Stadtgeschichte

"Olle Berolina"

Berliner Pfannkuchen sind ein traditionelles Gebäck zu Silvester und zur Zeit von Karneval, Fastnacht oder Fasching.
Berliner Pfannkuchen sind ein traditionelles Gebäck zu Silvester und zur Zeit von Karneval, Fastnacht oder Fasching. © dpa picture alliance/ Patrick Pleul
Von Pieke Biermann · 21.06.2014
Henry Urbans Streifzüge durch das Berlin Anfang des 20. Jahrhunderts sind eine Offenbarung. Der New Yorker Schriftsteller sinniert über breite luftige Straßen und Pfannkuchen. Seine Texte zeigen verblüffende Ähnlichkeiten mit dem heutigen Berlin.
Berolina, die jugendlichste der magnetischen Metropolen, ist eine notorische Narzisstin. Am liebsten spiegelt sie sich in Blicken von Außenstehenden. Und nichts schmeichelt ihr mehr, als wenn Leute von Jottweedee einen schönen Schwan sehen – gern auch mit ein paar gerupften Federn, da ist sie großmütig.
Hauptsache, nicht das hässliche Entlein, das sie selbst meistens im Schminkspiegel findet. Zugegeben, die hässlichen Spuren hat sie sich selbst beigebracht. Für die bösesten Schmisse hat sie nur zwölf Jahre gebraucht, manche werden nie ganz verheilen, aber guck mal, wer alles zu ihr ziehen will, sie schreibend, filmend, malend feiert! Wie attraktiv sie ist – mehr als New York, selbst für Israelis und Amerikaner.
Balgen um die Krone der Modernität
London mag das Zentrum der alten Weltherrschaft und Paris die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts sein – Berlin und New York, die zwei historischen Grünschnäbel, balgen sich um die Krone der Modernität. Das geht seit über hundert Jahren so, wie man jetzt in Henry F. Urbans Buch "Die Entdeckung Berlins" von 1911 nachlesen kann. Der unermüdliche Berlin-Archäologe Michael Bienert hat diese klassischen Großstadtfeuilletons wieder ausgegraben und in abenteuerlicher Kleinarbeit die Spuren des Autors recherchiert.
Henry Urban, 1862 in Berlin geboren, in jungen Jahren ausgewandert, kommt als New Yorker Schriftsteller 1910 in die Stadt zurück. Gerade ist in Amerika sein bissiger Roman erschienen, in dem drei Berliner "Dollarjäger" New York entdecken. Jetzt also das Kontrastprogramm: ein New Yorker entdeckt Berlin, für eine Zeitungsserie. Ein Flaneur, der sich für Tricks beim Pfannkuchenbestellen, beneidenswerte Müllentsorgung, Balkonblumengießen und breite luftige Straßen ebenso lebhaft vergleichend interessiert wie für bräsige Bürokratie, kaiserlich-preußischen Folklore-Pomp, Stadtfluchten mittels Ostsee- und Landpartien und ernährungstechnische Differenzen.
Tricks beim Pfannkuchenbestellen
Berliner, mutmaßt er zum Beispiel, haben ständig Angst zu verhungern, warum sonst sähe man sie überall mit Stullen? Er findet auf seinen Streifzügen eine Menge "amerikanisches Berlin" samt Presse, erzählt nebenbei von traditionellen Spreewälder Ammen und staunt über die "absonderlich geistige Schärfe" der Berlinerin, die obendrein "mitten auf dem Kurfürstendamm am hellen Tage" Küsse tauscht. Undenkbar in New York! So wie auch die offensichtliche hiesige Immunität gegen die "Dollaritis", die Urban bei jeder Gelegenheit am "Dollarika", in dem er sonst lebt, satirisch geißelt.
Man reibt sich immer wieder die Augen beim Lesen. Und fragt sich, was der Mann heute beschreiben würde. Auf jeden Fall Handfesteres als die übliche Dauerparty-Clubszene und Kreativ-Bohème samt IT-Hype und Medien-Bashing. Denn Urban hat außer einer leichten Schreibhand und Sinn für Pointen vor allem einen tiefenscharfen Blick für "olle Berolina". Und was der sieht, zeigt verblüffende Ähnlichkeiten mit der heutigen "Miss Arm-aber-sexy" auf dem ewig wackeligen märkischen Sandboden. Höchst lehrreich also auch, diese "Entdeckung Berlins".

Henry F. Urban: Die Entdeckung Berlins
Verlag für Berlin und Brandenburg, Berlin 2014
184 Seiten, 18,99 Euro