Staatsrechtler Udo Di Fabio

Westliches Gesellschaftsmodell in der Krise

Moderator Christian Rabhansl im Gespräch mit dem früheren Verfassungsrichter Udo Di Fabio (von links).
Moderator Christian Rabhansl im Gespräch mit dem früheren Verfassungsrichter Udo Di Fabio © Deutschlandradio / Selma Nayin
Moderation: Christian Rabhansl  · 17.10.2015
Der Westen steckt in der Krise und muss sich neu erfinden – diese Diagnose erstellt Udo Di Fabio in seinem neuen Buch "Schwankender Westen". Der frühere Verfassungsrichter sorgt sich um die Grundlagen des freiheitlichen Gesellschaftsmodells. Es gerate von vielen Seiten unter Druck: durch eine nicht enden wollende Krise des Wirtschaftssystems, durch neue Konflikte mit Russland, durch Terror und durch eine politische Lähmung Europas, die sich aktuell in der Flüchtlingskrise offenbart.
Verliert der Westen seine Stärke und Strahlkraft? Wie kann er sich gegen Terror und Fundamentalismus verteidigen, ohne dabei seine Werte aufzugeben? Stellen die vielen Flüchtlinge, die aus Bürgerkrieg und Not nach Europa drängen, eine gemeinsame Wertebasis infrage, oder eröffnen sie Chancen zur Erneuerung? Und wie muss der Westen der wachsenden Schicht der politisch und ökonomisch Abgehängten begegnen, die längst ihr Vertrauen in Regierung und Rechtsstaat verloren haben?
Udo Di Fabio, geboren 1954 nahe Duisburg, hat Jura und Soziologie studiert. Auf Vorschlag der CDU war er 1999 bis 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht. Di Fabio lebt mit Frau und Kindern in Godesberg und lehrt als Professor für Staatsrecht an der Universität Bonn. Nach seinem vieldiskutierten Buch "Die Kultur der Freiheit" stellt er nun sein neues Werk vor: "Schwankender Westen. Wie sich ein Gesellschaftsmodel neu erfinden muss."

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Deutschlandradio Kultur: Tacheles heute von der Frankfurter Buchmesse: Mit einem Gast, der sich gerne meinungsstark in gesellschaftliche Debatten einmischt, sich nicht besonders zurückhält, wie man es vielleicht von anderen Juristen kennt. Dabei ist er Jurist, Vollblutjurist, Verfassungsrechtler, zwölf Jahre lang sogar Verfassungsrichter, heute Professor an der Uni Bonn. Herzlich willkommen, Udo di Fabio.
Wir sprechen heute darüber, was in dieser turbulenten Gegenwart eigentlich unsere Gesellschaft zusammenhält, ob unsere Gesellschaft noch zusammenhält, was diese sogenannten westlichen Werte sind, auf die wir uns so oft und so gerne berufen, und ob die unter Umständen bedroht sind.
Deshalb beginne ich mit Ihrer Familiengeschichte: Sohn eines Bergmanns, Enkel eines Stahlarbeiters, heute würde man sagen, ein Kind mit Migrationshintergrund. Und mancher würde den kleinen Udo weniger als Kind, sondern mehr als Problem wahrnehmen – bildungsferner Haushalt. Die Biografie zeigt, das Etikett ist völlig falsch. Waren damals die 50er-Jahre offener als heute die Gegenwart?
Udo di Fabio: Darüber lohnt es sich in der Tat nachzudenken. Ich bin zwar kein Einwanderungskind in diesem Sinne, weil meine Eltern beide deutsch waren, aber ansonsten stimmt die Biografie. In den 60er-Jahren hat man im Ruhrgebiet wie – glaube ich – in ganz Deutschland einem Bildungsenthusiasmus angehangen. Unsere Kinder sollen es besser haben, war die Parole. Das führte dazu, dass diejenigen, die kein Buch im Bücherschrank hatten, ihre Kinder zu weiterführenden Schulen gegeben haben - manchmal zögerlich, man wollte nicht zu ehrgeizig sein und nicht scheitern, aber doch mit einem großen Enthusiasmus.
Manchmal denke ich, das sind Haltungen, die eine Gesellschaft verändern. Sie machen sie durchlässiger. Wir reden gerne über Strukturdebatten, wie wir das Schulsystem ausgestalten, damit man aufsteigen kann. Das mag auch wichtig sein, aber viel wichtiger ist der Enthusiasmus, die kulturelle und die mentale Disposition der Menschen.
Deutschlandradio Kultur: Hatten Sie vielleicht auch Glück, im Ruhrgebiet auf die Welt zu kommen, einer Region, in der fast jeder Verwandtschaft hat, die irgendwie zugewandert ist?
Udo di Fabio: Das ist wahr. Als ich in der Schule lernte, dass das Ruhrgebiet ein Melting Pot sei, hat mir das unmittelbar eingeleuchtet. Denn im Ruhrgebiet gab es streng genommen ja keine seit Generationen Einheimische. Mitte des 19. Jahrhunderts sind praktisch alle zugereist. Die kamen und das Namenspotpourri mit den Olschofskis und Di Fabios, spanische Namen, das war typbildend im Ruhrgebiet. Und die Gesellschaft dort in den 60er-Jahren hat sich über Werte, über Arbeitswerte etwa, definiert. Als dem Ruhrgebiet die Arbeit ausging, ist deshalb auch ein Problem entstanden.
Deutschlandradio Kultur: Heute gilt es, weil die Arbeit ausgegangen ist und das Ruhrgebiet wirtschaftlich nicht sonderlich gut dasteht - gilt es nicht unbedingt als Vorzeigeregion. Diese Mentalität aber, ist das etwas, wovon sich heute noch die ganze Republik eigentlich ein Scheibchen abschneiden könnte?
Udo di Fabio: Ja, die Mentalität ist auch, glaube ich, nicht untergegangen, trotz aller Strukturprobleme. Ich bin vor einiger Zeit mit einem Taxifahrer, der arabischstämmig war, gefahren. Der hat dann im breitesten Dialekt des Ruhrgebietes mir erklärt, was er demnächst alles macht jenseits des Taxigewerbes, wie er aufsteigt und was er alles tun will. Da hab ich gedacht, das ist die Mentalität, die ich kenne und schätze.
"Ich meine den Westen normativ und sozialwissenschaftlich nüchtern"
Deutschlandradio Kultur: Ich frag Sie deshalb so ausführlich nach Ihrer Kindheit, nach diesem Melting Pot im Ruhrgebiet, weil heute viele Menschen Zuwanderer und gerade auch Flüchtlinge eher als Bedrohung wahrnehmen.
Sie haben ein Buch geschrieben. "Schwankender Westen" heißt es, "Wie ein Gesellschaftsmodell sich neu erfinden muss". Dieser Westen, den Sie da beschreiben und über den wir jetzt hier sprechen auf der Buchmesse, ist das dasselbe, was viele in Gefahr sehen, wenn sie vom Abendland sprechen?
Udo di Fabio: Das ist eine interessante Frage. Darüber muss man sich Rechenschaft abgeben, wenn man über den Westen im Singular spricht. Schließlich hat vor rund 100 Jahren Oswald Spengler vom Untergang des Abendlandes gesprochen und damit sehr einflussreich gewirkt. Das war kulturmythologisch gemeint. So meine ich das nicht. Ich meine den Westen normativ und sozialwissenschaftlich nüchtern. Es geht um ein Ideensystem. Es geht um eine Gesellschaftsordnung, die nach einem normativen Programm aufgestellt ist.
Deutschlandradio Kultur: Also auch keine geografische Beschreibung?
Udo di Fabio: Es ist keine geografische Beschreibung, weil der Westen buchstäblich überall sein kann. Da, wo man auf eigenverantwortliche Lebensentfaltung setzt, wo Demokratie, Rechtsstaat, soziale Marktwirtschaft für wichtig gehalten werden, da ist man im Westen. Und wenn in Hongkong junge Menschen demonstrieren im Licht ihrer Handys gegen autokratische Einflüsse, dann ist da der Westen auf der Straße.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem habe ich beim Lesen Ihres Buches den Eindruck, Sie verorten den Westen vor allem in Europa. Ist das richtig?
Udo di Fabio: Ja, man schreibt über Europa, weil man Europäer ist. Ich glaube, wenn Sie sich amerikanische Autoren anschauen, dann wird das immer sehr stark von Amerika geprägt sein. Wir sind in Europa ein Zentrum des Westens. Man sollte sich nicht zu klein machen in Europa. Ich weiß, dass das Eurozentrische etwas unter Kritik liegt, aber es ändert nichts daran: Die Wurzeln des westlichen Denkens, sie kommen aus Europa. Es hat nichts mit Eurozentrismus zu tun, sondern mit der Beschreibung einer ideengeschichtlichen Wahrheit.
Wenn heute die Welt an den Westen denkt, dann wird auch Europa gesehen, und zwar nicht nur als Museum. Wie wir uns mit der europäischen Integration, wie wir uns in der Herausforderung mit Krisen bewähren und wie wir uns bewegen, das wird weltweit beobachtet. Und da sollten wir manchmal dran denken, wenn wir zu kleinteilig diskutieren.
Deutschlandradio Kultur: Zumal wir uns ja gerade in einer großen Gemengelage aus verschiedenen Krisen bewegen. Es gibt die nicht enden wollende Finanzkrise. Es gibt jetzt aktuell die Flüchtlingskrise. Es gibt die Krise in der Ukraine, die Europa trotz aller seiner Werte nicht so richtig in den Griff bekommen kann.
Sie haben vor zehn Jahren schon mal ein Buch geschrieben – "Die Kultur der Freiheit", schon der Titel sehr optimistisch, jetzt der neue Titel "Schwankender Westen". Sind Sie vom Optimisten zum Pessimisten geworden, was den Westen betrifft?
Udo di Fabio: Der Optimismus ist gleich. Auch der schwankende Westen redet nicht von einem Westen, der fällt, sondern von einem Westen, der Anlass hat, über seine Grundlagen nachzudenken und sich ein Stück weit auf Grundlage seines Wertesystems neu erfinden. Das ist der Ansatz.
Aber man muss zugestehen, innerhalb der zehn Jahre, die zwischen den beiden Büchern liegen, hat es die Weltfinanzkrise gegeben, die europäische Schuldenkrise, die Destabilisierung von peripheren Räumen Europas. Die Ukraine ist ein Beispiel. Der Nahe Osten ist ein anderes Beispiel. Ja, die Welt ist schwieriger geworden. Wir erleben eine geopolitisch neue Fragmentierung, die man vor zehn oder vor 20 Jahren so nicht für möglich gehalten hätte. Wir erleben in Europa die Rückkehr von Gewalt, Gebietsannexionen. Das hätte man vor zehn oder 20 Jahren kaum für möglich gehalten. Also, es verändert sich etwas.
Deutschlandradio Kultur: Gleichzeitig erleben wir in der Folge dieser Krisen auch, dass sehr viele Menschen nach Europa kommen, weil sie hier nach Sicherheit suchen, vielleicht auch nach rechtlicher Sicherheit, vielleicht auch nach mehr Wohlstand. Das kann man als Krise lesen. Man könnte aber auch sagen, es zeigt, dass das westliche Modell nach wie vor eine unglaubliche Strahlkraft hat. – Welche Position beziehen Sie?
Udo di Fabio: Von der Strahlkraft des Westens spreche ich ausdrücklich in dem Buch. Der Westen hat als Gesellschaftsmodell eigentlich keine konzeptionelle Konkurrenz. Wer in Frieden, in Freiheit und in Wohlstand leben will, der kann das nur in einem westlichen Gesellschaftssystem. Nur wenn es einen Rechtsstaat gibt, wenn es verfassungsrechtliche Garantien gibt, wenn es bestimmte Ordnungsstrukturen gibt, nur dann kann der Mensch sich frei entfalten.
Deutschlandradio Kultur: Damit erklären Sie sich jetzt ein bisschen selber. Sie sagen, wer in einem westlichen System leben will, kann nur den Westen wählen. Aber es gibt durchaus Modelle, die sehr erfolgreich sind, wie zum Beispiel China. Das kommt ohne Freiheiten aus, ist aber trotzdem ein Land, das nicht gerade zusammenbricht.
Udo di Fabio: Ich würde bestreiten, dass China so stabil ist, wie wir das gerne sehen, wenn wir China als Absatzmarkt und als Produktionsstandort sehen.
China hat als autoritäres System Marktwirtschaft zugelassen. Solche Modelle lassen sich erst sehr gut an, aber nach einiger Zeit, wird sich jemand, der wirtschaftlich erfolgreich ist, nicht von der Geheimpolizei abholen lassen wollen. Das passt einfach nicht zusammen. Und die Dynamik, die entsteht, sie braucht demokratische und rechtsstaatliche Strukturen. Sonst wird das System irgendwann instabil. Und was wir heute in China erleben, deutet vielleicht ein wenig schon in diese Richtung.
Nun muss man sich entscheiden. Entweder man hält an der Marktwirtschaft fest oder man deformiert sie politisch oder man geht doch den Weg zumindest in rechtsstaatliche Strukturen.
Deutschlandradio Kultur: Ich fand ganz spannend, als ich Ihr Buch gelesen habe: In vielen Punkten, was den Westen ausmacht, werden die meisten Menschen mitgehen, was die persönlichen Freiheiten betrifft, was Rechtsstaatlichkeit betrifft, was Demokratie betrifft. Ich lese bei Ihnen aber auch, dass der Kapitalismus etwas ist, was zwar undemokratische Systeme mal ausprobieren können, dass aber ein demokratisches System ohne Kapitalismus, ohne Marktwirtschaft nicht funktionieren kann. Da würden wahrscheinlich viele, die heute unseren Kapitalismus am Ende sehen, Ihnen heftig widersprechen.
Udo di Fabio: Das weiß ich und deshalb hab ich es ja auch geschrieben. Es gehört zum guten Ton, dass man in einer bestimmten politischen Richtung kapitalismuskritisch ist. Das halte ich auch für verständlich im Ansatz, denn es geht immer wieder darum, wie man ordnungspolitisch Marktwirtschaft verfasst. Es ist ja die große Idee von Ludwig Erhard gewesen mit der sozialen Marktwirtschaft, dieses Modell in Deutschland neu zu versuchen – und das ist auch sehr gelungen.
Die Weltfinanzkrise hat gezeigt, dass wir Regulationsbedarf haben – keine Frage. Aber wer meint, das Kind mit dem Bade ausschütten zu müssen und das ganze marktwirtschaftliche System abzuwickeln, der steht vor der Frage: Was soll den jenseits kommen?
Und widersprechen Sie mir, wenn ich mich irre: Wann genau in der Geschichte hat es denn eine Demokratie ohne Marktwirtschaft gegeben?
Deutschlandradio Kultur: Auf diese Diskussion würde ich mich jetzt gar nicht einlassen wollen. Ich möchte aber auf den Punkt hinaus, dass ja sehr viele Menschen es offensichtlich so empfinden, dass es scheinbar eine Legitimationskrise des Westens gibt. Wir haben seit einem Jahr – am Montag jährt sich die erste Pegida-Demonstration – offenkundig viele, viele Menschen, die so unzufrieden sind mit diesem Land, mit Regierung, mit der Staatsform, mit dem Kapitalismus, dass wir nicht einfach sagen können, ihr irrt euch. Damit kommen wir nicht weiter.
Wie reagiert der Verfassungsrechtler Udo di Fabio auf so einen Verdruss an diesem Land?
"Populismus drückt auf die Möglichkeit, vernünftige Politik zu vereinbaren"
Udo di Fabio: Letztlich ist es der Grund, warum ich ein solches Buch schreibe. Es geht darum, dass wir eine Diskrepanz zwischen den Eliten haben auf der einen Seite – gleichgültig aus welchem Bereich, Politik, Wirtschaft, kulturell, Medien – und von Bürgern auf der anderen Seite, die nicht mehr alles akzeptieren, was diese Eliten sich in ihrem System als plausibel erklären. Diese Diskrepanz macht mir Sorgen. Diese Sorgen muss man auch gegenüber der Elite formulieren.
Pegida ist auch nicht das Beispiel für Antikapitalismus, sondern das ist eine rechtspopulistische Bewegung. Es gibt in Europa auch viele linkspopulistische Bewegungen. Der Populismus insgesamt drückt auf die Möglichkeit, eine vernünftige Politik kooperativ in Brüssel zu vereinbaren. Das merkt man deutlich. Und das gefährdet zurzeit das europäische Projekt. Es lastet auf dem europäischen Projekt. Deshalb müssen wir neu darüber nachdenken: Was sind denn eigentlich unsere Grundlagen? Was sind unsere institutionellen Grundlagen?
Deutschlandradio Kultur: Das ist jetzt schon ein sehr grundlegender Gedanke. Ich würde gerne noch bei der konkreten Situation bleiben. Wie reagieren auf so viele Menschen, die so frustriert sich von dieser Demokratie und diesem Staatssystem abwenden?
Udo di Fabio: Sie reagieren vielleicht auch, egal welche Spielart von Populismus, darauf, dass sie sich in der Art und Weise, wie wir öffentlich über unsere Gesellschaft reden, nicht wiederfinden. Der bei Luhmann geschulte Gesellschaftsanalytiker würde ja vorsichtig sein zwischen dem, was ist, und dem, worüber berichtet wird. Das ist immer eine Diskrepanz. Wenn jemand sagt, das ist Lügenpresse, dann muss man sich zunächst einmal mit dem Umstand auseinandersetzen, dass jede Presse, dass jede öffentliche Meinung nicht eins zu eins die Wirklichkeit abbilden kann, sondern auswählen muss.
Deutschlandradio Kultur: Falls es diese Eins-zu-eins-Wirklichkeit gibt.
Udo di Fabio: Wenn es die überhaupt gibt und wo es die gibt, jedenfalls kann man sie nicht abbilden. Das heißt, man muss auswählen. Da kann man die Wahl immer anders treffen. Das heißt, man kann sie kritisieren.
Nun ist aber zu beobachten, dass wir im öffentlichen Meinungsraum an den Rändern zunehmend an Akzeptanz verlieren. Die einen gucken nicht mehr hin und hören nicht mehr hin. Und die anderen sind nicht einverstanden mit den Inhalten. Das bedeutet, wir alle müssen darüber nachdenken: Wie kann man unsere Gesellschaft neu erklären. Weswegen das Grundsätzliche etwas mit dem praktischen Alltag zu tun hat.
Deutschlandradio Kultur: Was tun Sie im praktischen Alltag, um dieses Missverständnis vielleicht aufzuklären?
Udo di Fabio: Ja, ich versuche beispielsweise manchmal, indem ich in einer Zeitung schreibe, den Rechtsstaat zu erklären. Der gilt so ein bisschen fast wie ein Ladenhüter in unserem Land, wobei doch die Deutschen ihren Weg in die Moderne über den Rechtsstaat genommen haben. Aber was ist der Rechtsstaat? Hat jemand eine Vorstellung, wenn er mit Polizisten umgeht, Polizeibeamtinnen umgeht, dass das eigentlich die Vollstrecker des demokratischen Souveräns sind? Oder sind das nur die Leute, denen man gegenüber Frustrationen entwickelt, weil sie mit Geboten, mit Verboten kommen?
Fehlt uns vielleicht auch der Sinn für Verfahren? Wenn beispielsweise Polizeibeamte, die Flüchtlinge registrieren wollen, ausgebuht werden von Passanten, fehlt manchen, nicht allen, aber manchen der Sinn für rechtsstaatliche Verfahren, warum Registrierung sein muss: weil es so im Gesetz steht, das wir verabschiedet haben mit Mehrheit.
Deutschlandradio Kultur: Heißt das, dass Sie ein Abwenden von Demokratie gleichermaßen bei denen sehen, die vielleicht so reagieren, wie Sie es gerade beschreiben, dass Polizisten, die registrieren oder auch abschieben, ausgebuht werden auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite Menschen, die mit Galgenattrappen auf eine Pegida-Demo gehen?
Udo di Fabio: Ja. In beiden Fällen haben wir eine Distanz zum Rechtsstaat zu erleben, natürlich mit graduellen Unterschieden. Dennoch, in beiden Fällen spürt man eine Distanz zu einem Gemeinwesen, das ja für uns alle prägend ist. Wir hängen alle davon ab, dass im Bundestag mit demokratischer Mehrheit in ordentlichen Verfahren Gesetze beschlossen werden und dass diese Gesetze dann auch vollstreckt werden.
Was wir heute teilweise erleben in der Migrationskrise, ist, dass dieses Recht nicht mehr angewandt wird. Dafür kann es gute praktische Gründe geben, aber das muss jemanden, der an den Rechtsstaat denkt, mit Sorge erfüllen.
Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie das jetzt so beschreiben, frage ich mich trotzdem: Wir reden jetzt hier miteinander. Menschen, die sich komplett abgewandt haben, die sagen, das da in Berlin, das sind alles Diktatoren. Und Sie als ehemaliger Verfassungsrichter sind ja sowieso Teil des Systems. Und jetzt reden Sie mit so einem Lügenjournalisten. – Es ist schon viel versucht worden, von, wir müssen die Sorgen der Bürger ernst nehmen, bis zur Beschimpfung: Ihr seid Pack.
Ich bin ein bisschen ratlos. Wie weiter umgehen? Sie sind ja auch Soziologe. Haben Sie da eine Idee?
Udo di Fabio: Ja, die Soziologen kommen meist mit Diagnosen und nicht mit Lösungsvorschlägen. Das ist ihr Beruf.
Deutschlandradio Kultur: Versuchen Sie es trotzdem.
Udo di Fabio: Die Diagnose ist die, dass unsere Gesellschaft, die wir als pluralistische Gesellschaft wollen, also als eine vielfältige Gesellschaft wollen, dass die sich aber zum Teil fragmentiert, das heißt, dass Gruppen sich abschließen. Das, was Sie von Pegida sagen, ist ein Phänomen. Wir finden aber auch andere Phänomene. Wir finden im Kreis von Einwanderern ähnliche Phänomene, dass sich Subkulturen abschließen, Parallelgesellschaften entstehen. Ja, ich glaube sogar, dass wir unter den Eliten auch solche Selbstabschließungsphänomene betrachten können. Und das muss uns mit Sorge erfüllen. Das verlangt nach anderen Umgangsformen, wenn Sie jetzt nach praktischen Wegweisungen fragen.
Wir müssen versuchen, diese Gehäuse zu durchbrechen, nämlich indem wir Kommunikationen etwas anders gestalten.
Deutschlandradio Kultur: Wie?
Udo di Fabio: Zurzeit neigen wir eher zu Panikreaktionen. Wenn so was wie Pegida auftritt, wenn so was wie islamischer Fundamentalismus auftritt, dann reagieren wir mit Abwehr, rufen wir nach Polizei und brechen die Diskussion ab. Das kann man tun, aber man muss einen Preis dafür bezahlen. Der Preis ist der, dass man dann anderen die Bühne überlässt.
Es gibt dann Leute, ich will jetzt keine Namen in Dresden nennen, die dann die Führung übernehmen, die ersichtlich führungsungeeignet sind in einer demokratischen Kultur. Insofern ist der Abbruch von Gesprächen immer ein Problem, obwohl man die Motive verstehen kann, wenn die Emotionen hoch gehen.
Aber vielleicht sollten wir auch mal lernen, nicht alles zu moralisieren. Wir brauchen, glaube ich, angelsächsischen Pragmatismus, dass man nüchtern sich was anhört.
Deutschlandradio Kultur: Mehr Gelassenheit auch? Ist der Westen genug, dass er das einfach ertragen muss?
Udo di Fabio: Mehr Gelassenheit auch. Nicht gleich mit Verbalinjurien reinschlagen, wenn Unappetitliches auf die Straße kommt.
Deutschlandradio Kultur: Ist das die Hoffnung, dass sich solche Bewegungen von alleine wieder legen? Ich würde die, ehrlich gesagt, für naiv halten, diese Hoffnung.
Udo di Fabio: Ja. Als ich das Buch geschrieben habe, habe ich Pegida als wahrscheinlich vorübergehendes Phänomen wahrgenommen vor einem Jahr. Heute ist es wieder aufgelebt und man kann nicht sicher sein, wie sich so etwas entwickelt.
Ich glaube, wir haben inzwischen in ganz Europa, wenn man sich mal von Deutschland etwas löst, und sogar in den USA zu diagnostizieren, dass es eine linke, eine rechte populistische Variante gibt. Dass überhaupt vereinfachte Welterklärung – die einen kommen mit Verschwörungstheorien, die anderen mit radikalen Vereinfachungs-, Entdifferenzierungsformeln – dass die einen gewissen Zulauf haben, hätte man in einer so entwickelten Gesellschaft vielleicht vor 20 Jahren gar nicht zugetraut. Da ändert sich etwas. Das muss uns mit Sorge erfüllen. Das verlangt auch einen anderen Zugang zu dem, was wir früher mal politische Bildung genannt haben oder Staatsbürgerkunde.
Deutschlandradio Kultur: Da sind wir vielleicht auch wieder bei den Werten, von denen Sie jetzt mehrfach gesprochen haben. Sie haben gerade aber auch schon gesagt, wir sollten vielleicht etwas weniger moralisch argumentieren.
Diese Grenze zwischen Werten und Moral ist manchmal ein bisschen schlüpfrig. Ich habe auch, als ich Ihr Buch gelesen habe, manchmal gedacht, die Werte lassen sich häufig auch drehen. Ich kann sie beliebig einsetzen. Also, ich finde auffällig, wie in der aktuellen Debatte um Flüchtlinge viele, die früher eher dadurch aufgefallen sind, dass sie vor dem angeblichen Gender Mainstreaming gewarnt haben, jetzt plötzlich die Frauenrechtler in sich entdecken und sagen, die Flüchtlinge müssen aber doch erstmal die Gleichberechtigung so richtig wahrnehmen. Menschen, die eher immer dadurch aufgefallen sind, dass sie die Schwulenrechte nicht allzu weit treiben wollten, sagen jetzt, aber ihr Flüchtlinge... Da werden die Werte, die Sie meinen, plötzlich moralisch, oder?
Udo di Fabio: Also, wenn wir davon sprechen, dass die Grundrechte unserer Verfassung eine Werteordnung konstituieren, dann ist das in der Regel nicht so sehr inhaltlich gemeint, sondern es geht um Spielregeln, allerdings auch um die Art und Weise, wie ein anderer betrachtet wird. Die Würde eines anderen ernst zu nehmen, heißt zum Beispiel, nicht mit einem Galgen durch die Straßen zu laufen. Es ist, von allem Strafrechtlichen mal abgesehen, etwas, was die Würde des politisch Gewählten missachtet. Das sollte in einer Gesellschaft, zumal, wenn man meint, Kultur zu verteidigen, zum Nachdenken bringen.
Unsere Werteordnung ist relativ abstrakt. Sie sagt uns nicht, was wir glauben sollen. Aber dass wir den Glauben anderer Menschen achten sollen, das sagt uns diese Werteordnung. Dass manche, die meinen, dass man bestimmte Gleichstellungsanliegen nicht auf die Spitze treiben sollte, dass die jetzt darauf hinweisen, dass wir in Berührung mit einer kulturellen Auffassung kommen, die uns vielleicht zurückwerfen könnte in längst überwundene gesellschaftliche Umgangsformen, muss kein Widerspruch sein. Allerdings darf man auch neu Ankommende nicht gleich unter einen solchen Generalverdacht setzen.
Deutschlandradio Kultur: Ich meine Ihr Buch auch so zu lesen, dass Sie durchaus diese Gefahren sehen, dass Menschen, die jetzt kommen, unter Umständen Werte mitbringen, die wir hier eigentlich so nicht leben wollen, dass Sie aber trotzdem eigentlich dazu tendieren, die Menschen, die neu zu uns kommen, als Chance zu begreifen.
Was müssen die mitbringen? Und was müssen wir ihnen geben oder auch von ihnen fordern, damit das tatsächlich alles gut ausgeht und wir hier gemeinsam gut zusammenleben können?
Udo di Fabio: Wir sind in Deutschland faktisch eine Einwanderungsgesellschaft geworden, zurzeit, vielleicht für längere Zeit, vielleicht sogar auf Dauer. Aber wir haben eigentlich nichts getan, was eine Einwanderungsgesellschaft klassischerweise auszeichnet. Wir haben keine Einwanderungsordnung. Wir haben kein Regelsystem dafür. Wir sind also ein unvollkommenes Einwanderungsland. Das muss geändert werden.
Deutschlandradio Kultur: Brauchen wir regelrechte Einwanderungsverträge beispielsweise, in denen wir unser Wertesystem klar machen?
Udo di Fabio: Ja, solche Verträge haben wir an Universitäten beschlossen. Da muss man Zielvereinbarungen schließen. Ich belächele das eher, denn, das ist Papier. Das sind neue Bürokratien. Wenn Menschen kommen, kommen sie als eigenwillige Menschen. Und so erwartet sie ja auch unsere Verfassung.
Nur muss man sich eben, wie das manche so anschaulich dann sagen, an eine Hausordnung halten. Das heißt, unsere Rechtsordnung ist die Hausordnung. Und jeder, der sich an Grundregeln der Achtung des anderen, der Einhaltung von Gesetzen hält und der in diese Gesellschaft als Arbeits- und Leistungsgesellschaft drängt, der ist uns willkommen und der wird seinen Platz in dieser Gesellschaft finden.
Es ist, muss man allerdings auch sagen, natürlich eine Frage auch der Zahl. Welche Einwanderungsquantitäten kann eine Gesellschaft bewältigen? Insofern sind diejenigen, die sagen, wir können nicht unbegrenzt aufnehmen, keine Leute, die Flüchtlingsphobien oder Ausländerphobien oder sonst etwas entwickeln, sondern die weisen einfach auf einen pragmatischen Umstand hin.
Deutschlandradio Kultur: Ich war sehr gespannt, was Sie dazu sagen werden als Verfassungsrechtler, ob Sie dann sagen, das Grundrecht auf Asyl steht über allem Pragmatismus. Jetzt sagen Sie eher, wir müssen praktisch gucken, was ist zu leisten.
Udo di Fabio: Mit Verlaub, die Debatte ist in Deutschland noch nicht so trennscharf geführt worden, wenn man sie als juristische Debatte begreift. Es spricht ja viel dafür, die Debatte gar nicht juristisch zu führen, sondern unter humanen Gesichtspunkten. Das kann man tun. Dann sollte man aber juristische Argumente nicht so stark einflechten. Denn auf dem Landwege kann man eigentlich nicht nach Deutschland mit Asylanspruch kommen. Es kommen aber fast alle auf dem Landwege und nicht auf dem Luftwege.
Deutschlandradio Kultur: Durch die europäischen Regelungen?
Udo di Fabio: Nein, auch durch unser Grundgesetz. Wir haben im Asylkompromiss, der jetzt 20 Jahre zurück liegt, das so reingeschrieben, dass, wer aus sicheren Drittstaaten in die Bundesrepublik einreist, sich nicht auf das Grundrecht auf Asyl berufen kann. Das steht so im Grundgesetz. Vielleicht sollten wir mal lesen, was da so im Art. 16a Abs. 2 steht.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie geben denen Recht, die sagen, Angela Merkel bricht jetzt seit Wochen das Recht?
Udo di Fabio: Das Grundrecht auf Asyl hat keine Obergrenze. Das hat die Bundeskanzlerin richtig wiedergegeben. Nur die auf dem Landweg ins Land kommen, können sich auf dieses Grundrecht nicht berufen. Das ist der zweite Teil der Botschaft. Das heißt, wir müssen nicht das Asylrecht ändern, wie das manche Politiker fordern, wir haben einzig und allein ein Vollzugsproblem. Deshalb ist mir der Rechtsstaat wichtig. Das Recht wird nicht angewandt.
Ein Politiker würde dann sagen, ja, das geht doch nicht, wir können ja nicht schießen. In Bulgarien ist der erste Einreisewillige erschossen worden. Sollen wir jetzt DDR invers machen? Das heißt, wir hindern nicht an der Ausreise, aber wir hindern massiv an der Einreise. – Ich verstehe solche Argumente und es gibt da keine Patentlösung. Aber wir brauchen auch neue rechtliche Vorstellungen und Regeln, wie wir die Kontrolle über Einwanderung zurückerlangen können.
"Wir sind in unserer Freiheitsentfaltung von Institutionen abhängig"
Deutschlandradio Kultur: Geben Sie da als Verfassungsrechtler dieselbe Antwort wie als Mensch?
Udo di Fabio: Absolut, denn man kann Moral nicht jenseits von Wahrheit positionieren. Sie können nicht moralisch gut sein, wenn Sie die Realität nicht zur Kenntnis nehmen. Und zu diesen Realitäten gehört auch, dass ein Verfassungsstaat die Kontrolle über seine Bevölkerungszusammensetzung nicht aufgeben darf. Das entscheiden wir demokratisch. Das ist in Gesetzen festgelegt. Wir haben ein Aufenthaltsgesetz durch den Deutschen Bundestag verabschiedet. Wir haben europäische Verordnungen, wie die Dublin-Verordnung. Wir haben das Schengen-Übereinkommen. Das ist alles geltendes Recht. Und dieses Recht ist zum Teil dispensiert. Das ist beunruhigend, weil das auch ein Defizit an Demokratie ist. Und ich kann nicht mit einem menschlich verständlichen Hilfeimpuls das Recht zur Seite drängen.
Deutschlandradio Kultur: Trotz aller dieser Bedenken, die Sie jetzt schildern und trotz Ihres Titels "Schwankender Westen", haben Sie ja schon ziemlich deutlich gesagt, dass Sie eigentlich optimistisch in die Zukunft blicken. In fünf Jahren: Wie wird sich denn – so der Untertitel Ihres Buches – unser Gesellschaftsmodell neu erfunden haben?
Udo di Fabio: Ich glaube, wir können unser Gesellschaftsmodell nur neu erfinden, wenn wir die tieferen Grundlagen uns wieder ins Bewusstsein rufen. Wir reden heute alle darüber, auch die Bundeskanzlerin betont das ganz zu Recht, dass es um die Menschenwürde geht. Wer berechtigt in Deutschland ist, der wird den Schutz dieser Rechtsordnung finden. Das ist ein zentraler Gedanke. Aber es gibt eben auch andere Gedanken.
Wir sind in unserer Freiheitsentfaltung von Institutionen abhängig. Die müssen wir pflegen, so wie wir in der ökologischen Debatte erkannt haben: Man muss natürliche Lebensgrundlagen achten und pflegen. Es gibt auch gesellschaftliche Lebensgrundlagen, soziokulturelle Lebensgrundlagen. Es gibt institutionelle Voraussetzungen.
Wissen Sie, wenn in einem großen Konzern plötzlich das Recht gebrochen wird und manipuliert wird, dann ist vorher vielleicht auch etwas dort beschädigt worden. Nämlich das, was so altertümlich im Handelsgesetzbuch als "ehrbarer Kaufmann" steht. Ein ehrbarer Kaufmann tut so etwas nicht.
Und wenn man diese Kultur wieder findet, dann ist mir um die Zukunft des Westens nicht bange.
Deutschlandradio Kultur: Herr Di Fabio. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Udo di Fabio: Dankeschön.
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