Spiel mit Brüchen

Von Volker Trauth · 06.05.2010
Schon eine der ersten Szenen zeigt die Richtung von Calis' Adaption, die Stoßrichtung seiner dramaturgischen Operationen an. Eva ist, begleitet vom Magister, von Grönsbeck (so heißt jetzt Wagners von Gröningseck) und von anderen Jugendlichen von einer Discoparty zurückgekehrt. Man hat sich verabschiedet, da kommt Grönsbeck wieder und es hebt eine scheue Liebesszene an.
Grönsbeck ist kein Leutnant der königlichen Armee, sondern Türsteher und Mitglied einer Jugendgang. Was ihn umtreibt, ist der Frust über seine trübselige Existenz in der Disco. Zunächst nimmt er noch schicksalsergeben das Leben in Dreck und Dunkelheit hin und erklärt tapfer: "Ich halte das aus".

Eine ebenso unerwartete wie außergewöhnliche Seelenharmonie zwischen dem ungleichen Paar entsteht: Beide haben Sehnsucht nach dem "anderen Leben"; und die reiche Kaufmannstochter vermittelt dem vom Schicksal Getretenen eine Vorstellung davon, dass es ein sinnvolles Leben geben kann. Grünsbeck schreit sein "Ich will hier rauskommen" heraus und wird bis zum Schluss mit durchschlagender Erfolglosigkeit versuchen, den Klassenunterschied zur Geliebten zu überwinden.

Nicht der Leutnant Hasenpoth vereitelt Grönsbecks Absicht, sondern die Mitglieder seiner Jugendgang, die ihn in den Sumpf zurückzerren wollen. Schließlich begeht Eva die Verzweiflungstat. Nicht aber die Büttel führen sie ab; der Magister, der sie schon seit sechs Jahren liebt, bekennt seine ungebrochene Liebe zu ihr und nimmt dabei das Verbrechen billigend in Kauf.

Das alles ist erzählt worden in einem Rückblendeverfahren: Schon zu Beginn hatte Eva, als Videoprojektion auf Vorhang und Seitenportalen, vom Mord gesprochen und den mitleidlosen, standesbewussten Vater als Mitschuldigen genannt. Dazwischen haben wir gleichsam die Stationen des Verhängnisses erlebt.

Calis hat wie schon in seinen Übermalungen von "Frühlings Erwachen" und "Romeo und Julia" bekannte Texte der dramatischen Weltliteratur "übermalt", hat den Figuren einen heutigen Gestus verliehen. 30 Prozent sind von den Texten Wagners übrig geblieben. In den besten Momenten geht das Original nahtlos in die Autorensprache von Calis über. Grönsbeck hat eben noch in moderner Gossensprache erklärt, seine Eva wäre nicht mit den "Bräuten" zu vergleichen, die er mitunter "gegen die Wand drückt", und schwärmt dann in Sturm-und-Drang-Sprache davon, wie die Geliebte nach dem "höchsten Moment des Genusses" ausgesehen habe. Wie der Schauspieler Christoph Franken das spielt, wie er ganz selbstverständlich die Hochsprache als seine eigene nutzt, hat ebenso verfremdende wie Sinn erhellende Wirkung.

Freilich haben die Zusätze des Autor/Regisseurs nur bedingt literarische Qualität. Wenn zum Beispiel Ulrich Mathes als der Magister, den der Autor zu einer Hauptfigur aufgebläht hat, am Anfang sich krampfhaft um Jugendnähe bemüht, da fehlt es den von ihm gesprochenen Texten an situativer Konkretheit und Poesie, sodass es selbst dem wirkungssicheren Schauspieler schwer fällt, glaubwürdig zu sein. Später aber, wenn dieser Magister mit zynischer Kälte dem Grönsbeck seine Chancenlosigkeit vorführt oder wenn er sich in einen wahren Rausch der Selbstdemütigung steigert und Evas Liebe erbettelt, da wächst für Momente die Tragik eines Abgewiesenen.

In der Schauspielerführung setzt der junge Regisseur insgesamt auf überraschende Brüche. Der Begeisterung folgt die Resignation, der Brutalität die scheue Zärtlichkeit. Oft aber verirrt sich Nuran David Calis in der Suche nach dem wirkungsvollsten theatralischen Mittel. Manches erweist sich als verzichtbar, verselbständigt sich und stellt sich der stringenten Erzählung der Geschichte entgegen – so wie das wiederholte Sprechen in die Kamera und die anschließende Videowiedergabe auf Portal und Vorhang.

Schattenkinder
Nach Motiven von Heinrich Leopold Wagners Trauerspiel "Die Kindsmörderin"
Premiere am Deutschen Theater Berlin
Regie: Nuran David Calis
Ausstattung: Irina Schicketanz
Musik: Vivan Bhatti
Dramaturgie: Claus Caesar
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