Sportphilosoph

"Wir Deutschen sollten die WM in Katar boykottieren"

07.06.2014
Der Philosoph Gunter Gebauer hat sich nach den Bestechungsvorwürfen für einen Widerstand gegen die 2022 in Katar geplante Fußball-WM ausgesprochen. Dazu brauche es eine Allianz aus Sportfunktionären, Journalisten und Künstlern, so Gebauer.
Deutschlandradio Kultur: Ab kommender Woche wird uns regelmäßig "Fuleco" über den Weg laufen – ein gelbes Gürteltier mit blauem Panzer. "Fuleco" ist das Maskottchen der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien und hat schon einiges erreicht. Was, dazu gleich mehr hier bei Tacheles mit Andre Zantow und unserem Gast Gunter Gebauer. Sportphilosoph ist gemeinhin Ihr Titel. Was verstehen Sie darunter?
Gunter Gebauer: Ich selber nenne mich überhaupt nicht Sportphilosoph. Das hat sich in den Medien so eingebürgert. Ich bin ganz normaler Philosophieprofessor an der Freien Universität Berlin. Aber ich habe mich seit meiner Jugend, muss ich sagen, auch reflexiv mit dem Sport beschäftigt. Das heißt, ich habe selber Sport getrieben. Das war mir aber nicht genug. Ich wollte auch darüber nachdenken. Schließlich bin ich Philosoph geworden und hab dann in meiner Universitätsgeschichte relativ früh einen Philosophen kennengelernt, Hans Lenk, der selber Olympiasieger im Rudern war 1960. Und wir haben zusammen dann philosophisch über Sport nachgedacht. Das ist sozusagen meine sportphilosophische Wurzel.
Deutschlandradio Kultur: Und das tun Sie jetzt, Herr Gebauer, an der Freien Universität Berlin. Dort kümmern Sie sich unter anderem um "die Aufführung der Gesellschaft in Spielen". Welche Aufführung der brasilianischen Gesellschaft erwartet uns denn ab kommender Woche? - Sie waren kürzlich dort.
Gunter Gebauer: Man erwartet eigentlich von der brasilianischen Mannschaft, dass sie einen besonders schönen Fußball spielt, dass sie inspiriert ist, einfallsreich, dass sie sozusagen die Samba-Gefühle des brasilianischen Volkes, ich rede jetzt mal in Begriffen, die sonst durch die Presse geistern, auf dem Rasen zelebrieren, Tore schießen, die besonders artistisch sind und ähnliches.
Ich erwarte das aber von der brasilianischen Mannschaft nicht. Die Mannschaft ist bis jetzt noch nicht richtig konstituiert. Die Spieler spielen überall in der Welt. Es sind sehr gute Spieler dabei, aber der Couch Scolari muss es erst mal verstehen, daraus eine Mannschaft zu formen. Also bin ich etwas skeptisch – wie die meisten Brasilianer, die ich gesprochen habe.
Deutschlandradio Kultur: In Brasilien heißt das Maskottchen der WM "Fuleco" – ein brasilianisches Gürteltier, mit ausgewählt von der FIFA-Marketing-Abteilung, um darauf aufmerksam zu machen, dass diese Tiere in Brasilien vom Aussterben bedroht sind. Und siehe da, es gab eine Debatte und die Regierung sah sich dann genötigt, einen Fünf-Jahres-Plan zum Schutz Tiere aufzustellen. Welche weiteren positiven Folgen durch die WM haben Sie denn in Brasilien beobachtet?
Gunter Gebauer: Ja, ob das nun positive Folgen geben wird, das werden wir noch sehen. In Brasilien wird sehr viel versprochen, vor allen Dingen, was Naturschutz angeht. Wir sehen ja, was mit den Regenwäldern passiert. Wir sehen auch, dass die Brasilianer ganz scharfe Umweltauflagen haben, die aber bei geeigneter Gelegenheit ganz einfach missachtet werden. Also, das sieht auf dem Papier immer viel besser aus als in Wirklichkeit.
Brasilien hat im Augenblick enorme Probleme, die nicht vorhersehbar waren, jedenfalls nicht für den Laien und offenbar auch nicht für die Regierung und die Bevölkerung. Als Brasilien den Zuschlag erhielt, das war zu einer Zeit, als die Wirtschaft scharf im Aufwind war und Brasilien wirklich aufstieg zu einer der großen Wirtschaftsnationen – Nummer sieben in der Welt mit einer Bevölkerung von 200 Millionen Einwohnern und großen Bodenschätzen und so weiter. Das sah also ganz toll aus.
Jetzt hat sich aber herausgestellt, dass dieser Aufschwung nicht nur beendet ist, sondern es gibt eine Regression. Es sind ungefähr 20 bis 40 Millionen Brasilianer aus der Armut in den Mittelstand gehoben worden, wobei wir uns verständigen müssen, was das heißt. Das heißt, die haben ein Monatseinkommen von circa 400 Euro. Das ist alles noch ganz, ganz bescheiden. Im Gegenzug sind die Preise angezogen. Und was schrecklich ist für die Brasilianer, die Wohnungen sind teuer geworden. Es hat sich dann die Infrastruktur nicht in dem Sinne entwickelt, wie man es wollte. Das heißt also, Transporte sind entsetzlich. São Paulo ist eine 20-Millionen-Metropole, in der man sich praktisch gar nicht bewegen kann. Denn wenn man von einem Punkt zum anderen kommen will, nimmt man entweder, wenn man sehr reich ist, einen Hubschrauber und dann fliegt man von Dach zu Dach. Oder man nimmt ein Taxi und ist es ungewiss, wann man ankommt.
Meine Gesprächspartner waren zum Beispiel jüngere Leute von der Universität, promovierte Assistenten, die morgens um vier Uhr aufstehen, um ihr Kind zu Mutter oder Schwiegermutter zu bringen, weil, Krippen gibt es auch nicht, Frau arbeitet. Manchmal steht eben die Frau auch ganz früh auf. Dann machen sie sich auf den Weg an die Universität. Das dauert zweieinhalb Stunden. Da leisten sie ihre Arbeit, fahren dann abends um sechs zweieinhalb Stunden zurück – und das Kind muss noch abgeholt werden. Also, die Schlafzeit von solchen Leuten beträgt dann, wenn es mal hoch kommt, vier Stunden.
Deutschlandradio Kultur: Werden diese Leute aus dem Mittelstand, die Sie getroffen haben, während der WM auf die Straße gehen?
Es wird "eine ganze Menge Unruhe" geben
Gunter Gebauer: Ich nehme an, es gibt eine ganze Menge Unruhe, auch Manifestationen. Das hat ja auch schon angefangen. Es gab den großen Tag der Demonstrationen genau einen Monat vor Beginn der Spiele. Da war ein Riesenpolizeiangebot in São Paulo. Es gab auch eine Präsenz eben der Militärpolizei. Die ist sehr furchterregend. Da hat man das Gefühl, gleich geht ein Bürgerkrieg los. Dadurch lassen sich die Demonstranten nicht bremsen. Das sind Demonstrationen, die von Gewerkschaftsführern getragen werden. Dann sind auf der Straße Lehrer, Studenten, Professoren. Es sind Arbeiter auf der Straße, kleine Angestellte, denen jetzt praktisch das Wasser bis zum Hals steht und die sehen, dass das Land die letzten Jahre mit einer maßlosen Verschwendung zugebracht hat, die einem den Atem verschlägt, wenn man sich das aus der Nähe anguckt.
Ich war in einer Stadt, die die Provinzhauptstadt von Serra ist. Das ist ein nordöstlicher Bundesstaat, sehr arm. Die Universität hat kein Geld mehr. Die Studenten waren auf der Straße, weil sie sich nicht auf ihre Prüfung vorbereiten konnten. Es gab keinen Raum in der Universität. Die Universität hat erwidert, wir haben kein Geld mehr. Das Geld ist zum großen Teil geflossen in den Ausbau eines nagelneuen wunderbaren Stadions und einer Allee, die da hinführt, und in den Bau eines neuen Flughafens. Damit ist das Geld weg.
Deutschlandradio Kultur: Die Infrastrukturprojekte, die Sie jetzt angesprochen haben, sind auch teilweise Vorgaben der FIFA. Herr Gebauer, Sie haben im Frühjahr über Sotschi gesagt, Olympia sei jetzt in den Händen von Barbaren. – In welchen Händen sehen sie denn den Weltfußball?
Gunter Gebauer: Barbaren waren natürlich ein starker Ausdruck. Ich würde sagen, es sind Leute, die auftreten als imperialistische Kapitalisten. Ich glaube, so hart muss man das formulieren. Die FIFA hat das Land fest im Griff, also, das Land, in dem Fall die Regierung. Und die führen dann Kreise, in denen sie bestimmte Forderungen erheben, die ihnen aber auch dann geradezu von den Lippen abgelesen werden.
Es gibt immer zwei Seiten. Es ist einmal die FIFA, die ja nicht demokratisch konstituiert ist. Die FIFA besteht aus etwa 200 Mitgliedsverbänden. Jeder Verband darf einen Delegierten entsenden. Nun kann man sich vorstellen, dass von 200 Ländern mindestens 80, 90 dabei sind, die weit entfernt sind von Demokratie. Und die Delegierten sind alles andere als demokratisch gewählt und legitimiert. Da sind viele Schwiegersöhne von Staatschefs und Cousins und Söhne und Ähnliches drin, die also gar keinen Wunsch haben, irgendetwas zu verändern.
Sepp Blatter hat es fertig gebracht, die FIFA überall, wo Weltmeisterschaften stattfinden, steuerfrei unterzubringen. Das ist auch in Deutschland so passiert mit Zustimmung des deutschen Finanzministers, dass sie steuerfreie Einnahmen haben. Das waren nun beträchtliche Einnahmen, die bewegen sich immer im Milliardenbereich, auch die Einnahmen aus dem Ticketverkauf. Im Gegenzug werden dann Forderungen erhoben nach Stadionausbau.
Jetzt kommt aber hinzu, dass in Brasilien die Regierung offenbar zeigen wollte, und zwar der ganzen Welt, wie ökonomisch potent Brasilien geworden ist, und hat statt acht oder neun Stadien, die gefordert waren, zwölf ausgebaut – und das teilweise in Regionen wie eben Fortaleza oder Manaus mitten im tropischen Regenwald, wo zwar Fußball gespielt wird, aber auf einem Niveau, das auf gar keinen Fall große Stadien füllen kann.
Deutschlandradio Kultur: Wesentlicher Profiteur der WM, das haben Sie angesprochen, ist die FIFA. Nun gibt es allerdings auch wieder Bestechungsvorwürfe in Bezug auf die WM in Katar 2022. Die britische Zeitung "Sunday Times" hatte berichtet, dass Mohamed Bin Hammam – damals im FIFA-Exekutivausschuss – insgesamt fünf Millionen Dollar Bestechungsgelder an einzelne Fußball-Verbände gezahlt hat, damit die wiederum für sein Heimatland Katar stimmen. Aus Katar wird dieser Vorwurf zurück gewiesen. Solche Bestechungsvorwürfe häufen sich in den vergangenen Jahren. – Wie stellt sich für Sie der Wandel dar im öffentlichen Bild der FIFA?
Gunter Gebauer: Die FIFA war ja nie ein Verein von Chorknaben, sondern ist seit den 70er-Jahren spätestens, vielleicht schon früher, aufgetreten als ein Verband, der sich sonnt in dem Erfolg, den Fußball weltweit hat. Dafür kann die FIFA relativ wenig.
Die Weltmeisterschaften werden immer an Regionen vergeben, in denen die FIFA ganz besonders gut abgreifen kann, in denen auch große Bereitschaft herrscht, der FIFA so viel wie möglich zu überlassen. Sie wurde lange Zeit geführt von einem brasilianischen Präsidenten, João Havelange, der heute als Ehrenmitglied der FIFA, ehemaliges muss man sagen, ausgeschlossen worden ist aus dem Verband, von dem so viel Bestechungsvorwürfe konkretisiert worden sind, dass man sozusagen seinen Namen aus allen Ehrentafeln entfernt hat. Sein Nachfolger war natürlich ein Familienmitglied, sein Schwager nämlich, Ricardo Teixeira. Er lebt heute in Miami als Steuerflüchtling mit einer Steuerschuld im zweistelligen Millionenbereich.
Also, die FIFA hat eine ehrenvolle Tradition einer mafiösen Vereinigung. Das darf man, glaube ich, sagen. Das sagen auch sehr ehrenwerte Zeitungen aus der Schweiz, in der die FIFA in Zürich beheimatet ist. Die Schweizer sind sehr unglücklich darüber, dass sie diese Verbände, dazu gehört noch das IOC, auf dem eigenen Boden beheimaten. Sie leben auch in der Schweiz steuerfrei und sie sind auch keinen Steuerprüfungen unterworfen, wie normalerweise uneigennützige Verbände. Sie residieren auch dort und erfreuen sich bester Beziehungen in die höchsten Kreise. Allerdings hat die Schweiz ja auch eine Opposition. Diese Opposition ist zum Beispiel in Brasilien eigentlich nicht richtig zu hören.
"Die FIFA hat die Tradition einer mafiösen Vereinigung"
Deutschlandradio Kultur: Es könnte auch eine Opposition der Zuschauer geben, also der Konsumenten, von uns, aber die gibt es eigentlich nicht. Wenn wir auf die Verantwortung von uns als Konsumenten blicken, tragen wir dann mit unseren Einschaltquoten auch eine Mitschuld an zum Beispiel den Sklaverei-ähnlichen Arbeitsbedingungen auf den Baustellen in Katar?
Gunter Gebauer: Nun hat die WM in Katar ja noch nicht stattgefunden. Wenn ich jetzt Fußball im Fernsehen sehe, weigere ich mich, Katar in irgendeiner Weise mit in mein moralisches Weltbild aufzunehmen.
Deutschlandradio Kultur: Aber es sind jetzt schon auf den Baustellen Menschen gestorben und die Stadien werden gebaut, damit wir später dort Fußball gucken können.
Gunter Gebauer: Ja. Ich denke, das Vernünftige ist in dieser Situation, sich energisch dagegen auszusprechen, dass die WM in Katar stattfindet. Also, ich selber kann von mir sagen, dass ich mich bemühe, eine Allianz herbeizuführen mit Sportjournalisten, Schriftstellern, Regisseuren und Schauspielern, die gemeinsam mit Leuten, die im Fußball Verantwortung haben und auf jeden Fall auch die höchsten Verantwortlichen des deutschen Fußballs erreichen, dazu zu bewegen, dass wenigstens Deutschland, falls die WM tatsächlich stattfinden sollte, rechtzeitig vorher – nicht ein Jahr vorher, sondern Jahre vorher – ankündigt, dass wir Deutschen Fußballer die WM boykottieren.
Ich denke, das ist ganz legitim. Ich habe das auch schon in einer Kolumne dargelegt. Ich habe bei ZEIT ONLINE eine Kolumne, die von Zeit zu Zeit stattfindet mit einer öffentlichen Diskussion. Und da hatte ich Theo Zwanziger eingeladen, der von diesem Gedanken durchaus angetan war. Nun muss man sagen, Theo Zwanziger gehört aber auch zu denen, die sich nicht gegen die Wahl von Katar gestemmt haben. Er selber gehört zur Exekutive der FIFA, sitzt also an hoher Stelle. Jetzt spricht er davon, dass er auf gar keinen Fall solche Dinge mitmachen möchte wie WM in Katar, falls herauskommt, dass da irgendwelche Bestechungsgelder geflossen sind. Wir werden sehen, ob unsere Verantwortlichen diese Standfestigkeit haben. Von DFB-Präsident Niersbach habe ich da noch nichts gehört. Da bin ich auch ein bisschen skeptisch.
Also, ich denke mal, der DFB ist so mächtig und andererseits hört er ja auch auf das, was in der deutschen Presse verhandelt wird, und auch auf die deutschen Fußballfreunde, wenn die sich organisieren, und das ist ja eigentlich mein Ziel, dass man so etwas erreichen kann, sodass eventuell von Deutschland aus, vom DFB aus eine Bewegung losgehen kann – zusammen mit anderen Landesverbänden, da gibt es auch noch andere, die sehr, sehr skeptisch sind, so dass zumindest von europäischen Verbänden her ein Boykott von Katar, falls das jemals stattfinden sollte, in die Wege geleitet wird.
Ich glaube, das könnte eine sehr mächtige Sache sein. Man kann nicht einfach zum Beispiel alle europäischen Fußballverbände aus der Weltmeisterschaft ausschließen oder womöglich aus der FIFA ausschließen. Das würde zu einer Spaltung der FIFA führen. Das weiß auch Herr Blatter zum Beispiel.
Deutschlandradio Kultur: Nun ist Deutschland aber ein Verband unter mehr als 200 in der FIFA. Welche Erfolgsaussichten könnte das haben, wenn Sie auch nur den deutschen Verband überzeugen können?
Gunter Gebauer: Ich glaube, große Erfolgsaussichten, denn von den 200 können Sie gleich 150 weitgehend vergessen. Das sind dann Verbände, die vielleicht einen Sonnenstrand haben oder bei denen ein paar Mitglieder der Präsidentenfamilie kicken, die aber als vollgültiger Verband zugelassen sind, damit sie auch einen Delegierten schicken können. Ich meine, Blatter hat mit dieser Politik einer Zulassung und dieser Vertretung jedes einzelnen Mitgliedsverbandes mit einer Person ja seine Macht gesichert. Blatter ist schon seit langer Zeit Präsident der FIFA. Er strebt eine weitere Amtszeit an im Alter von jetzt 78. Das ist ja schon gar nicht so schlecht. Da muss man sagen, manche Päpste treten da ja schon zurück, weil sie finden, ihnen entgleiten die Dinge im eigenen Hause. – Soweit ist es ja nicht bei Blatter.
Dann würde möglicherweise sein Konkurrent zur Verfügung stehen. Das ist Michel Platini. Aber ich glaube, ihm würden dann auch die Felle wegschwimmen, wenn er merken würde, in Europa hat er ganz starken Gegenwind. Es will da keiner mehr mitspielen. Ich glaube, der DFB hätte eine echte Chance, dort aufzutreten. – Aber dafür braucht man politische Willensbildung. Ich denke, das ist der bessere Weg, als wenn ich jetzt zum Beispiel nicht mehr die Sportschau sehe.
Deutschlandradio Kultur: Fußballgucken ist offensichtlich nicht mehr ganz so einfach wie früher. Mehr und mehr ist es auch politisch. Wenn wir jetzt auf den Montag blicken, dann ist ein FIFA-Kongress in São Paulo. Da wird zum Beispiel auch über den Nahost-Konflikt gesprochen, weil israelische Soldaten zwei palästinensischen Nachwuchsfußballern an einem Checkpoint in die Beine geschossen haben und die nun möglicherweise nie mehr spielen können. Deshalb will der palästinensische Verband einen Antrag stellen, damit die FIFA Israel rauswirft. Das wird keinen Erfolg haben, hat nun schon FIFA-Präsident Blatter gesagt mit der Begründung: "Ich trenne Politik und Sport." Geht das überhaupt, Sport und Politik trennen? – Losgelöst von dieser Geschichte eben.
"Brasilien ist ein Land mit unglaublichen Gegensätzen"
Gunter Gebauer: Diese Begründung von Blatter ist natürlich Quatsch, weil, er ist selber einer derjenigen, die massiv Politik betreiben und gerade Fußball einsetzen, um als Politiker, jetzt aber nicht als gewählter Repräsentant eines Landes, sondern als Potentat eines ganz mächtigen Sportverbandes aufzutreten. Das ist natürlich politisch bis in die Fußspitze, kann man vielleicht sagen. Dass jetzt Palästinenser und Israelis auch wiederum Konflikte nutzen und die Weltmeisterschaft zum Anlass nehmen, um jetzt ihre gegenseitigen Vorwürfe zu konkretisieren, um dem Gegner möglichst viel zu schaden, das wundert mich nicht. Das passiert ja dauernd.
Das Entscheidende ist ja, dass in Brasilien selbst, wenn wir jetzt mal uns fokussieren auf das Ereignis, genügend Probleme da sind, die zeigen, dass Fußball tatsächlich ein Land an den Rand seiner Harmonie beziehungsweise seines Zusammenlebens bringt. Diese Harmonie – friedlich war es ja nie in Brasilien, aber sagen wir mal, dieses oberflächlich friedliche Zusammenleben mit allerdings jährlich zigtausend Toten, hat ja immer so den Fußball benutzt, um die große Decke der Verständigung über sämtliche Schichten in dem Land zu ziehen. Das heißt, man konnte immer so tun, als sei der Fußball der große Harmonisierer in dem Land. So wurde es ja auch dargestellt – Samba, Sonne, Copacabana und so weiter – Das ist aber nicht Brasilien.
Brasilien ist ein Land mit unglaublichen Gegensätzen. Gerade weil jetzt die untere Mittelschicht angefangen hat, auch so etwas wie einen ganz geringen kleinen Wohlstand zu haben, verlangen sie natürlich jetzt mehr. Aber sie bekommen nicht mehr. Das ganze Gesundheits-, Bildungs- und Transportsystem ist so ausgerichtet, dass es für die oberen sozialen Schichten da ist. Nun muss man auch noch sagen, die sind weiß.
Es ist ein untergründiger, aber ganz stark zu merkender Rassismus in Brasilien am Werke, dass die oberen sozialen Schichten ihre Vorteile behalten, sie haben natürlich auch Angst, dass sie jetzt einige Privilegien verlieren, und die unteren wollen zum Beispiel ihre Kinder an die Universitäten schicken. Das schaffen aber ihre Kinder nicht, weil die nicht genügend Vorbildung haben. Sie waren auf öffentlichen Schulen. Die taugen nichts in Brasilien. Das geht nur auf Privatschulen. Die Universitäten sind dann aber gratis. Und die Reichen schicken ihre Kinder auf Privatschulen. Da werden sie gut ausgebildet. Dann schaffen sie die Prüfung auf die Universitäten, die gut sind in Brasilien. Und dann haben sie gratis Universitätslaufbahn, Unterricht, Doktortitel, Stipendien und so weiter – Also, es ist ein ganz merkwürdiges System der Ungleichheit.
Deutschlandradio Kultur: Gunter Gebauer, als Professor an der Freien Universität Berlin am Institut für Philosophie befassen Sie sich zwangsweise auch mit der Logik, einem Kerngebiet der Philosophie. Ist es logisch, dass wir trotz der angesprochenen Missstände alle ab dem 12. Juni vor dem Fernseher sitzen?
Gunter Gebauer: Also, von Logik kann man da ja wohl nicht reden. Das ist jetzt ein großes Interesse, was wir alle haben, an Leidenschaft. Wir können uns vielleicht sagen, das, was auch ein namhafter der deutschen Wissenschaft und Kultur in São Paulo bei einer Diskussionsveranstaltung, an der ich beteiligt war, gesagt hat, Herr Müller, ein großer Kulturvermittler in Brasilien, anlässlich des Spiegeltitels mit dem brennenden Fußball, der auf den Zuckerhut zu flog, was der deutschen Diplomatie und Kulturvermittlung ein enormes Problem machte, weil die Brasilianer äußerst verschnupft darauf reagierten, dass von Deutschland aus so etwas dargestellt wird. Herr Müller sagte: "Wir können es aber auch so sehen, die Brasilianer haben hier eine Chance mal zu erkennen, wo sie stehen."
Brasilien ist jetzt kein Land, das mit großer Selbsterkenntnis protzen kann. Es gibt immer nur aufflackernde Konflikte. Es gibt keine permanente Konfliktbewältigung. Es ist ein Land, das sich auch immer wieder einlullt. Einer meiner Gesprächspartner, ein Professor aus Fortaleza, sagte mir: Wir haben nie eine Revolution gehabt. Wir haben Diktaturen gehabt. Wir sind unterdrückt worden. Die sind jetzt weg, aber wir haben das nie aufgearbeitet. Und wir sind kein revolutionäres Volk. – Das ist vielleicht auch zu erklären aus einer Vergangenheit, in der erst Ende des 19. Jahrhunderts die Sklaverei abgeschafft wurde. So gibt es sehr viele Leute mit Rassenmischungen. Also, es gibt alle Farben in Brasilien. Das ist auf der einen Seite erfreulich, weil die Leute auch relativ frei auftreten. Es gibt diese Vergnügtheit, die einen sofort packt und die einem ein wunderbares Gefühl gibt. Aber wenn man dann genauer hinguckt, ist das eine aus dem Inneren kommt, aber nicht aus dem politischen Leben.
Deutschlandradio Kultur: Aber warum ist gerade in Brasilien, in diesem Land dieser vielen Gegensätze, praktisch durch alle Bevölkerungsschichten eine Begeisterung ausgerechnet für den Fußball vorhanden?
Gunter Gebauer: Das ist, glaube ich, etwas, was in der spielerischen Natur liegt. Es wird sehr, sehr gerne gespielt, ob es oben, in der Mitte oder unten ist in der Gesellschaft. Es wird gerne getanzt. Es wird gerne Musik gehört. Es gibt eine Lebenslust und eine Lebensfreude, die einen sofort ansteckt – egal in welcher Schicht man ist, auch in den Favelas natürlich. Und Fußball ist etwas, was sehr artistisch ist, was sehr tänzerisch ist in Brasilien und dann mit diesen vielen Zufallselementen, die der Fußball ja enthält, weil man mit dem Fuß spielt und mit dem Ball, das ist eine Kombination, die zwangsläufig sehr viel Misserfolge und Zufälle erzeugt. Aber daraus dann wiederum ein kleines Kunstwerk zu machen, das ist, glaube ich, das, was Brasilianern sehr, sehr liegt.
"Fußball ist etwas sehr artistisches"
Deutschlandradio Kultur: Welche Funktion hat denn der Zufall bei der Faszination Fußball?
Gunter Gebauer: Der Fußball ist das einzige Spiel, bei dem die Hand verboten ist. Vergleichen Sie es mit dem American Football. Da darf man den Ball fangen und an sich drücken und so weiter oder bei Rugby, selbst beim Eishockey spielt die Hand insofern, als sie den Schläger führt, eine ganz entscheidend wichtige Rolle. Im Fußball darf man gar nichts damit machen. Im Gegenteil, wenn man Hand macht, kriegt man entweder eine Rote Karte oder es wird als schweres Foul auf jeden Fall gewertet. – Das bedeutet, dass der Körper sich total umbauen muss. Also alles, was man sonst mit der Hand macht, die so geschickt ist und festhalten kann und so weiter, muss man mit dem Fuß machen. Und mit den Füßen kann man nichts festhalten. Da springt der Ball weg. Da muss man irgendwie sehen, dass man ihn unter Kontrolle bringt, aber da muss man sehr, sehr geschickt sein.
Das ist etwas, glaube ich, was Brasilianer nicht nur gut können, sondern was sie auch sehr lieben beim Zusehen. Andererseits hat man diese Mischung, dass man den Ball sehr hart behandeln kann, dass man ihn ballert, stößt, schlägt, aber man kann ihn auch zärtlich behandeln. Man kann ihn schlenzen und streicheln. Und diese Mischung aus einer solchen männlichen, machistischen Härte, die Brasilianer eben auch lieben, und andererseits einer Zärtlichkeit, die dem Ball gilt, der in Brasilien auf Portugiesisch a Bola heißt und feminin ist und von den Spielern auch immer wieder als eine Art Frau oder Freundin angesehen wird.
Deutschlandradio Kultur: Das Resultat, wenn man mal auf Fehler im Umgang mit den Füßen blickt, ist eben auch, dass Mannschaften unverdient gewinnen, weil nur ein Tor manchmal entscheidet oder es eine Fehlentscheidung des Schiedsrichters gibt.
Nun soll aber der Zufall ein bisschen mehr ausgeschaltet werden. Und zwar gibt es erstmals die Torlinientechnik in Brasilien, übrigens von einer deutschen Firma entwickelt – Goalcontrol. Dabei werden auf jedes Tor sieben Hochleistungskameras gerichtet, die dann dem Schiedsrichter automatisch ein Signal geben, ob der Ball über die Linie ist oder nicht. – Ist das ein Gewinn oder ein Verlust für den Fußball?
Gunter Gebauer: Ich denke, das ist eindeutig ein Gewinn. Denn der Fußball lebt zwar einerseits von Ephemeren, würde man sagen, so von zufälligen, von fließenden Bewegungen und Situationen, die nicht leicht zu entscheiden sind. Das muss man auch nicht unbedingt eindeutiger machen. Darin liegt ja auch eine gewisse Qualität, ein Spielfluss. Da ist auch vieles umstritten. Auch das gehört mit zum Fußball, dass man hinterher tagelang, manchmal wochenlang noch diskutieren kann.
Aber eins muss sicher sein, ein Tor muss ein Tor sein. Und wenn das nicht einwandfrei festzustellen ist, dann ist auch der Fußball gefährdet. Denken Sie an das Wembley-Tor. Das war 1966 und erregt immer noch die Gemüter.
Deutschlandradio Kultur: Warum akzeptieren wir hier diese Fehler nicht. Also, das Spiel wird ja von Menschen betrieben. Fehler sind im Umgang mit Menschen einfach normal und für viele ist es auch das Faszinierende. Das Wembley-Tor würden wir heute nicht mehr kennen, wenn das nicht so eine wichtige Kontroverse gewesen wäre. – Warum brauchen wir es, dass wir offensichtlich immer weniger diese Fehler akzeptieren und eher was Übermenschliches erwarten, dass keine Fehler mehr passieren?
Gunter Gebauer: Ach, das ist ja gar nicht unbedingt übermenschlich. Übermenschliches passiert ja im Spiel genug. Also, wenn es sehr gute Mannschaften sind, hat man in jedem Spiel irgendwelche Dinge, wo man sagt, das ist ja irgendwie unglaublich, was da passiert ist. Und man kann es gar nicht fassen.
Aber an einer Stelle will man wirklich die Sicherheit haben. Es heißt ja so schön, der Ball muss mit seinem ganzen Umfang die Torlinie überschritten haben. Das ist eine knallharte Definition. Das ist auch nötig, das so zu sagen, weil von dieser Definition und von der Richtigkeit einer Entscheidung entsprechend dieser Definition eigentlich alles abhängt. Das ist sozusagen der absolute Schuldspruch. Und wenn dieser Schuldspruch umstritten ist, dann ist die grundsätzliche Gerechtigkeit, die man von einem Spiel verlangt, diese Erwartung an Gerechtigkeit wird dann schwer verletzt.
Deutschlandradio Kultur: Zum Abschluss, Herr Gebauer, möchte ich Sie nicht fragen, wer WM-Sieger wird. Das könnten sicherlich viele in Deutschland sehr, sehr fachkundig beantworten. Viel schwieriger zu beantworten ist zum Beispiel, welches Wahlsystem wir eigentlich haben in Deutschland und wie die Sitze berechnet werden. Deswegen ist meine Abschlussfrage: In was lohnte es sich denn ähnlich viele Gedanken zu investieren wie in den Fußball?
Gunter Gebauer: Es gibt ganz viele Themen.
Deutschlandradio Kultur: Handball?
Gunter Gebauer: Nein. Nichts gegen Handball, aber Handball ist nicht so interessant aufgestellt von der ganzen Anlage wie Fußball. Ich denke mal, Sozialpolitik, Wissenschaftspolitik und Ähnliches, das sind schon ganz wichtige Bereiche. Denken Sie an den Konflikt mit Russland um die Ukraine, an die Bürgerkriege im Nahen Osten. Also, ich denke, dagegen ist Fußball wirklich Pippifax.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank.
Gunter Gebauer: Gerne.