Soziologie in Bildern

Glanz und Elend der Pariser Bohème

 "Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900"
Eine Frau betrachtet die Werke der Ausstellung "Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900" © picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Von Rudolf Schmitz · 05.02.2014
Düster, elegant, attraktiv, schonungslos realistisch - so lässt sich die Frankfurter Ausstellung "Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900" charakterisieren. Sie zeigt mehr als 200 Werke, die alle Aspekte des Pariser Schmelztiegels darstellen.
Diese Ausstellung ist eine einzige Soziologie in Bildern, in ihr ist alles zu sehen, was Glanz und Elend vom Montmartre um 1900 ausmacht. Denn Montmartre war die Gegenwelt zum mondänen Paris der breiten Boulevards, der große Plätze, der glanzvollen Fassaden. Das dörflich ärmliche Viertel zog Künstler wie van Gogh, Degas, Toulouse-Lautrec oder Picasso magisch an.
Ingrid Pfeiffer: "Die Künstler haben sich in einer Gegend nieder gelassen, die eher eine Arbeitergegend war, also sie war einerseits geprägt von Bettlern, Prostituierten, Straßenhändlern, von Armut, aber auch von Glanz. Es gab allein am Montmartre um 1900 rund 40 Cabarets und Varietés, also man kann sagen, dass es eine sehr aufgehitzte Zeit war."
Die Kuratorin Ingrid Pfeiffer hat mehr als 200 Werke zusammengestellt, die alle Aspekte dieses Schmelztiegels zeigen: Seine Dörflichkeit, seine Gärten, seine armseligen Gassen und Häuschen, seine Cafés und Varietés, seine Trinklokale, seine Tänzerinnen und Prostituierten. Es sind fantastische, weil ungewohnte Bilder: von Edgar Degas, Kees van Dongen und Pablo Picasso. Einfühlsame Studien vom Elend der Prostituierten, wie sie Henri Toulouse-Lautrec zeichnete und malte.
"Er selber lebte zum Beispiel monatelang in Bordellen, er war ein Außenseiter, er war kleinwüchsig, er identifizierte sich mit diesen Frauen, er sah sie mit großer Sympathie…"
Denn viele von ihnen waren Arbeiterinnen, die in den Fabriken so wenig verdienten, dass sie nur die Wahl hatten, zu verhungern oder ihren Körper zu verkaufen. Eine Ölskizze von Toulouse-Lautrec zeigt eine dieser Frauen, auf dem Bett ausgestreckt, als sei alles Leben von ihr gewichen. Van Gogh steuert nicht nur ein großartiges Strichel-Bild von der Gartenidylle Montmartres bei, sondern auch einen erotischen Akt und eine derbe Kopulationsszene. Doch obwohl einige grellrot anzügliche Sitzmöbel die Ausstellung durchziehen, ist sie alles andere als schlüpfrig.
Die noch impressionistisch wirkenden Anfänge von Picasso
Ingrid Pfeiffer: "Voyeuristisch ist fast gar nichts, es ist eher direkt, so würde ich es sagen, direkt, realistisch, offen für alle menschlichen Extreme."
Zwei graue geschwungene Wände durchkurven die ansonsten signalrot gehaltene Ausstellungsfläche, dort trifft man nicht nur auf malende Herren, sondern auch auf Künstlerinnen, die sich selbst darstellen oder einfühlsame Akte malen.
"Zum Beispiel die Künstlerin Marie Laurencin, Freundin des Kritikers Guillaume Apollinaire, sie war in dem Kreis rund um Picasso, im Bateau-Lavoire, diesem Atelierhaus, oder Susanne Valadon, ein wenn man so will, weiblicher Bohemien, was eine absolute Ausnahme ist. Sie arbeitete sich hoch vom Malermodell, zeichnete früh und Degas unterstützte sie, weil er ihr Talent sah."
Heraus stechen die ungewöhnlich zarten Zeichnungen und Gemälde von Pablo Picasso. Das sind einerseits die Gauklerfamilien, die ihr zerbrechliches Glück zu behüten versuchen, dann die zarten Frauengestalten aus der blauen Periode wie "Femme à la chemise" von 1905. Aber auch die noch impressionistisch wirkenden Anfänge von Picasso sind zu sehen, ungewöhnliche Frauenporträts von der Jahrhundertwende, farbsprühend und selbstbewusst gemalt.
Düster, elegant, attraktiv, schonungslos realistisch
Das Netzwerk der Künstler und Kunsthändler bildet den Abschluss der Ausstellung. Die Künstler porträtieren sich gegenseitig oder malen ihre Galeristen wie Berthe Weill oder Ambroise Vollard. Er wird von Pierre Bonnard als in sich versunkener Grübler mit Katze auf dem Schoss dargestellt.
Das Plakatmotiv zur Ausstellung zeigt eine aufreizende Frau in grünem Mantel, die sich grade vom Spiegel wegwendet, um spöttisch den Betrachter zu fixieren. Ein Bild von Louis Anquetin.
"Es ist ganz sicher eine Prostituierte, sie trägt einen Schleier über dem Gesicht, sie schaut sehr lasziv kokett aber auch abschätzig auf den Besucher, es ist ein sehr attraktives Bild, düster aber auch sehr elegant."
Düster, elegant, attraktiv, schonungslos realistisch – so lässt sich auch die Frankfurter Ausstellung charakterisieren. Sie beleuchtet ein wenig erforschtes Kapitel der Moderne, bietet eine Fülle von Entdeckungen, aber hinterlässt uns auch mit viel Melancholie.