Sport statt Operation

Von Sigrun Damas · 09.02.2013
Jeder zweite Deutsche hat mindestens einmal im Jahr Rückenbeschwerden. Viele gehen damit zum Arzt und lassen sich operieren. Aber nicht allen Patienten geht es nach einer Operation besser, manchen sogar schlechter. Effektiver sind Bewegung und Gymnastik.
"Schauen wir mal, ob sie alle noch leben. Ist immer sehr spannend, wenn man lange nicht reingeschaut hat. … rumpel rumpel …"

Ein Tag im Winter. Es ist kühl und trocken. Ein paar Sonnenstrahlen treffen die Kleingartenparzelle von Klaus Kersting. Er züchtet Bienen, das ist sein Hobby. Und eines der wenigen Dinge, die ihm noch geblieben sind. Ein routinierter Handgriff, dann hebt er den Deckel des hölzernen, grün lackierten Bienenkastens hoch. Aber plötzlich erstarrt er mitten in der Bewegung und greift sich an den Rücken. Er hat Schmerzen.

"Das wär jetzt im Beruf schwierig. Man kann nicht immer ne Pause machen, wenn man ne Pause haben möchte."

Klaus Kersting ist erst 51. Aber arbeiten kann er nicht mehr. Seit zwei Jahren ist er krankgeschrieben. Denn er hat chronische Rückenschmerzen. Das Kreuz mit dem Kreuz – Klaus Kersting ist nicht allein. Denn Rückenschmerzen sind eine Volkskrankheit geworden.

Der Rücken ist offensichtlich eine sehr sensible Gegend. Zwei von drei Deutschen haben mindestens einmal im Jahr ihre Last damit. Die meisten im unteren Rücken. 16 Millionen Menschen lassen sich jedes Jahr wegen ihrer Rückenschmerzen beim Arzt behandeln. Auf der Pritsche des Orthopäden folgt dann aber oft Ernüchterung: Der Arzt findet in vielen Fällen nichts Konkretes, das heißt keinen eindeutigen körperlichen Defekt, der die Schmerzen erklären könnte. 80 Prozent aller Rückenleiden sind so: ohne Befund. Sie sind "unspezifisch", wie der Fachmann sagt.

Veit Braun, Neurochirurg "Der Patient muss wissen, dass Rückenleiden eine Zeiterkrankung sind. Wir bewegen uns zu wenig. Der Patient muss sich zukünftig rückengerechter verhalten. Sie müssen danach etwas für ihren Rücken tun. Aber dann haben Sie auch eine Chance, dass Sie beschwerdefrei bleiben."

- sagt Veit Braun. Er ist Arzt und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie. Eines seiner Fachgebiete: Operationen an der Wirbelsäule. Nicht stillhalten, sondern in Bewegung bleiben auch bei Schmerzen. Das ist seine Devise.

"Wichtig ist zu wissen, dass sechsmal Krankengymnastik das nicht bringt. Sondern das ist ein Training, das Sie lebenslang für sich machen müssen. Häufig sind die Patienten übergewichtig. Auch das ist etwas, das man ansprechen muss."

Für den Neurochirurgen ist klar: Der Durchschnittsdeutsche sitzt zu viel, bewegt sich zu wenig, krümmt sich in Fehlhaltungen. Und das geht in den Rücken: die Muskulatur verkürzt und verkümmert, die Bandscheiben leiden. Wer im Rücken Probleme hat, muss aktiv werden, sagt Veit Braun. Ob Sport, Yoga oder Rückenschule, das entscheidet der persönliche Geschmack. Und vorübergehend könne auch ein Schmerzmittel dabei helfen, in Bewegung zu bleiben.

"Und erst wenn diese ganzen Maßnahmen nichts helfen, sollte man an eine OP denken. Eine Operation hilft nur dann, wenn alles andere nicht sinnvoll ist."

Dennoch: dieser letzte Ausweg wird immer häufiger eingeschlagen. Ob Bandscheiben-OP oder Wirbelversteifung – seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Rückenoperationen sprunghaft angestiegen – um fast 90%, wie der Fachverband der Orthopäden errechnet hat. Die Krankenkassen warnen: Zwei Drittel dieser Operationen seien medizinisch nicht begründbar. Und auch Operateure wie Veit Braun selbst geben es inzwischen offen zu: In Deutschland wird zu viel und zu voreilig operiert.

"Es ist sicherlich auch ein Grund, dass Medizin auch ein Geschäft geworden ist. So dass man im Einzelfall auch nicht mehr ausschließen kann, dass Operationen aus Gründen gemacht werden, die nicht etwas mit Medizin zu tun haben. Und da muss man als Patient schauen: Werde ich aus medizinischen Gründen operiert, oder ist es ein finanzieller Grund, der dahinter stecken kann."

Hobbyimker Klaus Kersting hat schon zwei Rückenoperationen hinter sich. 2006 an der Halswirbelsäule und 2008 am unteren Rücken. Viel geholfen haben ihm die Eingriffe nicht. Ihn quälen immer noch Schmerzen. So wie heute. Er muss sich in sein Gartenhaus zurückziehen, bei einer Tasse Tee ausruhen. Wie so oft.

"Wenn der Schmerz zu stark ist, dann verkrieche ich mich. Dann mag ich auch niemanden sehen. Solche Tage gibt’s halt auch. Das kostet dann ganz viel Kraft, da wieder raus zu kommen. Sonst könnte ich nicht mehr leben. Sonst könnte ich mir die Kugel geben."

Schmerzen bleiben, trotz einer Operation – damit ist der 51-Jährige keine Ausnahme. Die Medizin hat längst einen Fachbegriff für das Missgeschick gefunden: Failed back surgery - misslungene Rücken-Operation. Das heißt, die erhoffte Besserung bleibt nach dem Eingriff aus. Oder noch schlimmer: die Schmerzen sind größer als vorher. – Schnell vermutet der Patient, er sei schlecht operiert worden. Aber das stimmt nicht in jedem Fall, sagt Ursula Marschall von der Krankenkasse Barmer GEK. Wenn die OP nicht geholfen hat, könne das auch bedeuten: Sie hätte gar nicht sein müssen.

"Je länger der Schmerzzustand anhält, umso unwahrscheinlicher ist es, dass es eine spezielle körperliche Ursache gibt, die von einer Operation zu beheben ist."

Die Schmerzexpertin der Krankenkasse hat im vergangenen Jahr zusammen mit Kollegen verschiedene Rückenschmerz-Therapien verglichen und darüber einen Bericht verfasst. Ergebnis: Nach einer Wirbelsäulenoperation entwickeln 30 bis 70 Prozent der Patienten chronische Schmerzen. Die Schmerzexpertin fordert deswegen ein Umdenken.

"Wir wissen seit langem aus der Schmerzforschung, dass der Schmerz sich nicht nur körperlich, sondern auf einer seelischen Ebene abspielt."
Mit anderen Worten: Wer Rückenschmerzen hat, hat nicht immer einen mechanischen Defekt an Bandscheiben oder Wirbelgelenken. Die Ursachen für den Schmerz können ganz woanders liegen – oder zumindest von dort aus verschlimmert werden. Die Seele unterhält eine Verbindung zum Rücken.

"Es gilt für viele Patienten. Dass das ein Hilfeschrei ist. Und wir müssen rausfinden: Was ist da eigentlich? Wir kommen über den Schmerz zu ganz anderen Themen,"

sagt der Schmerztherapeut Ralf Heidlindemann aus Münster: oft lasten Schmerzen auf dem Rücken, die kein Röntgenbild darstellen kann.

"Das kann im einfachsten Fall ein Partnerschaftskonflikt sein, das können Sterbefälle sein. Das ist so vielfältig: unverarbeitete Konflikte, Dinge, die in der Jugend in der Kindheit passiert sind."

In der Praxis von Ralf Heidlindemann landen oft Patienten, die schon lange von Rückenschmerzen geplagt sind. Viele von ihnen drängen auf eine Operation:

"Weil dieses mechanistische Denkmodell, das der Patient ja mitbringt, führt ja häufig dazu, dass er sagt, ich möchte gern noch ein MRT haben, da muss ja was sein. Die sagen: Wenn ich dann operiert bin, dann wird alles besser."

Wird es aber nicht. Zumindest nicht immer. Und so zieht der Rückengeplagte weiter. Oft finden Patienten mit länger andauernden Schmerzen erst nach langer Zeit und vielen fehlgeschlagen Therapien zu einem Schmerzspezialisten. Und dann wird es auch für den schwierig, noch zu helfen.

"Wenn ich den nach zwei bis drei Monaten kriege, dann habe ich noch ne gute Chance. Aber meistens kriegen wir die nach fünf bis sechs Jahren – sozusagen als Schlusslicht der Behandlerkette."

Je länger Schmerzen anhalten, desto schwieriger und langwieriger ist eine Therapie. Denn der Schmerz hat sich förmlich ins Gehirn eingebrannt. Und das ganz konkret: Areale, die im Gehirn mit dem Rücken verbunden sind, wachsen bei andauernden Schmerzen. Der beißende Schmerz nimmt sich im Kopf sozusagen immer mehr Raum. Der Schmerz verselbstständigt sich. Er wird zu einer eigenen Krankheit.

Rückenpatient Klaus Kersting will raus aus dieser Schmerzspirale. Er hat sich für eine multimodale Schmerztherapie entschieden. Das heißt: Er bekommt mehrere Therapien parallel, und seine Therapeuten tauschen sich aus. Außerdem bekommt er Unterstützung durch eine Psychologin. Denn auch Gespräche können dem Rücken helfen. – Das alles ist aufwendig und kostet viel Zeit. Aber Klaus Kersting merkt nach einigen Wochen, dass es aufwärts geht.
"Wo ich hier angefangen bin, war meine Schmerzskala bei sieben. Und jetzt ist sie oft zwischen vier und fünf. Und auch schon mal niedriger. Das gibt Hoffnung."

Heute steht Akupunktur auf dem Programm. Und auch deren Überzeugung ist: Der ganze Körper muss behandelt werden, – nicht nur die Stelle, an der es weh tut. Am Ende einer Sitzung fühlt sich Klaus Kersting meistens sehr wohl. Entspannt und müde.

"Ich merke einen Impuls. Wenn sich das löst, hab ich im Kopf son Gefühl, als ob ne Mineralwasserflasche aufgeht. Das fühlt sich befreiend an."

Als ob im Kopf eine Mineralwasserflasche aufgeht. Das Denken lösen, damit der Schmerz nicht mehr allein den Kopf beherrscht. Deswegen rät Ralf Heidlindemann den Rückenpatienten auch zu autogenem Training, zu QiGong oder sogar Meditation.

"Das ist ne aktive Übung. Dass man überhaupt wieder lernt, sich zu fühlen und zu entspannen. Wenn immer alles um den Schmerz kreist, dann verliert man ein Gefühl für den eigenen Körper. Und das müssen wir dem Patienten wieder aktivieren."

Eine aktive Übung. Und meisten auch eine lebenslange. Wer seine Schwachstelle kennt, muss sie in Schach halten, dauerhaft. Und das gilt erst Recht nach einer Rücken-Operation. Man muss sich viel Zeit nehmen für den Rücken, sonst nimmt er selbst sich seinen Raum. Klaus Kersting hat das mühsam lernen müssen:

"Wenn ich alles konsequent durchführe und auch ein diszipliniertes Leben führe, gibt es eine Veränderung. Es ist schon schwer, den Schmerz anzunehmen. Zu sagen: Ja, er gehört zu mir. Ja."
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