Staatenbildung als Gewaltakt

Rezensiert von Ernst Piper · 20.05.2013
Dem Historiker Michael Schwartz zufolge sind Deportationen und die Vertreibung von Volksgruppen die dunkle Seite der Bildung der Nationalstaaten - bis heute. In seinem neuen Buch gelingt es ihm, diese These in einen weltweiten Kontext zu stellen.
Im Jahr 2007 waren weltweit 42 Millionen Menschen Opfer von Flucht oder Vertreibung. Angesichts der zahlreichen aktuellen Konflikte - man denke nur an den Bürgerkrieg in Syrien - ist die Zahl in der Zwischenzeit gewiss nicht kleiner geworden. 42 Millionen Menschen - aus ihrer angestammten Umgebung gerissen, ihrer Heimat beraubt, oftmals enteignet, Hals über Kopf geflohen oder brutal vertrieben.

Ethnische Säuberungen sind die Signatur der Moderne, sie sind, wie Michael Schwartz schreibt, die dunkle Seite der Demokratisierung und der Bildung der Nationalstaaten:

"Die Entstehung ethnisch homogener Staaten war keine natürliche und schon gar keine friedliche Entwicklung, sondern ein gewalttätiger und noch heute nicht abgeschlossener Prozess."

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Europa noch von multiethnischen Imperien dominiert, von denen drei - Großbritannien, Dänemark und Preußen - eine hoch entwickelte Nationalkultur hatten, während die anderen drei - das Habsburgerreich, das Osmanische Reich und das Zarenreich - einen ausgesprochen multikulturellen Charakter hatten.

Bevölkerungsverschiebungen im Ersten Weltkrieg
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland und Italien Nationalstaaten, die aber von ethnischer Homogenität noch weit entfernt waren. Den entscheidenden Dammbruch brachte dann der Erste Weltkrieg, wobei schon in den Jahren zuvor der Balkan ein "europäischer Lernort für ethnische Säuberungen" gewesen war.

"Das Konzept ethnischer Säuberung im intellektuellen Diskurs des Ersten Weltkrieges war kein Alleinbesitz einer Kriegspartei. Zwischen 1914 und 1919 eskalierte es vielmehr auf allen Seiten der Front. Es faszinierte Intellektuelle und Wissenschaftler, die eine Nachkriegszukunft mit 'sauber' getrennten Nationen zu organisieren gedachten und damit Frieden, zuweilen sogar Humanität zu gewährleisten hofften."

Im Ersten Weltkrieg kam es zu Bevölkerungsverschiebungen bis dahin unvorstellbaren Ausmaßes. Allein das zaristische Russland deportierte etwa 700.000 Volksdeutsche und bis zu einer Million Juden aus seinen westlichen Provinzen nach Osten. Das schlimmste Beispiel solcher Exzesse war sicherlich die Ermordung der Armenier durch die Türken.

Im Friedensvertrag von Versailles waren dann die vielen nationalen Minderheiten ein drängendes Problem, die durch die radikal veränderte politische Landkarte entstanden waren. Um sie zu schützen, wurde ein Regelwerk geschaffen, das Minderheiten beim Aufbau moderner Nationalstaaten völkerrechtlich schützen wollte. Dabei ging es ausdrücklich nicht nur um individuelle, sondern auch um kollektive Rechte, also das Recht auf die eigene kulturelle Tradition, Sprache und Religion.

Cover: "Ethnische Säuberungen in der Moderne" von Michael Schwartz
Cover: "Ethnische Säuberungen in der Moderne" von Michael Schwartz© Oldenbourg Verlag
Der Geist des Vertrags von Lausanne
Aber durchgesetzt hat sich im 20. Jahrhundert nicht das Konzept von Versailles, sondern der Geist des Vertrags von Lausanne. Nach dem griechisch-türkischen Krieg von 1922 wurde hier ein weitreichender Bevölkerungsaustausch vereinbart. Entscheidendes Kriterium für die nationale Zugehörigkeit und damit für die Umsiedlung war dabei das Religionsbekenntnis.

Etwa 1,2 Millionen Türken griechisch-orthodoxen Glaubens wurden nach Griechenland ausgewiesen und über eine halbe Million Griechen muslimischen Glaubens mussten in die Türkei auswandern. Die Umsiedlung brachte ungeheures Leid über die Menschen. Viele von ihnen starben während der brutalen Umsiedlungsmaßnahmen. Dennoch wurde der Vertrag von Lausanne zur Blaupause für unzählige weitere Versuche der ethnischen Entmischung.

Eine weitere Steigerung erfuhr das Konzept der ethnischen Säuberungen im Zweiten Weltkrieg, an dessen Ende aber keineswegs eine friedliche Welt stand:

"Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren ethnische Säuberungen nicht beendet. Zwischen 1944 und 1948 wurden allein in Ostmitteleuropa 31 Millionen Menschen Opfer weiterer Zwangsmigrationspolitik. Zugleich waren ethnische Säuberungen klein bloß europäisches Problem, vielmehr kam es gerade nach 1945 in verschiedenen Regionen der Welt zu einem globalen Transfer des europäischen Modells. Die Dynamik dieser Gewaltpolitik im Nachkrieg war so global wie der Zweite Weltkrieg."

Ethnische Säuberungen und Vertreibungen nach 1945
Ausführlich analysiert Michael Schwartz die beiden größten Einzelfälle ethnischer Säuberungen nach 1945, die jeweils viele Millionen Opfer betrafen: die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa und die Vertreibungen auf dem indischen Subkontinent, als 1947 aus der ehemaligen britischen Kolonie die Staaten Indien und Pakistan hervorgingen.

Der Historiker hat sich schon in früheren Veröffentlichungen als exzellenter Fachmann der europäischen Vertreibungsgeschichte profiliert. In seinem neuen Buch gelingt es ihm, das Thema Flucht und Vertreibung, dessen brennende Aktualität wir jeden Tag den Nachrichten entnehmen können, in einen weltweiten Kontext zu stellen, wie er bisher noch kaum dargeboten worden ist.

Wer die Gewaltdynamik der Moderne begreifen will, wird seine Studie mit großem Gewinn zur Hand nehmen.

Michael Schwartz: Ethnische Säuberungen in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20.Jahrhundert
Oldenbourg Verlag, München 2013
697 Seiten, 69,80 Euro