beschäftigen. Ich hatte davor mehr oder minder die Konkurrenzprodukte aus dem Hause DC, Stan Lee arbeitet ja vor allem für Marvel, im Blick gehabt, sprich Batman, mit Abstrichen Superman, und die Marvel-Helden, gerade die der 60er-Jahre, die habe ich tatsächlich mehr aus historischen Gründen für mich entdeckt. Aber ich gebe zu, ich gewinne immer mehr Gefallen daran.

Führer: Also Stan Lee, um das jetzt noch einmal ganz deutlich zu sagen, hat diese Figuren ja nicht gezeichnet, er hat sie erfunden und die Geschichten geschrieben. Was, meinen Sie, ist denn das Besondere an Lees Superhelden also wie jetzt eben Hulk oder Spider-Man?

Platthaus: Das ist eben schon angeklungen, dass es sich um relativ normale Menschen handelt, die auch keine große Geheimidentität mehr haben. Eigentlich wissen alle Menschen in der Welt von Marvel, die auch nicht in imaginären Städten oder Gegenden angesiedelt ist, wie das beispielsweise bei Batman noch mit Gotham City ist oder bei Superman mit Metropolis – da spielt alles bei Stan Lee in New York oder in anderen Städten, und alle wissen, um wen es sich handelt bei diesen Superhelden. Und das bringt natürlich eine ganz andere Gefährdung dieser Figuren mit sich, weil die Superschurken sich entsprechend vor deren Haustüren aufstellen können, um auf sie zu warten, die Verwandten erpressen können und ähnliche Dinge, und damit sind alle diese Helden in gewisser Weise belastet mit ihrer eigenen Identität.

Und dieses psychologische Problem, das ist das wirklich Neuartige, was Stan Lee in den Superhelden-Comic hineingebracht hat, wobei man auch sofort einschränkend sagen muss: Das hat er vor allem zusammen mit Jack Kirby getan, dessen Anteil an den Geschichten viel größer ist, als man es gemeinhin in der Trennung zwischen Autor und Zeichner gerne hätte. Die haben beide sehr eng miteinander kooperiert und Kirby war auch für ganz viele Charakteristika dieser Helden verantwortlich. Also wir hatten da ein wirklich kongeniales dynamisches Duo, was am Werke war.

Führer: Zu dem Verhältnis zu den Zeichnern kommen wir gleich noch, Herr Platthaus, noch mal zurück zu diesen Superhelden: Die waren ja also oder sind nach wie vor eben nicht so rundum super wie zum Beispiel Superman, das ist ja der Antipode dazu, sondern haben durchaus auch, ja, sehr menschliche Probleme, also mit der Familie oder mit dem Geld, können mal die Miete nicht bezahlen, ...

Platthaus: ... und vor allem auch mit ihren Superkräften selbst. Die sind im Endeffekt fast alle nicht sehr glücklich mit ihren tollen Fähigkeiten, weil sie ihr normales Leben schwierig machen. Das ist bei den Fantastischen Vier geradezu archetypisch angelegt. Die kommen durch Zufall, als sie eine Raumfahrt machen, in eine ganz seltsame kosmische Strahlung und mutieren, und haben alle in Zukunft vor allem große Probleme mit ihren besonderen Fähigkeiten, namentlich "the thing", das Ding, jemand, der eben sehr schnell zu einem riesigen steinernen Kampfblock sich entwickeln kann, aber damit natürlich überhaupt keine Chance hat, im normalen zwischenmenschlichen Verkehr in irgendeiner Weise Sympathien zu erwecken, denn sobald er sich in irgendeiner Weise erregt, wird er zu dieser schrecklichen Gestalt. Und der Mann ist todunglücklich mit seiner Superhelden-Rolle. Und für die anderen drei gilt das in etwas abgeschwächter Form ganz genauso, die wären eigentlich alle lieber normal geblieben.

Führer: Wenn wir mal auf Spider-Man gucken, wahrscheinlich der berühmteste Superheld Stan Lees – über den meinte Lee selbst, das sei der erste Superheld gewesen, mit dem sich auch Jugendliche identifizieren konnten, weil vorher die Helden immer alle Erwachsene gewesen seien.

Platthaus: Das ist Nonsens, denn die Superhelden waren von Anfang an auf ein jugendliches Publikum hin geschrieben, das hätte man Erwachsenen gar nicht gewagt, irgendwie auf den Tisch zu bringen, solche relativ schlicht gestrickten Geschichten. Schon Superman als allererster Superheld richtete sich ganz dezidiert an Teenager und war vor allem auch von Teenagern gezeichnet. Und die haben sich letztlich dann einen Erwachsenen ausgesucht, weil das für die natürlich viel glaubhafter war. Stan Lee hat recht, wenn er sagt, es ist der erste Superheld, der selber Teenager war. Aber das Publikum für Superhelden hat immer aus Teenagern sich zusammengesetzt und das hat sich bis heute auch nicht gravierend verändert.

Führer: Ich spreche mit Andreas Platthaus im Deutschlandradio Kultur über den legendären Comicautor Stan Lee. Herr Platthaus, Sie haben vorhin den Zeichner Jack Kirby erwähnt und haben gesagt, dass er einen sehr großen Anteil an diesen Comicgeschichten, an den Superhelden hat, die Stan Lee geschaffen hat. Wie genau kann man denn da überhaupt trennen bei dieser Arbeit zwischen dem Autor und dem Zeichner?

Platthaus: Man kann es unglücklicherweise – vor allem für Jack Kirby – überhaupt nicht genau trennen, denn ansonsten, die beiden haben sich irgendwann schrecklich zerstritten, hätte man die Sache irgendwie auseinanderdividieren können und die Erträge dieser Kollaboration aufteilen können. Genau das hat Kirby immer wieder Stan Lee vorgeworfen, dass das nicht erfolgt ist. Stan Lee steht als Autor bei all diesen Geschichten dabei und Kirby bei den wichtigsten als Zeichner, und damit war in gewisser Weise klar: Die Ideen kommen alle von Stan Lee.

Es ist aber nie bestritten worden, auch von Stan Lee nicht, dass Kirby einen sehr wesentlichen Anteil an der Konzeption der Figuren gehabt hat, an der Ausgestaltung zumindest der allerersten Geschichten, wenn eine neue Serie startete. Aber man kann es eben nicht namhaft machen, weil die sich tatsächlich die Bälle zugespielt haben und Stan Lee die seltsame Eigenschaft hatte – was ihn heraushebt aus den meisten anderen Comicszeneristen, also Comicautoren –, dass er in gewisser Weise eine Geschichte vorgab, dann dem Zeichner, in diesem Fall Jack Kirby, überließ, was er daraus in gewisser Weise in Bilder umsetzt, und dann hat er erst die Texte zu dieser Geschichte endgültig formuliert und in die freigelassenen Sprechblasen beispielsweise die Dialoge hineingeschrieben.

Das ist ein ganz ungewöhnliches Verfahren, weil normalerweise Comicautoren ganz klar definierte Texte an die Zeichner abgeben und sagen, bitte mache mir dazu die Bilder. Und das hat Stan Lee nicht gemacht, weil er mit so vielen Serien gleichzeitig beschäftigt war. Der hat sich auf die Kollaboration mit seinen sehr talentierten Zeichnern verlassen, wusste, dass das auch talentierte Geschichtenerzähler waren, aber er stand eben als der Autor über allem. Und das hat oft böses Blut gegeben.

Führer: Na ja, vor allen Dingen, Sie sagen, er hat die Geschichte geschrieben – er hat ja, bevor er sie zum Beispiel an Menschen wie Jack Kirby oder auch Steve Ditko oder so gegeben hat, häufig ja nur so einen Extrakt, also den Plot gegeben und auch die Einzelheiten haben die Zeichner dann ja selbst entwickelt.

Platthaus: Exakt. Er gab etwas vor, eine Situation, nehmen wir eine Spider-Man-Geschichte fast schon beliebiger archetypischer Gestalt, Spider-Man trifft auf irgendeine Notsituation und er wird dann noch festlegen, da ist vielleicht ein Kind gerade, was entführt worden ist, und dann kam als Anweisung so etwas wie: "Mache eine ordentliche Verfolgungsjagd zwischen Superschurke und Superheld." Und das heißt, darüber hinaus hatte man für drei oder vier Seiten keine weiteren Angaben. Das ist keine besonders große literarische Leistung. Die literarische Leistung entsteht in gewisser Weise erst dadurch, was der Zeichner sich dann an Volten für diese Verfolgungsjagd ausdenkt. Und dementsprechend muss man zumindest sagen, würde man von Mitautorenschaft bei den Zeichnern reden, wenn nicht vielleicht sogar von dem etwas wichtigeren Teil.

Führer: Aber immerhin, er hat diese Figuren erfunden, die Grundideen gehabt, Fantastic Four, die Fantastischen Vier, Hulk, Spider-Man – die sind ja alle Anfang der 60er-Jahre entstanden und leben ja heute noch ein sehr munteres Leben mit vielen Filmen und Fans, das ist schon eine erstaunliche Leistung, finde ich.

Platthaus: Unbedingt sogar, zumal sie eher noch populärer geworden sind, seit sie ins Kino gekommen sind. Und Stan Lee hat da wirklich ein Näschen für gehabt, wann mit bestimmten Figuren was zu tun ist. Also Marvel war viel geschickter als DC in der Ausnutzung des Kinobooms, gerade in den letzten zehn Jahren. Und nicht ganz umsonst hat Stan Lee in jedem dieser Filme auch einen winzigen Auftritt in irgendeiner Gastrolle, weil er ganz genau weiß, dass er da an seiner Legende arbeitet.

Führer: Heute wird er also 90 Jahre alt und er arbeitet immer noch, habe ich gelesen. Was wünschen Sie ihm zum Geburtstag, Herr Platthaus?

Platthaus: Trotz allem noch sehr, sehr viele gute Ideen, die er dann meinetwegen wieder weiter an irgendwelche Zeichner geben kann, die ihm da Geschichten vordenken, die er dann letztlich mit der letzten Politur versieht, sodass wir da noch einiges haben. Ich gebe zu, die letzte brauchbare Stan-Lee-Geschichte in meiner Wahrnehmung habe ich Ende der 80er-Jahre gelesen, aber das ist ja gar keine schlechte Leistung, da war der Mann ja auch schon an die 70 und hat immer noch gut gearbeitet. Und dass er überhaupt heute noch diese Energie hat und sich diesen Spaß macht, beispielsweise in Filmen mitzuspielen, das ist etwas, was ich eigentlich jedem älteren Menschen gerne wünschen würde. Und so gesehen ist das ein tolles Vorbild.

Führer: Sagt Andreas Platthaus über den Comicautor Stan Lee, den Erfinder von Spider-Man und Hulk, der heute 90 Jahre alt wird. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Platthaus!

Platthaus: War mir ein Vergnügen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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