Späte Bergung

Von Jochen Stöckmann · 01.09.2005
Die angeblich unsinkbare "Titanic" ging schon auf ihrer Jungfernfahrt unter. Erst 73 Jahre später konnten Tiefseeforscher das Wrack orten: In fast 4000 Meter Tiefe, 450 Seemeilen vor der Küste von Neufundland. Das Schiff war in zwei Teile geborsten, stahlfressende Bakterien hatten es befallen.
Eine aufwendige Technik mit "windmühlengroßen Schiffsschrauben" und dem Ruder "von der Höhe eine Ulmenbaums" hatte 1912 den Luxusliner Titanic nach der Kollision mit einem Eisberg nicht davor bewahrt, in der eisigen Tiefe des Atlantiks zu versinken. Unerreichbar für die Objektive der Sensationsreporter ruhte der stählerne Koloss seither auf dem Meeresgrund - bis dann am 1. September 1985 ein Team des französischen IFREMER-Instituts gemeinsam mit dem US-Tiefseeforscher Robert Ballard das Wrack endlich ortete. Was alle Welt sich bis dahin nur hatte vorstellen können, was in literarischen Bildern oder Spielfilmen ausgemalt wurde, das wollte Robert Ballard in Augenschein nehmen:

"Zuerst fiel das Sonar-System aus, aber ich hatte ja die geortete Position. Dann blieb auch die Funkpeilung aus, ich wusste nicht mehr, wo wir waren. Unser Boot war nur noch ein Spielball im Ozean, eine Kugel mit einem sehr kleinen Fenster. Zur Titanic war es etwa noch eine Meile, aber war das Wrack vor uns oder hinter uns, rechts oder links?"Nautile" hieß das orangefarbene, gegen den gigantischen Wasserdruck mit Titan gepanzerte U-Boot - nach dem Vorbild der "Nautilus" von Jules Vernes Kapitän Nemo. Die Konstruktion ging in vielen Details zurück auf die fragwürdigen Errungenschaften des Kalten Krieges, war ein Produkt des Rüstungswettlaufs der U-Boot-Waffen. Auch Ifremer arbeitet eng mit der französischen Kriegsmarine zusammen, während Ballard als gänzlich unmilitärischer Entdecker drauf und dran war, der Technik ihren einstigen Nimbus von Frieden und Fortschritt zurückzugeben. Doch erst einmal war davon keine Rede:

"Ohne Sonar waren wir taubstumm und blind - und dann gab es auch noch diesen Wassereinbruch. Ein Kurzschluss drohte die Batterien zu beschädigen. Ein Desaster drohte, der Steuermann wollte die Fahrt abbrechen. Doch ich erwiderte "Auf diesen Moment habe ich zu lange gewartet, fahr’ weiter!"

Wie sich in Ballards Erwartungen archaische Sagenwelten und mystisch aufgeladene science fiction im Stile Stanley Kubricks mischten, zeigt die erste Reaktion des Entdeckers der gesunkenen "Titanic":

"Plötzlich war direkt vor uns eine Wand aus Stahl, wie im Film "2001”, wie die Mauern von Troja in der Nacht - das Ende der Welt. Ich sah aus meinem Bullauge, und ich musste weit hinaufschauen, denn es war die Titanic, die gut dreißig Meter über dem Kiel steil vor mir aufragte."

Das war also geblieben von einem Monument der Technik, deren Anfälligkeit Karl Kraus 1913 in die prophetischen Worte fasste: "Gott hat nicht Schiffbau studiert, was zurückbleibt ist der arme, schwache von einer starken Faust niedergeschmetterte Mensch". Nach dem gewaltigen Faustschlag einer Neutronenbombe sah es dort drunten auf dem Meeresboden allerdings aus: Über 600 Meter waren Wrackteile und persönliche Reiseutensilien verstreut, Ballard sah neben Ankerketten auch Koffer jener Passagiere der Dritten Klasse, die ihr spärliches Hab und Gut hatten retten wollen. Nur von den Menschen keine Spur, ihre Körper waren nach Jahrzehnten verschwunden.

"Wir trafen direkt auf den Bug und es schepperte "klack, klack". Es war wie bei Armstrong auf dem Mond. Da bemerkten wir die zehn Grad Schlagseite an Steuerbord - bekamen selber Schlagseite. Aber ich murmelte nur ergriffen "Wir sind an Deck der Titanic!""

Während Robert Ballard das Wrack als Gedenkstätte schützen wollte, drang das Ifremer-Team immer weiter ins Innere der "Titanic" vor, holte Porzellangeschirr und Champagnerflaschen, silbernes Besteck, Kleidung oder Postkarten und Briefe an die Oberfläche. In einer aufwendigen "Titanic"-Wanderausstellung stimmten diese Relikte ein Millionenpublikum auf die techniktrunkene Kreuzfahrtatmosphäre um 1900 ein. Mit dieser vorgeblich "authentischen" Illustration war nach der Entdeckung des Wracks jahrzehntelanges Unbehagen endgültig der schaurig-schönen Inszenierung gewichen.