Spielen im Krieg

Von Tobias Wenzel · 09.03.2009
Der Schriftsteller Rawi Hage wurde im Libanon geboren, emigrierte in die USA und später nach Kanada. 2006 veröffentlichte er auf Englisch sein literarisches Debüt, einen Roman über den einstigen Bürgerkrieg im Libanon. Mittlerweile ist Hage ein erfolgreicher Autor.
Rawi Hage spaziert bei - 30 Grad durch die Straßen von Montreal. Kaum sieht man das Gesicht des 1964 geborenen Schriftstellers. Die Fellmütze, darüber die Kapuze des blauen Parkers und der dicke Schal lassen nur einen Blick auf die braunen Augen, die markante Nase und die schmale Oberlippe zu.

"Am Anfang empfindet man einen unglaublichen Schock. Schnee gilt als romantisch, vor allem an Weihnachten. Aber Schnee kann brutal sein."

Rawi Hage steigt übervorsichtig die steile, eisbedeckte Außentreppe hinauf zur blauen Tür seiner Wohnung. Hier lebt er mit seiner Freundin, der Schriftstellerin Madeleine Thien. Sie stichelt gerne, indem sie ihn paranoid nennt.

"Ich bin nicht pathologisch paranoid. Außerdem ist Paranoia manchmal von Vorteil. Ein Beispiel für meine Paranoia sind Kakerlaken. Ich hasse und fürchte sie. Wahrscheinlich bin ich deshalb geradezu davon besessen, sauber zu machen."

Der Parkettboden glänzt. Kakerlaken findet man hier keine. Die hat Rawi Hage in seinen zweiten Roman verbannt, der auf Deutsch "Kakerlake" heißt. An einer Wand hängt ein Gemälde: Kreidebleiche Zwillingsschwestern starren wie traumatisiert ins Nichts. Niemand würde sich wundern, wenn auch Rawi Hage traumatisiert wäre. Schließlich hat er den Bürgerkrieg in Beirut erlebt. Er war sieben, als die ersten Schüsse fielen:

"Der Krieg war im Hintergrund allgegenwärtig. Aber als Kind findet man doch überall etwas zum Spielen. Ich sammelte leidenschaftlich Geschosse, erst leere Hülsen. Dann aber liefen wir immer hinter den Soldaten her. Und die gaben uns scharfe Munition. Das hat für Aufregung gesorgt. Meine Mutter hat die Munition dann weggeworfen, aus Angst, sie könnte im Haus explodieren."

Rawi Hage hat seine Kriegserlebnisse in seinem Debütroman "Als ob es kein Morgen gäbe" verarbeitet. Die beiden Hauptfiguren, die Jugendlichen Bassam und George, machen die Gegend auf ihrem Motorrad unsicher, ergaunern sich, was sie brauchen, und beginnen sich für Frauen zu interessieren. Bassam macht bei seiner deutlich älteren Tante Annäherungsversuche:

"Ich selbst hatte eine ungewöhnliche Beziehung zu Frauen. Ich habe keine Schwestern und ich bin auf eine Jungen-Schule gegangen. Die einzige Möglichkeit für mich, eine junge Frau kennenzulernen, war im Luftschutzbunker. Da waren alle gezwungen, am selben Ort zu sein. Und da sprachen alle miteinander."

Mit dem Miteinander der beiden Freunde ist es aber vorbei, als sich George einer Miliz anschließt. Bassam aber verlässt den Libanon. Auch Rawi Hage verließ sein Land. 1982, mitten im Bürgerkrieg, ging er nach New York, um dort Fotografie zu studieren, und später nach Montreal. Lange hat er gebraucht, um diesen Bürgerkriegsroman schreiben zu können. In New York und Montreal lebte Hage jahrelang an der Armutsgrenze, hielt sich als Tellerwäscher und Taxifahrer über Wasser; hatte kaum Zeit zum Fotografieren und Schreiben.

"Einmal sagte mir eine Schriftstellerin: 'Du hast Glück gehabt, weil du den Krieg erlebt hast! So konntest du ein Buch darüber schreiben.' Ich antwortete: 'Warum lebst du denn nicht im Krieg? Geh doch einfach in ein Kriegsgebiet!'"

Es braucht eben mehr als eine Kriegserfahrung, um einen Roman wie "Als ob es kein Morgen gäbe" zu schreiben. Die Eltern von Rawi Hage, die mittlerweile auch in Montreal leben, können es noch nicht fassen, dass ihr Sohn nun ein erfolgreicher Schriftsteller ist. Sein Interesse für Literatur hat er seinem Vater zu verdanken.

"Er ist ein großer Leser. Er hatte einen Laden für Frauenkleider in Beirut. Und jeden Morgen lud er drei, vier Männer aus der Nachbarschaft zu sich in den Laden ein. Sie alle lasen Bücher und sprachen über Politik. Einer von ihnen sammelte Bibel- und Koran-Ausgaben, ein anderer war Dichter. Diese vier, fünf Männer rauchten dann Zigarren und tranken Kaffee, mitten im Laden. Da konnte keine Frau reinkommen, um sich Unterwäsche zu kaufen! Das alles war also schlecht fürs Geschäft. Aber ich war unglaublich gern dort, um den Männern zuzuhören."

Die Mutter von Rawi Hage ist gläubige Christin, sein Vater Atheist. So wie er selbst. Sein zweiter Roman "Kakerlake" ist auch ein Bekenntnis zum Atheismus. Ein Autor aus dem Libanon, der nicht an Gott glaubt – für viele undenkbar.

"Ich bin einmal nach Belgien eingeladen worden. Dort erwarteten sie einen Araber, der dem Publikum den Islam erklärt. Als sie merkten, dass ich atheistischer bin als sie, waren sie enttäuscht. Sie haben mich nie wieder eingeladen."