Spinnen sollen taube Arme heilen

Mit der Seide der Nephila-Spinne wollen Mediziner verletzte Nerven heilen.
Mit der Seide der Nephila-Spinne wollen Mediziner verletzte Nerven heilen. © picture alliance / dpa / M.A.Pushpa Kumara
Von Michael Engel · 19.08.2012
Sie sind groß wie Handteller, leuchtend gelb - und ziemlich hungrig: Dutzende Seidenspinnen der Gattung "Nephila" leben in einem Labor der Medizinischen Hochschule in Hannover. Ihre Seide wollen Forscher als High-Tech-Material für die Regeneration von Nervenfasern verwenden.
Mit dem Fahrstuhl geht es hinauf zum Arbeitsplatz von Christina Allmeling im "Labor für Plastische-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie" der Medizinischen Hochschule Hannover. Wenige Schritte noch, dann öffnet sie eine Tür und schiebt einen schwarzen Vorhang beiseite. Im leergeräumten Büro lehnt meterhohes Geäst ringsherum an den Wänden. Automatisch geht der Blick nach oben.

"Die Spinnen sind untereinander sehr verträglich und können sich hier im Raum auch ausdehnen. Man sieht hier an manchen Ecken Spinnen, die vor und hintereinander sitzen. Das heißt, die tun sich auch auf einem engeren Raum nichts. Sie müssen allerdings Platz haben, um ihre Netze zu weben."

Die Netze sind gigantisch: Gut ein Meter im Durchmesser. 30 davon hängen im Geäst der toten Zweige. In der Mitte der Radnetze lauern die Spinnen. Groß wie ein Handteller – gelb mit schwarz gebänderten Beinen. Die Tiere der tropischen Gattung "Nephila" sind hungrig: In Holzkästen auf dem Boden krabbelt schon die Nahrung – Heimchen, die vielstimmig zirpen.

Dann ist es mal wieder soweit. Mit geübtem Griff nimmt Christina Allmeling eine Spinne vom Netz und bringt das zappelnde Tier nach nebenan - zum sogenannten "Kurbeln":

"Wir tun den Tieren nicht weh. Wir fixieren sie einfach nur mit der Mullkompresse. Die Beine werden ein bisschen unter der Mullkompresse sortiert. Und dann wird die Mullkompresse mit diesen kleinen Pinstiften festgedrückt, sodass die Spinne selber bewegungsunfähig ist, und nur ihr Hinterleib aus der Mullkompresse heraus guckt."

Der Hinterleib ist wichtig. Denn hier liegen die Spinndrüsen. Schnell ist der Anfang des Fadens gefunden, ein Stück weit herausgezogen. Die hauchdünne Spinnenseide wird an eine Kurbel geklebt. Die sogenannte Spinnkurbelmaschine – eine Eigenentwicklung der Klinik - ist ein 30 Zentimeter großes Rad, das, elektrisch getrieben, bis zu 200 Meter Spinnenseide aus dem Tier herausziehen kann. Christina Allmeling schaltet die Apparatur ein.

"Die Spinne hat ja eine Seidenproduktion aus einer ihrer sieben Spinndrüsen und kann selber diese Spinnseidenproduktion nicht stoppen. Das heißt, wenn wir diesen Faden einmal haben, dann kann die Spinne selber das nicht beeinflussen. Wir wissen ungefähr die Menge, die wir aus einer Spinne heraus bekommen können, das hängt natürlich von der Größe und vom Futterzustand ab. Und dementsprechend lange muss die Spinne durchhalten und uns zur Seidengewinnung dienen."

Spinnenseide ist sehr reißfest. Bezogen auf ihr Gewicht viermal belastbarer als Stahl. Sie kann um das Dreifache ihrer Länge gedehnt werden ohne zu reißen. Sie widersteht mikrobiologischen Angriffen und ist dennoch biologisch abbaubar. Für Peter Vogt – den Leiter der Klinik für plastische Chirurgie – allesamt interessante Eigenschaften.

"Und vor allem die Tatsache, dass es aus natürlichen Materialien besteht. Also nicht aus Kunststoffen, die sich nicht zersetzen oder wenn sie sich zersetzen, dann bestimmte Entzündungsreaktionen auslösen, sondern eine natürliche Abbaureaktion, die keine Reizung des Gewebes hervorruft."

Peter Vogt will die Spinnenseide als High-Tech-Material für die Regeneration von Nervenfasern verwenden. Vor allem die Motorradfahrer leiden nach einem Unfall unter Nervenabrissen besonders im Schulterbereich. Arme und Hände sind dann taub und häufig bleiben sie es auch, weil die neu sprießenden Nervenfasern den Weg dorthin nicht mehr finden. Spinnenseide – implantiert in der Schulter - soll den Nerven den Weg weisen. Und so könnte es eines Tages funktionieren:

"Es wird eine Hülle genommen - in der Regel eine Schweinevene. Die wird vorher von ihren Zellen befreit und dient damit nur noch als biologische Hüllschicht. In diese Hülle kommen hunderte von Fäden. Die sprießenden Nervenfasern suchen sich dann ihren Weg entlang der Fäden. Und das Schöne ist, dass sich sogar Bündel an Nervenfasern entlang an der Spinnenseide orientieren. Das heißt, die Nervenfasern finden ihren Weg und wachsen dann auch zusammen."

Im Tierversuch – mit Schafen – klappt das neue Verfahren schon. Demnächst sollen nun auch menschliche Patienten von der Innovation profitieren. Schon aus dem Mittelalter ist die Versorgung großer Hautwunden mit Spinnenseide überliefert: Man stopfte das komplette Netz einer Spinne einfach in die Wunde hinein. Da sich die menschlichen Zellen rasch ansiedeln, können die Fäden zudem auch als Trägermaterial für die Konstruktion künstlicher Blutgefäße oder bei der Züchtung künstlicher Haut dienen. Sogar künstliche Ohren oder Nasen auf Basis der Spinnenseide schließen die Forscher nicht aus.
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