Spielfilm "Freistatt"

Schwarze Pädagogik unter christlichen Vorzeichen

Der rebellische Wolfgang (Louis Hofmann) in einer Szene des Kinofilms "Freistatt"
Der rebellische Wolfgang (Louis Hofmann) in einer Szene des Kinofilms "Freistatt" © dpa / picture alliance / Salzgeber & Company Medien
Von Wolfgang Martin Hamdorf · 21.06.2015
Ein Mikrokosmos aus Gewalt und gegenseitigen Abhängigkeiten: In "Freistatt" erzählt Regisseur Marc Brummund von den grausamen Erziehungsmethoden in einem evangelischen Jugendheim in den 60er-Jahren.
1968. Es ist Sommer. Freistatt ist ein evangelisches Erziehungsheim im niedersächsischen Moor. Der 14-jährige Wolfgang wurde gegen seinen Willen von der Jugendfürsorge hierher gebracht.
Der Alltag in Freistatt wird von harter Arbeit und schmaler Kost bestimmt. Stundenlang müssen die Jugendlichen im Moor Torf stechen, mit den Erlösen finanziert sich die Anstalt. Die Erziehungsmethoden sind streng, perfide hetzen die Erzieher die Heiminsassen gegeneinander auf. In dem Heim herrscht eine unterschwellige Gewaltbereitschaft, die jederzeit explodieren kann. Wolfgang rebelliert, versucht zu fliehen, als es ihm gelingt, wird er von seiner Familie wieder zurückgeschickt. Als letzte grausame Erziehungsmaßnahme muss er im winterlichen Moor sein eigenes Grab ausschaufeln.
"Alles, was wir in dem Film schildern, ist so passiert. Wenn nicht dort in Freistatt, in anderen Heimen. Diese Sache mit der Scheinbeerdigung zum Beispiel, das ist eine Geschichte, die sich genau so in einem katholischen Mädchenheim zugetragen hat, weil man mitunter das ja nicht glauben mag."
Freistatt war die Endstation für besonders widerspenstige Kinder und Jugendliche
Für seinen ersten Spielfilm über das evangelische Jugendheim der Bodelschwinghschen Stiftungen im Norden hat der bisherige Dokumentarfilmregisseur Marc Brummund jahrelang recherchiert. Seine wichtigste Quelle waren dabei die langen Gespräche mit dem heute 70-jährigen Wolfgang Rosenkötter, einem ehemaligen Heiminsassen in der Diakonie Freistatt:
"Ich habe das selbst erlebt, ich war in den 60er-Jahren, also '62 bis '63 dort in dem Haus. Es war die sogenannte 'Endstation' für Kinder, die ins Heim kamen, oder Jugendliche."
Freistatt war die Endstation für besonders widerspenstige Kinder und Jugendliche. "Endstation Freistatt. Fürsorgeerziehung in den von Bodelschwinghschen Anstalten bis in die 1970er Jahre" heißt auch der kritische Bericht einer Untersuchungskommission, den die diakonische Organisation Bethel selbst 2009 herausbrachte. Auf knapp 400 Seiten wird die dunkle Geschichte der Heimerziehung im Moor beleuchtet.
Marc Brummund: "Das habe ich mir besorgt und gelesen und ich habe mir gedacht: Mensch, wenn wir die ins Boot holen, und wenn die uns unterstützen, diesen Film zu machen, im Idealfall an den Originalschauplätzen, was ja dann der Fall war, dann kann daraus ein Schuh werden, dann kann man so einen Film machen und auch wirtschaftlich stemmen."
Gesagt getan, dann bin ich dort hingefahren und habe mit denen gesprochen. Die waren offen. Weil sie diesen Schritt schon gemacht hatten zu sagen: Wir bekennen uns dazu, was hier damals passiert ist. Heute ist das hier aber alles anders und wir machen ganz andere Dinge. Ich bin sehr dankbar für diese Unterstützung und für die Offenheit. Natürlich war es der Diakonie dort wichtig zu sagen, uns ist wichtig, dass das exemplarisch bleibt, dass am Ende immer gesagt wird, das ist ein Heim von vielen gewesen."
Der Regisseur Marc Brummund
Marc Brummund© dpa / picture alliance / Wolfgang Langenstrassen
Ein christliches Erziehungsheim, bei dem, so stellt der Film es dar, die Religion selbst kaum Thema ist, abgesehen von Höhepunkten des Jahres wie dem Weihnachtsgottesdienst in der kleinen Kapelle. Die christliche Motivation der rigiden Heimerziehung war oft, so Marc Brummund, reiner Überbau:
"Da gibt es so eine Art Dach, einen religiösen Überbau, unter dem das Ganze möglich ist, letztendlich wenn man aber dort reinguckt in das Haus, geht es um ganz andere Dinge und der Alltag sieht ganz anders aus und ist fern von Frömmigkeit und von gottesfürchtigen Gedanken. Da geht es darum, dass die Jungs zu funktionieren haben, da ist eine militärische Ordnung, da ist nicht viel Platz für Religion. Und dennoch geschieht das alles mit dem Segen des Herrn."
Jede Verhaltensauffälligkeit wurde mit Heimeinweisung geahndet
Der Film lebt von Kontrasten, die die Kamerafrau Judith Kaufmann in wunderschöne Bilder in gesättigten Farben umgesetzt hat: hier die weite Moorlandschaft, dort das enge Heim. Außen die Natur, innen die kargen, gefängnisartigen Aufenthaltsräume.
Deutlich wird aber auch die innere Zerrissenheit der Gesellschaft der Bundesrepublik, die sich zwischen Rock'n'Roll und Studentenbewegung scheinbar zur Freiheit hin entwickelt, aber auf der anderen Seite mit einem strengen System der Jugendfürsorge jede Verhaltensauffälligkeit gleich mit Heimeinweisung ahndet. Der Spielfilm "Freistatt" erzählt von einer Rebellion in einem geschlossenen System. Ein Aufstand, der in dieser dramatischen Inszenierung, so der Regisseur, wahrscheinlich niemals stattgefunden hat.
"Letztendlich ist es aber dann doch so, dass diese perfiden Methoden, um die Kinder zu brechen, auch dazu geführt haben, dass die Kinder über lange Zeit und großteils still geblieben sind, sich nicht gewehrt haben und es auch dazu geführt hat, dass es keine Gruppenbildung untereinander gab. Insofern ist dieser Zustand, alle laufen mit, alle machen mit, bis dann irgendwann einmal einer ausschert, auch der Normale. Das ist etwas undramatisch und das musste man natürlich ein bisschen anpassen oder verändern, daher kommt das, aber dennoch ist das alles faktisch belegt, was da passiert."
"Freistatt" dramatisiert und beschleunigt zwar die Ereignisse, vermeidet aber die Darstellung der Figuren in radikalen Schwarz-Weiß-Kontrasten. Bei aller Brutalität und Härte bleiben selbst die unangenehmsten Figuren facettenreich.
"Das wäre mir dann doch zu Comic- und zu holzschnittartig gewesen, die Erzieher nur böse darzustellen. Ich glaube auch, dass das am Ende keine so große Wirkung hat. Mir war es wichtig, sowohl die Eltern als auch die Erzieher in Fleisch und Blut zu erzählen, sie in irgendeiner Form nachvollziehbar zu machen."
Es geht in "Freistatt" um den Zusammenstoß zwischen dem routinierten System einer Erziehungsanstalt und dem überforderten Jugendlichen. Jedes glückliche Ende würde hier verharmlosen und so gibt es auch kein Happyend für das gerettete Heimkind. Für Marc Brummund ist das Ende des Films auch ein Statement:
"Am Ende haben die Heime die Jungs krumm gemacht und sie wollten das Umgekehrte erreichen, sie grade zu machen. Das ist ihnen aber nicht gelungen. Was bleibt, ist ein schwarzer Fleck in der Seele, eine Abstumpfung, einer Verrohung, mit der diese Kinder nicht mehr in die Gesellschaft passen, oder nur schwierig. Das letzte Bild drückt aus, dass Freistatt immer ein Teil seines Lebens sein wird."
"Freistatt" ist ein spannend inszeniertes Drama über schwarze Pädagogik unter dem Deckmantel christlicher Fürsorge, über einen Mikrokosmos aus Gewalt und gegenseitigen Abhängigkeiten.
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