Sprungbrett auf den Markt

Von Wolfgang Martin Hamdorf · 14.11.2011
Derzeit findet das 60. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg statt, es ist nach der Berlinale das zweitälteste in Deutschland. Mit dem "Master of Cinema" wurde bereits der deutsche Regisseur Andreas Dresen ausgezeichnet. Insgesamt sind dort 39 Filme von Nachwuchs-Regisseuren zu sehen.
Filmausschnitt "Ruanda" von Kinyarwanda: "Kampfrufe"

Ein US-amerikanischer Film erzählt vom Völkermord in Ruanda, von den Massakern an der Tutsi Minderheit und von dem schwierigen Friedensprozess. Dabei stellt Kinyarwanda den Versöhnungsprozess in den Vordergrund und vermeidet die explizite Gewaltdarstellung. Hierin, so die US-amerikanische Hauptdarstellerin Cassandra Freeman, die universelle Botschaft der Geschichte aus dem fernen Afrika:

"Der Zuschauer muss sich die Frage stellen, wie er selbst damit umgehen würde. Besonders auch in den USA, da geht es doch immer um die Frage nach der Strafe, nach der Rache, wie lassen wir die anderen für ihre Verbrechen zahlen? Der Film zeigt dass Ruanda einen ganz anderen Weg geht, den der Versöhnung. Es ist sehr schwer, aber mit Strafe und Rache wäre man in 10000 Jahren noch nicht fertig. Es steckt auch etwas Gandhi mit drin: 'Wenn wir Auge um Auge vergelten, sind wir am Ende alle blind.'"

In anderen Nachwuchsfilmen verbindet sich die Katastrophe mit einem ganz besonderen Humor. So stürzt gleich zu Beginn des argentinischen Beitrags "Un Cuento Chino" (Chinese zum Mitnehmen) in China eine Kuh vom Himmel und tötet die Verlobte eines jungen Chinesen. Der verlässt seine Heimat und geht nach Argentinien, ohne ein Wort spanisch zu sprechen. Der Film erzählt in schwarzer Situationskomik von der Begegnung eines desorientierten jungen Chinesen mit einem mürrischen argentinischen Eigenbrötler und dann hat das Ganze auch noch etwas mit dem Trauma des Falkland Krieges zwischen Argentinien und Großbritannien 1982 zu tun. Für den chinesischen Hauptdarsteller Ignacio Huang treffen hier zwei Welten aufeinander:

"Es gibt so eine fernöstliche Philosophie, nach der wir alle Blätter sind, die vom Baum fallen in den Fluss hinein und dann werden wir irgendwohin geschwemmt und müssen das akzeptieren. Da ergänzen sich die beiden Charaktere, die argentinische Streitsucht und die asiatische Demut."

Auch die skurrile isländische Liebeskomödie "Oslo wird uns immer bleiben" lebt von den starken Unterschieden, hier zwanghaft ordentlicher Biedermann und eine spielsüchtige Bankangestellte. Während der siebenjährigen Entstehungszeit wurde die süßsaure Komödie von den tagespolitischen Ereignissen in Island überrollt, erzählt Regisseur Reynir Lyngdal:

"Mittendrin kam es dann zu dieser ganzen Bankenkrise und auf einmal wurde unser fertiges Drehbuch ganz brisant, als hätten wir es vorausgeahnt. Das spielt in den Film herein, wir haben diese Krise alle erlebt und das fördert auch den Humor und die Menschlichkeit des Films."

Viele Debütfilmer vermeiden die großen politischen und sozialen Fragen: So erzählt der israelische Wettbewerbsbeitrag "Bein Hashmashot" (Im Nebel der Dinge) vier ineinander verwobene Episoden um Familie, Vaterschaft und zerbrochene Illusionen ohne auf die großen Konflikte des Landes einzugehen, sagt Regisseur Alon Zingman:

"Der Konflikt mit den Arabern, der Holocaust oder der Einfluss religiöser Gruppen, das sind zentrale Themen des israelischen Films. Ich habe sie außen vor gelassen, denn ich glaube es ist schon sehr viel dazu gesagt worden. Ich wollte vom Alltag vom ganz normalen Leben erzählen."

In dieser bewussten Alltäglichkeit und über die psychologischen Sackgassen seiner Protagonisten vermittelt der Film aber viel von der Depression der israelischen Mittelschicht und ist bisher der stilistisch und inhaltlich am besten gelungene Film des Wettbewerbs.

Ein besonderer Schwerpunkt ist dieses Jahr aber auch die Erinnerung an 60 Jahre Festivalgeschichte. Nicht nur für Rainer Werner Fassbinder, auch für Jean Marie Straub, Alexander Kluge und andere "enfant terribles" des Films war Mannheim Diskussionsforum und Sprungbrett auf den internationalen Markt.

Die Geschichte des Festivals in Mannheim spiegelt auch die Entwicklung der Branche und des Autorenfilms wider resümiert Michael Koetz, der das Festival seit fast 20 Jahren leitet. Aus dem netten Tante Emma Laden der Nachkriegsfilmlandschaft habe sich die Filmbranche längst zu einer knallharten Supermarktskette entwickelt:

"Wenn das industrielle Umfeld auf Perfektion und Beschleunigung aus ist, wird es immer schwerer für den Einzelnen unverschämt zu sein. Jean Marie Straub konnte unverschämt sein, es gab immer noch Leute, die gesagt haben, das finanziere ich trotzdem. Wenn einer heute zweimal hintereinander unverschämt ist, gibt's viel zu viele Produzenten und Geldgeber, Fernsehredakteure und sonst welche die sagen, "also komm, lass uns doch den Scheiß nicht machen, da nehmen wir den Maier oder den Schulze, der ist doch viel bequemer."

Im direkten Vergleich wirken die Provokationen der Vergangenheit erfrischend, denn viele der neuen Nachwuchsfilme in Wettbewerb und Internationalen Entdeckungen sind stilistisch konventionell, wenig risikobereit. Ein wenig mehr kreative Unverschämtheit wäre wünschenswert.

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