Soziologe: Rechtsprechung in Russland ist Mittel zur Machtausübung

Erhard Stölting im Gespräch mit Gabi Wuttke · 15.12.2010
Der Osteuropa-Experte Erhard Stölting kritisiert den Missbrauch der russischen Rechtsprechung als politisches Instrument. In Russland herrsche die Auffassung vom Recht als Mittel zur Ausübung der Macht bereits seit der Zarenzeit, sagte er wenige Tage vor dem Urteil im Prozess gegen den Kreml-Kritiker und Milliardär Michail Chodorkowsk.
Gabi Wuttke: Wie soll ich unbemerkt 350 Millionen Tonnen Erdöl unterschlagen haben? Das fragt sich nicht nur Michail Chodorkowski. Aber genau so lautet der Vorwurf der russischen Staatsanwaltschaft. Ende Dezember wird das Gericht sein Urteil fällen.
Um Grundsätzliches zur russischen Justiz soll es jetzt im Interview mit dem Soziologen und Russland-Kenner Professor Erhard Stölting gehen. Guten Morgen!

Erhard Stölting: Guten Morgen!

Wuttke: Chodorkowski hat im Oktober im Gerichtssaal gesagt, in einem Moskauer Gericht ist ein Freispruch ein Ding der Unmöglichkeit. Verstehen Sie das als Ausdruck von Frustration, oder als realistische Einschätzung?

Stölting: Beides! Auf jeden Fall immerhin ein Prozent der Prozesse endet mit Freispruch. Das ist nicht viel.

Wuttke: Es heißt ja, wenn das Wort Gericht fällt, dann zucken die meisten Russen vor Schreck zusammen. Ist das ein Reflex, der noch aus der Zarenzeit stammt, oder ist der noch gar nicht so alt?

Stölting: Der stammt aus der Zarenzeit, der stammt aus der Sowjetzeit und der hat sich nicht groß geändert. Der Unterschied ist der: Bei uns sagt man ja, gibt es den Spruch, vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand. Da kann man sich in Russland sicherer sein: Man ist auf jeden Fall in der Hand des Richters.

Wuttke: Warum? Also was tragen die Russen erstens als Trauma mit sich herum und werden dann durch die Realität wieder bestätigt?

Stölting: Es ist ein Justizverständnis, denke ich. Das kann man sagen, das hat sich in diesem Punkt nicht geändert, und das ist, dass das Recht ein politisches Instrument ist. In der Sowjetzeit ließ sich das sogar marxistisch begründen, aber es ist auch allgemeines Verständnis, dass es so ist, nicht dass es so sein soll. Gerade der russische Präsident Medwedew hat ja auf Rechtsstaatlichkeit insistiert, möchte sie durchsetzen, aber das wird sehr schwierig sein in einem Justizapparat und eigentlich in einer breiten Volksmeinung, die der Auffassung ist, es ist anders und es wird nicht anders.

Wuttke: Wie erklärt sich denn diese Einschätzung, dass das Justizwesen ein Instrument eben vor allem der Bestrafung ist, wenn Sie sagen, dass heute auch nur 1 Prozent der Angeklagten freigesprochen werden?

Stölting: Es ist nicht ein Instrument der Bestrafung, sondern der Durchsetzung von Macht. So würde ich das eher formulieren. Da hängt natürlich die Bestrafung mit drin. Das ist auch aus der russischen autokratischen Geschichte verständlich. Man müsste in Europa immer überlegen, in Europa, Westeuropa, waren die politischen Parteiungen sehr viel unabhängiger voneinander und man hat vor Gericht Konflikte ausgetragen. In Russland wurde das etwas nachgeahmt unter den Zaren und nach Peter dem Großen, aber letztlich war immer die Vorstellung, es ist ein Machtinstrument, so wie es die Polizei ist, so wie es andere staatliche Bürokratien sind, mit der Maßgabe, Gerichte verkünden das Recht, verteilen das Recht, aber das Recht ist das, was sich die klugen Menschen an der Spitze des Staates vorstellen.

Wuttke: Was also bedeutet dann für die Russen überhaupt Gerechtigkeit?

Stölting: Es gab immer zwei Begriffe. Das eine ist eine Berufung auf metaphysische Gründe, auf religiöse Gründe, was Recht ist, Rechtsvorstellung, und dafür hat es in der russischen Geschichte immer Aufstände gegeben. Man darf nie vergessen, die russische Nation ist auf der einen Seite immer geduckt worden, aber war auf der anderen Seite immer rebellisch, und dahinter steckten auch Rechtsvorstellungen, aber nicht die einer formellen Justiz, eines formellen Justizapparates, der möglichst unabhängig von politischen Instanzen ist.

Wuttke: Und welche Rolle spielt in diesem großen Ganzen dann die Korruption?

Stölting: Die Korruption ist ein wesentliches Moment, eine Folge eigentlich, und zwar erst mal eine nicht intendierte Folge, wenn ich von den Vorstellungen ausgehe, der Zentralisierung von Macht, und darunter stand ja die Ära Putin, unter dieser Idee. Also unter Jelzin war die reine Korruption ausgebrochen, die hat es auch schon in Sowjetzeiten gegeben, aber sie hatte sehr stark zugenommen, ein Zerfall von Macht. Und die Idee Putins war, von oben her eine Machtvertikale zu schaffen, sodass von oben her Ordnung hergestellt werden kann gegen das Chaos der 90er-Jahre, also der Jelzin-Zeit. Das Problem bei dieser Machtvertikale, die ja auch Deutschen gar nicht so fern liegt – man muss Ordnung schaffen dadurch, dass man zentralisiert -, das ist, dass die Spitze sich sehr schlecht nach unten hin durchsetzen kann und dass von unten her die Idee dieser Machtvertikale, das heißt eine vereinigte schlagkräftige Macht, aufgefressen wird. Das ist natürlich keine Demokratisierung, sondern es ist tatsächlich Privatisierung von staatlicher Macht und damit nicht mehr beherrschbar. Was die Machtzentralisierung noch kann – und das zeigt sich im Fall Chodorkowski -, in einzelnen Fällen kann man von oben ganz besonders gut durchgreifen.

Wuttke: Sie haben gerade Präsident Jelzin genannt. Wenn man auf diese ersten Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schaut und dann die 20 Jahre seitdem, glauben Sie also, es hat nie eine echte Chance für echte Rechtsprechung in Russland gegeben?

Stölting: Doch, die gibt es immer wieder. Ich denke auch, das ist nicht für alle Ewigkeit. Im Moment ist die Konstellation schlecht, aber ich denke erstens, es gibt eine zwar schwache, aber existente rechtsstaatlich orientierte politische Strömung in Russland, es gibt Strömungen, die sie auch von Medwedew selber vertreten werden, denke ich, der das nicht durchsetzen kann angesichts seines Mitherrschers Putin, der ja viel mächtiger ist. Aber es gibt diese Ideen schon und Chodorkowski selbst, denke ich, in seiner späten Zeit, also kurz vor seiner Verhaftung 2003, hatte diese Ideen durchaus auch im Kopf und hat dafür auch viel Geld fließen lassen an entsprechende Organisationen, Parteien und dergleichen.

Wuttke: Über Russland, die Russen und die Justiz. Dazu Professor Erhard Stölting von der Uni Potsdam. Besten Dank, Herr Stölting, und schönen Tag.

Stölting: Danke!
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