Stadt der Eintracht

Von Martin Sander · 13.06.2012
Kommunisten und Aristokraten, Polen und Ukrainer - im ukrainischen Schytomyr leben alle ohne Vorbehalte zusammen. Dabei helfen Initiativen wie ein polnisches Theater und ein Adelsverband, der gegen die aus der Sowjetzeit verbliebenen Klischees von Polen als Feudalherren angehen will.
Mikołaj Warfołomiejew: "Und hier, sehen Sie, auch Karl Marx! Die Denkmäler sprechen doch für sich. An den Geburtstagen von Lenin und Marx stehen hier Busse mit Menschen aus der ganzen Umgebung ..."

Mikołaj Warfołomiejew beklagt sich über die Sowjetnostalgie in seiner Heimatstadt Schytomyr. Doch nicht weit von Marx und Lenin steht auch ein Denkmal für Johannes Paul II. Die Väter des Kommunismus und einen Papst, das gibt es nur in Schytomyr.

Warfołomiejew, ein schmächtiger Mann Mitte Vierzig im schwarz glitzernden Hemd, ist Regisseur. Vor vier Jahren hat er in Schytomyr, im Zentrum der Ukraine, nur 120 Kilometer westlich von Kiew, ein polnisches Theater ins Leben gerufen.

Mikołaj Warfołomiejew: "Ich habe immer von einem polnischen Theater geträumt, denn ich wusste, dass es das hier gegeben hatte. Doch als ich dieses Theater gründen wollte, kannte ich die polnische Sprache nicht gut genug und brauchte einen Lehrer, der die Schauspieler anleitet und ihnen Polnisch beibringt. Ich wollte einfach, dass polnische Worte auf der Bühne erklingen, zum ersten Mal seit 150 Jahren."

Warfołomiejew und seine Truppe üben das Repertoire mit Hilfe einer polnischen Theaterexpertin ein, die sich zu den Proben per Skype aus ihrem Wohnort in Schlesien zuschaltet.

Schytomyr gehörte einst zum Königreich Polen-Litauen. Der polnische Adel herrschte hier. Doch das ist lange her. Vor über zwei Jahrhunderten kam das Land zum Zarenreich, bald nach der Oktoberrevolution festigte sich die Sowjetherrschaft. Der Theatermann Warfołomiejew stammt väterlicherseits von russischen Kosaken ab. Mütterlicherseits ist er Nachfahre eines alten polnischen Adelsgeschlechts in der Ukraine. Den Sowjetzeiten trauert er nicht nach, wirklich nicht.

"Hier in Schytomyr leben die meisten Polen in der Ukraine. In der Sowjetunion haben sie gelitten. Sie wollen nicht, dass sich diese Zeiten wiederholen, in denen sie sagen mussten: 'Ich bin Jude, ich bin Ukrainer, ich bin Russe!' – nur nicht Pole, weil sie Angst hatten, dafür nach Sibirien oder Kasachstan verbannt zu werden."

Im zentralukrainischen Schytomyr gehen die Uhren anders als etwa in Lemberg – im Westen des Landes, wo die Grenze zu Polen nah, die polnische und habsburgische Vergangenheit noch lebendig ist. Im Westen war die ukrainische Sprache stets verbreitet und das Nationalgefühl stark. Heute werden dort überall Denkmäler für ukrainische Nationalisten errichtet. In Schytomyr hingegen denkt man nicht daran.

Lange Zeit war hier die russische Kultur dominant. Erst mit der staatlichen Unabhängigkeit vor 20 Jahren entdeckten viele Ukrainer ihre eigene Sprache und Nation. Von einem Hass auf die Polen ist nichts zu spüren. Polnisch-ukrainische Konflikte gehören für Schytomyr ins 18. Jahrhundert, ins untergegangene polnische Königreich.

Irena Perszko: "Die unabhängige Ukraine hat den Polen viele Möglichkeiten verschafft. Die Wiedergeburt des Polentums wurde überhaupt durch die ukrainische Unabhängigkeit möglich. Wir sind dem Schicksal sehr dankbar."

Irena Perszko leitet das Polnische Haus. Es steht malerisch auf einem Hügel im Villenvorort. Tief unten fließt der Teteriv. Aus einem Freizeitpark ragt der Rumpf eines Kriegsflugzeugs in den Himmel. Im Polnischen Haus laufen die Fäden aller Aktivitäten für die rund 50.000 Polen aus Schytomyr und Umgebung zusammen.

Es gibt mittlerweile Dutzende von Verbänden und Initiativen. Vorrangig ist die Vermittlung der polnischen Sprache – möglichst im Kindesalter. Doch es gibt auch sehr spezielle Gruppierungen, zum Beispiel den polnischen Adelsverband, der gegen die aus der Sowjetzeit verbliebenen Klischees von Polen als Feudalherren und Ausbeuter angehen will.

Włodzimierz Iszczuk-Żółkiewski: "Wir kämpfen für die Ehre unserer Vorfahren. Die Geschichte hat die polnischen Aristokraten nicht gerade gut behandelt. Das wollen wir ändern. Wir schreiben Artikel zu diesem Thema, unterhalten eine eigene Internetseite. Wir organisieren Aktionen, Seminare, Ausstellungen ..."

Włodzimierz Iszczuk-Żółkiewski, der Sprecher des Schytomyrer Aristokratenvereins, präsentiert sich schon einmal gern im Standeskostüm seiner fernen Ahnen – auf seiner Internetseite. Zugleich fühlt sich der junge Pole aus Schytomyr als ukrainischer Patriot. Über die Frage, für wen er bei der Fußball-EM fiebert, kann er, genau wie Irena Perszko, nur lachen:

"Für die Ukrainer, wir leben in der Ukraine. Wir sind ukrainische Staatsbürger."

Irena Perszko: "Die Frage habe ich mir nicht gestellt. Ich bin sowohl für die einen wie für die anderen."

Weitere Reportagen aus unserer Reihe Vielvölkergeschichte und Postkommunismus finden Sie auf unserer Übersichtsseite.
Schytomyr zeigen Włodzimierz Iszczuk-Żółkiewski und seine Frau Natalia Iszczuk-Kostecka
Schytomyr zeigen Włodzimierz Iszczuk-Żółkiewski und seine Frau Natalia Iszczuk-Kostecka© Martin Sander