Sprechtheater

Einblicke in eine französisch-belgische Opern-Familie

Von Frieder Reininghaus · 30.03.2014
Es ist ein imposantes Stück auf dem Feld des Neuen, mit dem die Oper in Brüssel gerne experimentiert. Regisseur Joël Pommerat kam dem älteren belgischen Publikum entgegen, in dem er sie keinen Irritationen aussetzte.
Die Nationalopern unserer kleineren Nachbarstaaten kümmern sich (anders als die großen Staatsopern im deutschsprachigen Raum) durchaus um "Nachwuchs", das heißt sie geben in nicht allzu großen Abständen Kompositionen gerade auch großformatiger Werke in Auftrag.
Die Oper in Brüssel hat auf dem Feld des Neuen in den letzten zehn Jahres einiges vorzuweisen. 2005 z.B. "Julie" von Philippe Boesmans und Luc Bondy (nach Strindberg), 2007 Benoîts Merniers "Frühlings Erwachen" (nach Wedekind), 2009 Kris Defoorts "House of the Sleeping Beauties”, 2011 Toshio Hosokawas "Matsukaze" (mit Sasha Waltz) und im vergangenen Jahr Merniers Marivaux-Adaption "La Dispute". Nun war wieder der vielfach bewährte belgische Komponist Boesmans an der Reihe, der ein zu Beginn des Jahres uraufgeführtes Sprechtheaterstück des französischen Schauspielers Joël Pommerat mit Musik versah.
Spuren der Destruktion
Die Handlung von "Au Monde" spielt im nach außen streng abgeschirmten Haus eines Metallwarenfabrikanten. Der hat es vor allem mit Waffengeschäften zu einem Vermögen gebracht. Bei der Premiere verlieh der gesundheitlich angeschlagene Frode Olsen dem von den Stürmen des Lebens gegerbten Firmen- und Familien-Repräsentanten imposantes Format. Der Terminplan des Alten ist Gesetz. Doch die fortschreitende Alzheimer-Erkrankung hinterlässt - bei allen in der Familie eingeübten Schonungsmechanismen - Spuren der Destruktion.
In einem kaum möblierten schwarzen Raum zeigt der Librettist Pommerat, der auch Regisseur seines Stücks ist, eine Familienanamnese. Zunächst steht nur ein langer dunkler Tisch mit weißer Decke und höchstens drei schwarzen Stühlen bereit (zu wenige, um allen am Tisch des Reiches einen Platz zu gewähren). Die weitgehende Leere sorgt für Konzentration auf das Beziehungsgeflecht der Familienmitglieder – zuvorderst der drei Schwestern. Für die Mittlere, ein alert-kommunikatives (d.h. dauernd plapperndes) TV-Sternchen, komponierte Boesmans den Löwinnenpart. Patricia Petitbon nutzt mit überragendem Sopran die Gunst der zwei (pausenlosen) Musikstunden zu großer Selbstdarstellung. Die kleinste der Schwestern fühlt sich fortdauernd ungeliebt. Und sie ist es auch. Da hilft auch gutes Zureden nicht (womöglich lauert im Hintergrund ein Inzest-Problem, doch bleiben Text und Regie an diesem Punkt diskret). Die Älteste, deren Mann neben dem älteren Bruder in der Warteschleife für die Nachfolge an der Konzernspitze hängt, weiß nicht, von wem das Kind stammt, das sie erwartet.
Konflikte spitzen sich zu
In das bleierne Schwarzgrau der Familie platzt die Rückkehr des zweiten Sohnes: Der hoch begabte, introvertierte, schwermütigen Ori scheint vor dem Alten geflohen zu sein und hat beim Militär Karriere gemacht. Die aber beendet er jetzt nach einem Asien-Einsatz abrupt, ohne die Gründe auch nur anzudeuten (vielleicht sind sie gesundheitlicher Art). Dramatisch spitzen sich die Konflikte zu, als der eigenwillige Vater dem Außenseiter anbietet, sein Nachfolger zu werden. Aber irgend etwas muss es in seiner Vergangenheit gegeben haben, was ihn zögern lässt, das Angebot anzunehmen: Eine Rückblende (oder ist es ein Traum der kleinsten Schwester?) zeigt, wie er eine Unbekannte umschlingt und erwürgt. Stéphane Degout gibt, den weiten Stimm-Ambitus nutzend, die vatergeschädigte Figur, als wäre er ein legendärer Prinz von Dänemark, als der er in dieser Saison in Brüssel auch noch zu hören und zu sehen ist.
Vom guten alten Schlag
Patrick Davin hat der Einstudierung der siebten Oper von Philippe Boesmans alle erdenkliche Aufmerksamkeit zukommen lassen. Der exemplarisch postmoderne Tonsatz, weithin auf tonalen Grundlagen frei hinausschweifend, weist ausführliche Passagen schöner Melodie auf und reichlich Aroma des späten 19. Jahrhunderts, aber auch die eine oder andere Errungenschaft der Moderne. Boesmans bedient sich auch der Überschreibung von Satzelementen des frühen 18. Jahrhunderts. Er erschafft eine Theatermusik, die gerade in Bezug auf die in "Au Monde" verhandelten Figuren authentisch wirkt. Vollends die ausladenden Zwischenspiele wirken wie Filmmusik vom guten alten Schlag, die einzelne Gedanken und Motive nachhallen lässt, dann einen Vorschein aufs Kommende entwickelt.
Joël Pommerat hat an Tschechows "Drei Schwestern" Maß genommen und ist mit Interesse für das Seelische ans Werk gegangen. Seine Familiensaga, die mühelos den Stoff für einen TV-Zwölfteiler abgeben könnte, befleißigt sich einer Disziplin der Konzentration auf klare holzschnittartige Figurenzeichnung bei gleichzeitiger Unschärfe des Blicks in die Abgründe. So kommt er einem vom Vorabendfernsehen gebildeten älteren belgischen Publikum in besonderer Weise entgegen, das keinen ernsthaften Irritationen ausgesetzt wird. Unterm Aspekt der vom Théâtre de la Monnaie angekündigten Beleuchtung einer "dunklen Militärvergangenheit" des schlapp gewordenen Helden Ori hätte ein Seitenblick z.B. auf die Gewaltausübung im Kongo das große Einvernehmen, auf das auch dieses Gesellschaftskammerspiel zielt, womöglich getrübt.
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