SPD hat "grundlegende Werte" verraten

Sergey Lagodinsky im Gespräch mit Andreas Müller · 28.04.2011
Der Gründer des "Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten", Sergey Lagodinsky, hat seiner ehemaligen Partei Versagen in der Integrationspolitik vorgeworfen. Er ist nach dem gescheiterten Ausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin aus der SPD ausgetreten und beklagt den fehlenden Mut der Sozialdemokraten.
Andreas Müller: "Ich kann es in einer Partei mit Sarrazin aushalten, aber ich kann es nicht in einer Partei aushalten, die sich aus Angst vor dem Stammtisch einem Sarrazin nicht stellen will." Das schrieb der Berliner Sozialdemokrat Sergey Lagodinsky an die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, nach dem Thilo Sarrazin ein zweites Parteiausschlussverfahren überstanden hatte. Es hat bislang keine Austrittswelle gegeben, aber auch der Präsident der Bundesgemeinschaft der Immigrantenverbände Mehmet Tanridverdi kündigte nach 15 Jahren Mitgliedschaft seinen Austritt aus der SPD an, also da könnte noch was kommen.

Jetzt bin ich mit Sergey Lagodinsky verbunden. Schönen guten Morgen!

Sergey Lagodinsky: Schönen guten Morgen, Herr Müller!

Müller: Sie haben Andrea Nahles einen Brief geschrieben, aus dem ich eben zitierte, das ist ja schon ein bemerkenswerter Satz. Sie hätten es mit Sarrazin aushalten können, aber offensichtlich halten Sie es mit der Partei nicht aus, die nicht mit ihm umgehen kann.

Lagodinsky: Das ist genau richtig, weil ich das für ein Versagen in der Partei in erster Linie halte, für einen Vertrauensverlust gegenüber vielen Leuten, denen es jetzt monatelang erst mal erzählt worden ist, dass die Partei, vor allem der Parteivorstand, entschieden sich gegen diese Person stellt, um dann, innerhalb von fünf Stunden, diese Position abzuwickeln, ohne dann anschließend der Basis erklären zu können über die Gründe dieser Entscheidung. Das ist alles zu viel gewesen.

Müller: Das lässt viel Raum für Spekulation, darüber wollen wir gleich noch sprechen. Was hätten Sie denn erwartet?

Lagodinsky: Ich hätte erwartet, dass der Parteivorstand, wenn sie schon sich dafür entscheiden, ein solches Verfahren durchzuziehen und damit auch eine gewisse Erwartung auch der Parteibasis und ein Vertrauen der Parteibasis wecken, dass sie auch dann den Mut haben – auch angesichts der anstehenden Wahlen, auch angesichts der schwierigen medialen Lage –, dieses Verfahren durchzuziehen, zu ihren und unseren gemeinsamen Prinzipien, den sozialdemokratischen Prinzipien, denn progressiven Prinzipien zu stehen.

Müller: So liegt – und da ist dann die Spekulation – nahe, der Partei Wahltaktik vorzuwerfen. Dazu passt vielleicht auch, dass Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister von Berlin, der ebenfalls ein Buch geschrieben hat namens "Mut zur Integration – für ein neues Miteinander", dieses Buch nach den Wahlen in Berlin erst veröffentlichen will. Erst sollte es zu den Wahlen erscheinen, jetzt kommt es später. Vielleicht hält man das auch für zu brisant. Natürlich alles Spekulation! Ist das wirklich Wahltaktik?

Lagodinsky: Das kann ich jetzt so nicht bestätigen. Ich habe versucht, mich natürlich umzuhören, das, was ich bisher gehört habe, stimmen diese Informationen etwa über gezielte Strippenzieherei sozusagen im Hintergrund, diese Informationen stimmen so nicht, nach meinem Wissen. Aber, was ich sehe, ist ein viel grundlegenderes Problem für die Partei, die versucht, eine Volkspartei zu bleiben, und aus der Sicht, der Perspektive vieler Funktionäre kann man das nur tun, wenn man eben dieses Thema, sagen wir so, an den Stammtisch opfert.

Müller: Sich auch so eigentlich da nicht mit auseinandersetzen möchte, hat man den Eindruck. Was nicht sein soll, kann einfach nicht sein, hat man manchmal den Eindruck, wenn man den Umgang damit oder eben Nicht-Umgang der Partei damit sieht.

Lagodinsky: Das stimmt, und das ist da, wo auch meine Kritik ansetzt. Ich kann mir vorstellen, dass eine solche Entscheidung, wie wir erlebt haben am Karfreitag, viel einfacher auch für viele Parteimitglieder zu verkraften wäre, wenn wir vorher eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Thema auf der Bundesebene, und zwar eine offene Auseinandersetzung, auch offen gegenüber der neuen Vielfalt der Partei, erlebt hätten.

Was wir aber erlebt hatten, vor Karfreitag, ist eine lange Reihe von Beispielen, wo die Partei sich eigentlich gedrückt hat, sich in diesen Themen zu engagieren, also die Integrationsressorts seit vielen Jahren wurden zum Beispiel abgegeben an Parteien, die sogar rechts von der SPD stehen.

Wenn wir auf der Bundesebene sehen, wer da die Musik, den Ton angibt bei der Integrationsdebatte, dann ist das nicht die SPD, und das alles hat dazu beigetragen, dass, wenn man schon auch dieses Verfahren gegen diesen unsäglichen Bestsellerautor einstellt, dann das Vertrauen endgültig wegbricht.

Müller: Sie sehen – sagen Sie auch – die innerparteiliche Vielfalt gefährdet. Nun gibt es im Internet eine Berliner Erklärung seit ein paar Tagen, mit der sich Sozialdemokraten ihren Unmut über diese Entscheidung der Parteispitze Luft machen. Da haben jetzt mehr als 2.000 Leute online unterschrieben, die fordern, Sarrazin soll gehen. Was halten Sie von dieser Petition.

Lagodinsky: Ich halte es für die Stimme der Basis, die sehr wichtig ist, und ich bin mit meinem Austritt mir auch – das habe ich ganz klar auch gesagt, das ist eine persönliche Entscheidung, ich erwarte und ich ermutige jetzt keine Austrittswelle, sondern ich konnte in diesem Moment mir eine Zukunft in dieser Partei, die sich ja als progressive Kraft immer darstellt, als treibende visionäre Kraft im linken Lager, das habe ich alles nicht gesehen. Und ich konnte da für mich auch eine Zukunft als Parteimitglied nicht sehen.

Müller: Glauben Sie, dass grundlegende Werte der Sozialdemokratie durch den Beschluss jetzt verraten wurden?

Lagodinsky: Ich glaube, dass diese grundlegenden Werte durch den Rückzieher seitens des Vorstandes verraten worden sind und seitens der übrigen drei Antragssteller. Unsere Grundwerte sind nun mal Überzeugungen und Prinzipien, die darin liegen, dass alle unabhängig von ihrer Herkunft in unserer Gesellschaft, in dieser Gesellschaft alles erreichen können. Und wir, als Partei, als politische Kraft, alles dafür tun, um diesen Menschen zur Seite zu stehen.

Wenn gleichzeitig so prominente Mitglieder der Partei das Gegenteil behaupten, nämlich – und ich will jetzt nicht wiederholen diese ganzen inhaltlichen Überlegungen vom Noch-Genossen Sarrazin – das schadet der Partei. Und deswegen habe ich mit Verwunderung festgestellt, dass so viele in der Schiedskommission der Überzeugung waren, dass wir überhaupt keinen Schaden, keinen erheblichen Schaden hier sehen.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Sergey Lagodinsky, das ist der Gründer des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten, über den Umgang der SPD-Spitze mit Thilo Sarrazin. Und weil ihm das nicht gefiel, wie das da passiert ist, hat er sein Parteibuch zurückgegeben. Die SPD hat sich in den vergangenen Jahren sehr schwer getan mit Thilo Sarrazin, hat es nicht geschafft, eine wirklich klare Position zu entwickeln,

Sie werfen den Genossen sogar – das habe ich gestern in der Tageszeitung "Taz" lesen können – Visionslosigkeit vor. Was meinen Sie damit?

Lagodinsky: Das ist das, was ich vorher auch angesprochen habe, dass das natürlich über dieses Verfahren hinausgeht. Es geht darum, dass wir eigentlich an der Basis in der SPD ganz gute Integrationsarbeit leisten, aber auf der Bundesebene hat bisher der Mut gefehlt, da sich dementsprechend auch zu positionieren und auch eine Vision einer Vielfalt-Gesellschaft offensiv zu verteidigen. Wenn wir schon eine Fortschrittspartei – oder wenn die SPD, muss man jetzt sagen, schon eine Fortschrittspartei ist und sich als solche versteht, dann muss sie doch diese Themen nicht der CDU oder anderen Parteien überlassen, sondern selber gestalten.

Und das fängt innerhalb der Partei selbst an, jetzt, wo ich jetzt nicht mehr Mitglied bin, kann ich doch auch darauf hinweisen, dass etwa wir kaum Persönlichkeiten sehen mit Migrationshintergrund, die eine entscheidende Rolle auf der Bundesebene spielen. Da kann man verschiedene Gründe dazu finden ...

Müller: ... anders als bei der CDU zum Beispiel.

Lagodinsky: Anders bei der CDU, anders als bei den Grünen, bei der Linken, bei der FDP – bei allen Parteien haben wir Leute, die eben ausländischen, migrantischen Hintergrund haben und eine führende Rolle spielen. Man kann sagen, die Migranten sind noch nicht so weit, aber das ist ja auch die Verantwortung der Partei und der Parteistrukturen, ...

Müller: Oder ...

Lagodinsky: ... das zu unterstützen, dass diese Menschen nach vorne kommen.

Müller: Oder ist die SPD einfach nicht attraktiv genug? Die Leute, die sich politisch engagieren aus Migrantenkreisen, das sind ja dann doch eher Leute, die vielleicht auch nicht unbedingt der Arbeiterschaft zuzurechnen sind.

Lagodinsky: Das stimmt so nicht. Wenn Sie jetzt in die Parteigliederungen gehen – ich bin ja auch Mitglied des Arbeitskreises Integration Migration gewesen, der jetzt erst vor kurzem gegründet worden ist. Da gibt es genug, eigentlich sehr viel talentierte junge Menschen migrantischer Herkunft, und sie sind auch bereit, da Verantwortung zu übernehmen. Woran es scheitert, ist mir noch ein Rätsel.

Müller: Es bleibt Ihnen offensichtlich ein Rätsel. Gibt es denn irgendeinen Verantwortlichen, den Sie ausmachen können, oder verantwortliche Kreise dafür, dass es diese Migrantenleere gibt, sozusagen, in der SPD?

Lagodinsky: Nein, ich glaube, das liegt nicht an Personen, das liegt an einer bestimmten Denke und einer Überzeugung, die übrigens auch jetzt medial und allgemein gesellschaftlich etwas kultiviert worden ist, dass man heutzutage als Volkspartei den Stammtisch mit einschließen muss, und noch schlimmer, es vermeiden soll, den Stammtisch zu provozieren.

Und das ist eine Überzeugung, die ich überhaupt nicht teile, ich finde, dass die SPD auch als Volkspartei immer einen Schritt voraus war, dem Mainstream voraus war, und das soll auch weiter so gehen, und ich hoffe, dass durch diese Diskussion vielleicht auch die SPD jetzt ein bisschen aufholt und mutige visionäre Entscheidungen, was unsere Vielfaltszukunft anbelangt, auch trifft. Das bedeutet nicht, dass man über die Integrationsprobleme nicht redet, aber man darf über sie nicht so reden wie Herr Sarrazin oder andere es tun.

Müller: Nun hat sie mit Ihnen ja jemanden verloren, der offensichtlich sehr engagiert ist, das ist schade für die Partei, gut für Sie vielleicht. Was haben Sie jetzt vor? Sie haben ihre politische Heimat verloren, haben Sie neue Ziele, was politisches Engagement angeht?

Lagodinsky: Erst einmal ist es nicht gut für mich, und ich glaube, das habe ich auch zum Ausdruck gebracht, dass das eine schwierige Entscheidung für mich war. Ich bin ein politischer Mensch, engagiere mich in verschiedenen Strukturen, auch außerhalb der Parteien. Meine Zukunft ist jetzt nicht der Gegenstand der Diskussion, es geht um die Zukunft dieser großen Partei, der SPD, und gewissermaßen auch über unsere gemeinsame Zukunft der ganzen Gesellschaft, über unsere Vielfalt.

Müller: Sergey Lagodinsky jedenfalls hat die SPD verloren, der Gründer des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten ist ausgetreten, weil es ihm nicht gefallen hat, wie die Parteispitze mit dem Fall Thilo Sarrazin umgegangen ist. Haben Sie vielen Dank!

Lagodinsky: Vielen Dank!
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