"Stalin war ein psychopathischer Gewalttäter"

Jörg Baberowski im Gespräch mit Frank Meyer · 29.02.2012
Der Berliner Historiker Jörg Baberowski ist der Meinung, dass die Millionen Opfer stalinistischer Gewaltherrschaft letztlich dem Diktator persönlich anzulasten sind. Zwar sei das Morden ideologisch gerechtfertigt worden - ohne den krankhaften Charakter Stalins wäre es aber nicht dazu gekommen.
Frank Meyer: Das stalinistische System in der Sowjetunion hat Millionen Opfer gefordert: Erschossene, Verhungerte, im Gulag Gestorbene, bei sinnlosen Einsätzen an der Front Gefallene. War die kommunistische Ideologie schuld an diesen Millionen Toten, oder waren sie die Opfer einer Modernisierungsdiktatur, oder, dritte Möglichkeit, trägt der Diktator Stalin selbst die Hauptverantwortung für diese Millionen Toten? In diese historische Debatte schaltet sich Jörg Baberowski ein mit seinem neuen Buch "Verbrannte Erde – Stalins Herrschaft der Gewalt". Jörg Baberowski ist Professor für Osteuropa-Wissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin und jetzt hier bei uns im Studio. Seien Sie herzlich willkommen!

Jörg Baberowski: Guten Tag!

Meyer: Sie schildern in dem Vorwort zu Ihrem Buch, dass Sie dieses neue Buch geschrieben haben, weil Ihnen ein anderes von Ihnen, ein nur sieben Jahre altes Buch, zum gleichen Thema falsch vorkam, zum Teil als Unfug vorkam. Solche Bekenntnisse liest man selten von Wissenschaftlern. Was kam Ihnen denn falsch vor heute im Blick auf den Stalinismus?

Baberowski: Na ja, vor einigen Jahren war ich noch der Überzeugung, dass die großen Terrorexzesse des 20. Jahrhunderts aus den Ideen der Ordnung gekommen waren, und ich war beeinflusst und begeistert von den Ideen von Zygmunt Bauman, der behauptet hatte, dass die Mordexzesse der Nazis und der Stalinisten aus dem Bedürfnis kamen, die Welt zu homogenisieren, zu ordnen und die Wildnis in blühende und geordnete Landschaften zu verwandeln. Das alles schien mir später irgendwie als Unsinn, als ich zu der Überzeugung gekommen bin, dass Ideen eigentlich nicht töten können, dass Ideen überhaupt nicht erklären, warum Menschen die Schwelle überschreiten. Und das war es, was mich irgendwann interessierte, als ich mich durch Tausende Seiten von Akten durchgefressen habe und zu der Erkenntnis kam, dass diese Ideen keine Rolle dabei spielten, Menschen zu töten.

Meyer: Also die Ideen – da meinen Sie jetzt im Blick auf die Sowjetunion die kommunistische Ideologie –, da meinen Sie, die hätte keine Rolle gespielt beim stalinistischen Terror?

Baberowski: Nun, Ideologien spielen immer eine Rolle, wenn Gewalt ausgeübt werden muss, oder wenn Gewalt ausgeübt wird, aber sie sind dann wichtig, wenn die Gewalt gesprochen hat, zur Legitimierung, zur Rechtfertigung. Aber zur Motivation ist das nicht ausreichend als Erklärung, weil, wie gesagt, erklärt werden muss, warum denn Menschen, die bestimmte Ideen im Kopf haben, die Schwelle überschreiten und andere Menschen töten. Das ist die wichtige Frage, die beantwortet werden muss, wenn wir verstehen wollen, warum Menschen anderen Menschen Gewalt antun, und das ist gewissermaßen das Zentrum des neuen Buches. Und da kommt man einfach nicht weiter, wenn man sich nur mit den Ideen beschäftigt, die Menschen im Kopf haben.

Meyer: Also mussten Sie über Stalin selbst nachdenken, über die Person des Diktators. Was hat ihn denn dazu gebracht, ein so gewalttätiger Herrscher zu sein?

Baberowski: Na, zunächst muss man vielleicht mal sagen, dass Ideen von modernen Gesellschaften und Ordnung auch andere im Kopf hatten, ohne dass es ihnen in den Sinn gekommen wäre, Millionen zu töten. Und deshalb, glaube ich, muss man sich einfach den kulturellen Ermöglichungskontexten und den Gewalträumen zuwenden, in denen so eine Gewalt überhaupt sich entfalten konnte. Und Stalin, um es vielleicht kurz zu sagen, Stalin war ein psychopathischer Gewalttäter, ein passionierter Gewalttäter, der in einem Kontext die Möglichkeit erhielt, Gewalt auszuüben, die andere Personen unter anderen Umständen nicht hätten wahrnehmen können.

Meyer: Heißt das, er war auch ein Gewalttäter, bevor er zum Führer dieses Staates wurde?

Baberowski: Nun, Stalin war auch vorher schon ein Gewalttäter, und er wäre wahrscheinlich, wenn es die Revolution nicht gegeben hätte, irgendwo ein Straßenräuber geblieben oder wäre am Ende wie die meisten Psychopathen unter normalen Umständen im Gefängnis gelandet. Die Revolution, der Bürgerkrieg, die Gewaltexzesse dieser Zeit, gaben Menschen wie ihm die Möglichkeit, ihren Fantasien freien Lauf zu lassen. Und das ist, glaube ich, die Lösung dieses Gewalträtsels.

Meyer: Heißt das nun, wenn ein anderer als Stalin an die Macht gekommen wäre in diesem Land, dann wäre aus der Sowjetunion kein stalinistisches, also kein terroristisches, nach innen terroristisches Land geworden?

Baberowski: Nun, diese Fragen sind natürlich kontrafaktisch, das kann man immer nie genau beantworten, aber ein, glaube ich, ein guter Hinweis darauf ist, dass die Gefolgsleute Stalins, die das große Morden mit ins Werk gesetzt hatten, dass die damit aufhören konnten, als der Diktator starb 1953. Und sie konnten es binnen weniger Wochen, konnten sie das große Morden und Foltern einstellen, das scheint mir schon ein wichtiger Hinweis darauf zu sein, dass man das nur im Hinweis auf diese Person erklären kann, weil ja die Ordnung sich überhaupt nicht änderte.

Meyer: Aber wenn wir ans andere Ende der Geschichte schauen, an die Vorgeschichte von Stalins Herrschaft: Der Terror hat doch schon früher begonnen, schon mit den Bürgerkrieg nach 1917, schon mit Lenin und Trotzki.

Baberowski: Ja, der Terror hatte schon sehr früh begonnen, aber dieser Terror der Revolutionszeit und der Bürgerkriegszeit war ein Terror, der sich in einem institutionellen Vakuum, in einem offenen Gewaltraum ereignete, den kaum jemand unter Kontrolle hatte, und in dem die Weißen, also die Gegenrevolution, genau so viel Gewalt wie die Roten ausübten, und der zweite Punkt, der hinzukommt: Es war bis zum Ende der 20er-Jahre stets ein Tabu in der kommunistischen Partei, Kommunisten umzubringen, also die Gewalt auch im Inneren der Macht sprechen zu lassen. Also man könnte sagen, die frühe Gewalt war eine anarchische Gewalt, die keine Grenzen kannte, während die Stalinsche Gewalt eine geplante und durch den Diktator durchgesetzte Gewalt war.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit den Historiker Jörg Baberowski über sein Buch "Verbrannte Erde – Stalins Herrschaft der Gewalt". Ich musste aber auch, als Sie auch auf die Singularität von Stalin und seiner Herrschaft darauf zu sprechen kommen in Ihrem Buch, auch an andere Länder denken, zum Beispiel an China natürlich und Maos Herrschaft, oder an Kambodscha und Pol Pot. Also, immer wieder hat man beobachten können, dass in Ländern, in denen dieser Begründungszusammenhang einer kommunistischen Ideologie auftritt, dass es dort zu diesem Gewalttaten kommt. Heißt das aber nicht auch, dass es diese enge Verbindung gibt zwischen Gewalt, Terror und kommunistischer Ideologie?

Baberowski: Nein, die würde ich abstreiten, weil man ja sehen kann, dass diese Form von Massenterror ja weder in der DDR noch in Ungarn noch in der Tschechoslowakei exekutiert wurde, obwohl das auch kommunistische Regime waren. Man muss im Gegenteil, glaube ich, sagen, dass die Konfrontation dieser Ideen mit rückständigen Kontexten und die Unmöglichkeit, diese Kontexte zu kontrollieren und zu beherrschen, dafür verantwortlich waren, dass diese Gewalt alle Grenzen überschreiten konnte.

Anders gesagt, es waren die vormodernen Kontexte und nicht die modernen Ordnungen, die diese Gewalt ermöglichten und die es Gewalttätern vom Typ Pol Pots, Maos und Stalin ermöglichten, grenzenlose Gewalt überhaupt erst auszuüben, weil es keine bürgerlichen Sicherungen gab, keine Rechtsstaatsordnung, keine Zivilgesellschaft – all das, was Menschen gewöhnlich davon abhält, Gewalt gegen andere auszuüben.

Anders gesagt: Ich glaube, in den Ostblockstaaten nach 45 mussten sehr viel dickere Bretter gebohrt werden, um Gewalt auszuüben. Es mussten sehr viel mehr Barrieren weggeräumt werden, als das in China, in Kambodscha oder in der Sowjetunion Stalins der Fall war.

Meyer: Wobei es ja in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch zum Beispiel in der DDR, in der Tschechoslowakei zumindest Züge eines stalinistischen Systems gab.

Baberowski: Selbstverständlich gab es dort auch Züge eines stalinistischen Systems, aber es war eben ein System, das exportiert wurde aus der Sowjetunion in diese Länder, aber es hat in der DDR kein Jahr 1937 gegeben, kein Töten nach Quoten, es wurden keine Menschen nach Quoten aussortiert und deportiert und weggeschafft. Natürlich hat es Deportationen, Verhaftungen und Erschießungen auch in der DDR gegeben, aber das kann man mit dem großen Terror der 30er-Jahre überhaupt nicht vergleichen.

Meyer: Wenn Sie jetzt aber sagen, dieser eine Mann an der Spitze, Stalin, sein psychopathischer Charakter ist letztendlich verantwortlich für diese Millionen Toten im Sowjetreich – ist das nicht auch eine riesige Entlastung für den ganzen Apparat um ihn herum?

Baberowski: Ja, natürlich haben nach dem Tode Stalins Nikita Chruschtschow und andere darauf verwiesen, dass der Diktator verantwortlich gewesen sei für die Massenmorde.

Meyer: So wie – Entschuldigung – es ja auch in Nachkriegs-Deutschland lange hieß, im Westen: Wir waren es nicht, Hitler war es!

Baberowski: Ja, natürlich. Auf der einen Seite ist das natürlich schon so, dass es Hunderttausende von Mittätern auch in der Sowjetunion gegeben hat. Nur der Unterschied ist, glaube ich, zum NS-Regime, dass die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern schwieriger zu ziehen ist, weil die meisten Täter am Ende auch Opfer wurden, auch in den Lagern landeten, …

Meyer: In der Sowjetunion..

Baberowski: … und dass die Täter in der Umgebung Stalins, dass sie sich selbst als Opfer fühlten, dass ihre Familien in Geiselhaft genommen wurden, dass Stalin die Ehefrau Molotows und Kalinins in ein Lager bringen ließ, dass er sie zwang, sich ihm zu unterwerfen, Freunde zu opfern, und dass Nikita Chruschtschow nicht unrecht hatte, wenn er sagte, ja, wir haben gemordet, wir haben Verbrechen begangen, wir waren daran beteiligt, aber wir haben es getan, weil man den Stalinschen Hof nur im Sarg verlassen konnte.

Meyer: Wenn man Ihr Buch anschaut, das ist ja auch ein anderes historiografisches Prinzip, was Sie jetzt ansetzen. Sie haben vorhin davon gesprochen, dass Sie am Anfang über die Räume der Gesellschaft gesprochen haben, über Strukturen, darüber geschrieben haben, jetzt über einen einzelnen Menschen und seinen Einfluss auf die Geschichte. Ist das nicht auch eine – früher hätte man gesagt, eine konservative Volte, jetzt wieder auf den großen einzelnen Mann zu setzen, der Geschichte macht statt der Massen, statt der Strukturen?

Baberowski: Nun ist das ja keine Biografie Stalins, sondern es ist ein Buch über die Person in ihrem Ermöglichungsraum. Das, was ich ja mache, ist keine konservative Rückkehr zur Geschichte großer Männer, sondern ich versuche, zu beschreiben, wie Menschen sich in Situationen verhalten. Und die Situation, die ich beschreibe, ist eine Situation, die außer Kontrolle geraten ist. Und wenn Situationen außer Kontrolle geraten, dann haben Psychopaten vom Schlage Stalins die Möglichkeit, ihren Willen anderen Menschen aufzuzwingen, was sie unter anderen Umständen möglicherweise nicht gehabt hätten. Und deshalb kommt es mir hier auf diese Kombination an, die Situation zu schildern und zu zeigen, wie ein Mensch diese Situation für seine Zwecke nutzen kann.

Meyer: Stalin war der Urheber und Regisseur des Terrors in der Sowjetunion, das ist die These des Historikers Jörg Baberowski in seinem Buch "Verbrannte Erde – Stalins Herrschaft der Gewalt", erschienen im C. H. Beck Verlag mit 600 Seiten zum Preis von 29,95 Euro. Herr Baberowski, vielen Dank für das Gespräch!

Baberowski: Vielen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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