SPD im Wahlkampf

Sankt Schulz oder: Mehr Gerechtigkeit geht immer

Martin Schulz (SPD) kommt am 24.01.2017 in Berlin in der SPD-Zentrale zu einer Pressekonferenz.
Der neue, starke Mann der SPD: So einen wie Martin Schulz hatten die Sozialdemokraten schon lange nicht mehr © dpa / picture-alliance / Kay Nietfeld
Von Christian Schüle · 16.03.2017
Den Sozialdemokraten gilt ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz als Wundermittel gegen Populisten. Gegner werfen ihm hingegen vor, selbst einer zu sein. Falsch, sagt der Philosoph Christian Schüle: Schulz ist kein Populist. Sondern Opportunist.
Wer Martin Schulz einen Populisten nennt, hat Sinn und Begriff des Populismus nicht verstanden. Populisten erheben Anspruch auf die Alleinvertretung des "wahren Volks"; Verfassungsstaat und Recht sind ihnen ein Ärgernis.
Nein, Schulz ist kein Populist, er ist cleverer: Er ist Opportunist, denn nichts ist opportuner als in einer prosperierenden Leistungsgesellschaft an naturgemäß vorhandene Abstiegsängste zu appellieren.
Sie sind zu jeder Zeit abrufbar, weil sich in Relation zu den teils exorbitanten Renditen und Gehältern einiger sehr weniger so gut wie alle anderen als arm empfinden dürfen. Und das, obwohl der Rückgang der Arbeitslosenzahlen auf die Hälfte seit 2005 mindestens bemerkenswert ist, obwohl 1,5 Millionen neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstanden, Reallöhne gestiegen, die Rücklagen der Sozialversicherungen rekordverdächtig und die Mehreinnahmen der Steuerkasse erstaunlich sind.

Klassiker des falschen Umkehrschlusses

Der menschlich-allzumenschliche Schulz ist ein höchst geschickt agierender Politpsychologe. Nach geradezu unbefleckter Empfängnis wie ein Deus ex machina aus Brüssel in die Republik eingeschwebt spricht er: Seht her, hier stehe ich und kann nichts anders – ich gebe euch zurück, ich korrigiere Fehler, die Fehler der Agenda 2010.
Dass just diese angeblichen "Fehler" aus Sicht fast aller seriösen Arbeitsmarktforscher für Deutschlands gegenwärtige Prosperität verantwortlich waren – einerlei. Darum geht es nicht. Es geht um die Magie der Gerechtigkeit, denn mehr Gerechtigkeit geht immer und ewig.
Der Refrain des linken Evergreens sozialer Ungerechtigkeit lautet bekanntlich: Alimentierung statt Aktivierung. Mehr Geld, mehr staatliche Leistung, mehr Fürsorge.
Der Schulz-Effekt ist schon jetzt ein Klassiker des falschen Umkehrschlusses: So gut wie jeder wird seinen Forderungen zustimmen, obwohl materielle Gerechtigkeit immer konsumptive Gerechtigkeit für die einen, hingegen strukturelle Ungerechtigkeit für andere ist.
Das verlängerte Arbeitslosengeld I und die bereits beschlossene Rente mit 63 beispielswiese sind von allen Steuerzahlern finanzierte Luxus-Projekte für wenige, und das in Zeiten eines veritablen Bruttoinlandsprodukts.
Auf die Dauer bürdet der Ausbau des Staatssektors den ohnehin demografisch dezimierten Generationen nach uns – die künftige Sozialausgaben doppelt und dreifach aufbringen müssen – enorme Lasten auf. Was daran ist sozial gerecht?

Moral bringt immer politische Rendite

Armut aber – die unleugbar und immer ein Skandal ist – wird auf lange Frist gesehen nicht durch Alimentierung, sondern nur durch aktive Arbeitsmarktpolitik, durch Ausbildung und Arbeit verhindert. Arbeit setzt privatwirtschaftlich geschaffene Arbeitsplätze ebenso voraus wie die lässige Umverteilung von Geld erst einmal dessen Erwirtschaftung.
Doch durch die kalkulierte Aufrüstung des Leib- und Magenthemas der Genossen erreicht Schulz geradezu spielend die von Gabriel gedemütigte und so lange deprimierte Sozialdemokraten-Seele. Um Therapie geht es also, um die Heimeligkeit der sozialromantischen Beschwörung von Patronage. Genosse Schulz hat endlich wieder den richtigen Stallgeruch!
Der von sich berauschte Heilsbringer betreibt die Moralisierung des Politischen und die Politisierung des Emotionalen, während Entzug und Indifferenz die große Schwachstelle im politischen Problemlösungs-Pragmatismus der Angela Merkel sind.
Es geht um diffuse Gefühle, rechts wie links. Deswegen bedrohen die so lange alternativlose Kanzlerin jetzt auf einmal zwei Alternativen: die reaktionäre der AfD und die rückwärtige der Schulz-SPD.
Gewiss, es ist Wahlkampf, und Wahlkampfzeit ist die Zeit für behagliche Weltfremdheit. Die alte Weisheit des politischen Kapitals lautet ja: Ins Milieu des Unbehagens, der Furcht und Selbstwertverluste ist Moral leicht investiert und bringt immer gute Rendite.

Christian Schüle, 45, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und die Essays "Wie wir sterben lernen" und "Was ist Gerechtigkeit heute?" (beide Droemer-Knaur/Pattloch). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

© Nicole Strasser
Mehr zum Thema