Sprachspiel und Liebespiel

02.08.2011
Paris im Jahrhundertsommer: Zwei Ehepaare und zwei Liebhaber, alle um die vierzig, gut situiert, kultiviert. Schnell entflammen die Herzen der zwei Ehefrauen für Yves, den Schriftsteller und Thomas, den Analytiker. Die beiden müssen sich entscheiden, jede auf ihre Weise.
Zwei Frauen, eine Versuchsanordnung: Anna und Louise sind fast 40, verheiratet mit sympathischen Männern, haben je zwei süße Kinder, arbeiten in interessanten Berufen - Kinderpsychiaterin und Rechtsanwältin - und haben keine finanziellen Sorgen.

Der französische Autor Hervé Le Tellier, der der sprachexperimentellen Autorengruppe OuLiPo angehört, schubst seine beiden Protagonistinnen gleichzeitig in neue Situationen: Kurz nach dem Jahrhundertsommer fängt Anna etwas mit dem Schriftsteller Yves an (ein selbstironisches Selbstporträt des Autors), Louise mit dem Psychoanalytiker Thomas – beides Männer der Sprache also, was natürlich kein Zufall ist. Denn um das Sprechen über die Liebe geht es in Le Telliers erstem auf Deutsch erschienenen Roman, was der Titel "Kein Wort mehr über Liebe" ironisiert.

Beide Frauen stehen irgendwann vor der Entscheidung, neu anzufangen oder zu ihren Ehemännern zurückzukehren. Beide machen es sich nicht leicht, denn sie haben viel zu verlieren. Und natürlich lässt Hervé Le Tellier die Versuche an seinen Protagonistinnen unterschiedlich ausgehen, sonst wäre es ja langweilig: Louise entscheidet sich für das neue Glück, Anna bleibt bei ihrem Mann.

Le Tellier liefert die Gründe in der einzigen Szene, in der die beiden aufeinander treffen: in einer Boutique, wo Anna sich nicht entscheiden kann und Louise das von Anna entdeckte Kleid kauft: Louise ist die selbstbewusstere und -bestimmtere der beiden, Anna die Zweifelnde, das Luxusweibchen, das vielleicht auch nicht die richtigen Prioritäten setzt. Über Anna schreibt Le Tellier: "Sie lebt bereits in der Trauer dessen, was einmal war, und in dem Schrecken vor dem, was erst noch kommen wird." Insgesamt aber quälen die Liebe und ihre Leiden die Figuren wenig; sie wirken lebenserfahren, selbstsicher und bleiben erstaunlich kultiviert.

Die Autoren der Gruppe OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle), der auch Raymond Queneau und Georges Perec angehörten, stellen sich selbst die Aufgabe, ihre Büchern nach strengen Konstruktionsprinzipien zu bauen, die die Lektüre allerdings nicht behindern dürfen. Der 1957 in Paris geborene Hervé Le Tellier legt seinem Roman das abchasische Domino zu Grunde - so soll auch ein Buch heißen, an dem der Schriftsteller Yves arbeitet -, bei dem "jeder Stein aus einer Kette wieder herausgenommen und erneut gespielt werden" kann. Nach den Regeln dieses Domino-Spiels lässt Le Tellier seine Figuren in kurzen Kapiteln und allen denkbaren Zweier-Konstellationen aufeinander treffen.

Damit noch nicht genug der formalen Spiele: Hervé Le Tellier wählt für die einzelnen Kapitel auch ganz unterschiedliche Formen – Yves schenkt Anna einen Roman zum Geburtstag, und der wird als Roman im Roman abgedruckt; Louise schreibt ihrem Mann einen Brief; die Todesanzeigen für Yves' und Thomas' Väter sind abgedruckt, genau wie eine E-Mail, in der Louise' Mann sich in die USA bewirbt; in einer Fußnote erzählt Le Tellier einen jüdischen Witz.

Außerdem ist "Kein Wort mehr über Liebe" voller Wortspiele und Doppeldeutigkeiten, gemäß der Überzeugung des Psychoanalytikers Thomas: "Lange Jahre der Praxis haben ihn von der zentralen Bedeutung der Sprache überzeugt, aber er misstraut allzu wörtlichen Interpretationen." Gerade an der Übersetzung dieser Feinheiten lässt sich erkennen, wie klug und gewandt Jürgen und Romy Ritte den Roman ins Deutsche übertragen haben.

Ist es nun ein Buch über Liebe oder ein Buch über Sprache? Es ist ein erwachsenes, humorvolles und spielerisches Buch über die Liebe. Und Le Telliers hohe formale Ansprüche beleben den leichten Tonfall erstaunlicherweise noch.

Besprochen von Dina Netz

Hervé Le Tellier: Kein Wort mehr über Liebe
Roman
Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte
DTV, München 2011
280 Seiten, 14,90 Euro