Stadt der Angst

19.11.2009
"Glister" spielt in einer namenlosen nördlichen Stadt, in der sinistre Dinge vor sich gehen. Die Einwohner sind arbeitslos und leiden an unerklärlichen Krankheiten, die Region ist vergiftet - sogar entartete Lebewesen und hybride Geschöpfe werden gesichtet.
Das Besondere am Erzähler John Burnside: Für ihn ist die reale Welt des Diesseits durchlässig für alle möglichen anderen Welten - für die spirituelle Welt, für das Unheimliche, das Gespenstische, das Visionäre, das Dämonische, das Böse. Die banale Diesseits-Welt wird transformiert durch Phantasie und öffnet sich dem Geisterhaften. An "Glister" lässt sich das gut studieren. Der Roman ist von allem etwas: eine Gespenster- oder Horror-Geschichte, ein Fantasy-Thriller, ein Mysterien-Roman, ein Krimi, eine ökologische Dystopie, eine religiös-allegorische Moralität.

"Glister" spielt in einer namenlosen nördlichen Stadt, in der sinistre Dinge vor sich gehen. Vor allem verschwinden seit einigen Jahren immer wieder halbwüchsige Jungen auf unerklärliche Weise – bisher insgesamt fünf. Die Stadt ist von allegorischer, endzeitlicher Kaputtheit: spirituell, moralisch, ökologisch und ökonomisch ruiniert. Ihre Einwohner lebten von der Chemiefabrik auf der Halbinsel vor der Küste, in der neben Düngemitteln wohl auch chemische Kampfstoffe hergestellt wurden und die seit Langem stillgelegt ist. Die Einwohner sind arbeitslos und leiden an unerklärlichen Krankheiten, die Region ist vergiftet, entartete Lebewesen und hybride Geschöpfe werden gesichtet; reiche politische Strippenzieher in Outertown zweigen die Staatsgelder zur Sanierung der Fabrik und der Region für sich ab und profitieren so vom Elend der Menschen in Innertown, die hoffnungslos und sozial depraviert dahinvegetieren.

Die Chemiefabrik ist der eigentliche Held des Romans: schön und schrecklich zugleich, ein Tabu, ein verfluchter, verbotener, tödlicher Ort, an dem unerklärliche Dinge vor sich gehen und um den sich Legenden ranken. Aber auch ein verwunschener, magischer Ort, der seine eigene Mythologie hervorbringt und vor allem Jugendbanden fasziniert und auch den jungen Leonard Wilson, den Haupt-Erzähler des Romans, einen Einzelgänger, Vielleser und Film-Freak, in seinen Bann zieht. Die Lösung aller Geheimnisse, auch des Mysteriums der verschwundenen Jungen, scheint im Innern des Fabrik-Geländes verborgen.

Die schillerndste und zwiespältigste Gestalt des Romans ist "der Mottenmann", der hin und wieder auftaucht, um die Schmetterlings-Fauna der Region zu überprüfen, sich mit Leonard anfreundet und verdächtige Tees braut, die Rauschzustände zeitigen. Für Leonard ist er zugleich Ersatzvater, großer Bruder und ökologischer Sendbote, aber er ist auch eine Naturkraft, ein grüner Waldmensch, eine überweltliche Macht, ein Pan, der panischen Schrecken verbreitet, ein Dämon, ein Todesengel mit einer rätselhaften, bedrohlichen Agenda.

Der Roman "Glister" gehört in die auffällige Reihe post-apokalyptischer Erzählungen und Endzeit-Romane vor allem aus dem anglo-amerikanischen Raum, die derzeit boomen. Sie liefern Schreckensbilder einer post-industriellen Zukunft: Bilder von Zivilisationswüsten, von einer amoklaufenden Wissenschaft und Wirtschaft, einem ausgeplünderten und erschöpften Planeten, von kaputten Städten, ruinierten Landschaften und einer vergifteten Umwelt. Sie vermitteln ein Bewusstsein von der menschengemachten Zerstörung der Erde und all ihrer Ressourcen (siehe auch Cormac McCarthy: "Die Straße", Margaret Atwood: "Das Jahr der Flut", Richard Powers: "Das größere Glück"). In all diesen Romanen strebt die Welt ihrem Kollaps zu, aber dieser pessimistischen Sicht wohnt eine Dialektik inne: Die Autoren wollen zur Umkehr, zum Umdenken zwingen und dringen auf radikale Lösungen.

Besprochen von Sigrid Löffler

John Burnside: Glister
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Knaus Verlag, München 2009
285 Seiten, 19,95 Euro