Soziologe Krzysztof Wojciechowski

"Die Deutschen tun etwas sehr Seltsames"

Krzysztof Wojciechowski, Direktor des Collegium Polonicum Internationale Lehr- und Forschungseinrichtung der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und der Adam-Mickiewicz-Universität Posen.
Krzysztof Wojciechowski, Soziologe und Verwaltungsdirektor des Centrum Polonicum in Słubice © picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Moderation: Patrick Garber · 26.09.2015
Während Deutschland Flüchtlinge mit offenen Armen aufnimmt, hält sich unser Nachbarland Polen zurück. Warum eigentlich? Wovor fürchten sich die Polen? Würde ein Wahlerfolg der nationalkonservativen Partei in Polen die Beziehungen belasten? Der Soziologe Krzysztof Wojciechowski im Gespräch.
Deutschlandradio Kultur: Tacheles reden wir heute unter Nachbarn und das sozusagen am Gartenzaun. Wir sind in Słubice, das liegt in Polen direkt an der Oder, die hier die Grenze zu Deutschland bildet. Gegenüber am anderen Flussufer liegt Frankfurt an der Oder. Und ich bin hier zu Gast im Collegium Polonicum. Das ist eine deutsch-polnische Forschungseinrichtung, die gemeinsam von der Europauniversität Viadrina Frankfurt an der Oder und der Adam-Mickiewicz-Universität Posen betrieben wird. Mein Gastgeber und Gesprächspartner ist Dr. Krzysztof Wojciechowski. Er ist Verwaltungsdirektor des Collegium Polonicum und ein langjähriger Beobachter und – man kann ruhig auch sagen – Mitgestalter der deutsch-polnischen Beziehungen. – Guten Tag und dzień dobry, Herr Krzysztof Wojciechowski.
Krzysztof Wojciechowski: Guten Tag, Herr Garber.
Deutschlandradio Kultur: Herr Dr. Wojciechowski, Sie stammen aus Warschau. An der dortigen Universität haben Sie promoviert in Soziologie. Aber zu Beginn der 90er-Jahre hat es Sie nach Frankfurt an der Oder verschlagen. Hier leben und arbeiten Sie bis heute. – Wie kam es dazu?
Krzysztof Wojciechowski: Die Motive waren eher privater Natur. Ich war verheiratet mit einer DDR-Bürgerin damals noch, die sich zuerst entschlossen hatte, mit mir in Polen zu wohnen, aber dann nach der Wende kam sie zu dem Schluss, dass doch die Geschichte hier ihre Blüte entfaltet und sie möchte doch lieber in Deutschland weiter wohnen. Nolens volens bin ich mitgekommen mit sehr bescheidenen Perspektiven für die berufliche Karriere. Aber ich habe doch Glück gehabt, habe gehört, dass die Universität hier gegründet wird, und habe mich im Universitäts-Gründungsbüro beworben. Seit März 1991 arbeite ich für die Viadrina. Später wurde ich beauftragt, das Collegium Polonicum aufzubauen.
Es ist ein großes Abenteuer gewesen und ich bin glücklich, dass ich diese Episode in meinem Lebenslauf hatte.
Deutschlandradio Kultur: Sie leben also seit fast einem Vierteljahrhundert hier in der Grenzregion zwischen Polen und Deutschland, des einigen Deutschlands. Am kommenden Wochenende feiern wir ja 25 Jahre deutsche Einheit. In Ihrer Sicht als polnischer Beobachter aus nächster Nähe, wie hat sich dieses Deutschland in den vergangenen 25 Jahren verändert?
Krzysztof Wojciechowski: Sehr stark, überraschend, faszinierend. Ich hätte nie gedacht, dass sich das Land in dieser Richtung entwickelt. Das erste, was ich bewundert habe, war natürlich die Wiedervereinigung, ein Akt der Organisation und ein Kraftakt, der Sondergleichen in der Weltgeschichte sucht. Ich hätte nie gedacht, dass es so gut gelingt – mit allen Vorbehalten, mit allen negativen Urteilen, die man ex post fällen kann. Das war ein gewaltiger Kraftakt und er war gelungen: ein Viertel sozusagen des Organismus anzuschließen, mit einer Währung zu verbinden, mit einem Wirtschaftssystem zu vereinen und trotzdem nicht eine große Inflation zu verursachen, keine Explosion von Unterhaltskosten, keine Massenmigration, die gab es natürlich auch, einen Lebensstandard zu gewährleisten und eine Produktivität nach 10, 15, 20 Jahren zu erreichen, die sich sehen lässt. – Das hätte kaum eine andere Nation meiner Meinung nach erreicht. Die Deutschen haben es geschafft.
Deutschlandradio Kultur: Wie viel alte DDR und wie viel alte BRD sehen Sie noch in dem vereinigten Deutschland, gerade auch bei den Menschen?
Krzysztof Wojciechowski: Ziemlich viel. Obwohl, wissen Sie, für mich gibt es ein paar ganz einfache Kriterien, zum Beispiel Gespräche am Frühstückstisch an der Universität.
Früher, Anfang der 90er-Jahre, verliefen die Gespräche immer nach demselben Muster. Als ich mit den Ostdeutschen gefrühstückt habe, haben wir über die Westdeutschen gelästert, wie arrogant, besserwisserisch, sagen wir, unerfahren, naiv, spektakulär mit großer Schnauze, aber doch nicht inhaltlich versiert sie sind. Als ich mit den Westdeutschen gefrühstückt habe, haben wir über die Ossis gelästert, wie borniert, sagen wir, auch faul, unorganisiert usw. sie sind. Als die Ossis mit den Wessis gefrühstückt haben, haben sie über die Polen, über die Diebe usw. gelästert.
Diese Gespräche haben aufgehört, wirklich. Manchmal weiß ich nicht einmal, von wo jemand stammt. Ist er ein Wessi, ein Ossi, wie ist seine Biografie? Die Biografien haben sich vermischt, die Mentalitäten weitgehend. Die Art und Weise, wie man mit anderen kommuniziert und was man zu bieten hat, ist auch vereinheitlicht worden. Übrigens, dasselbe betrifft Deutsche und Polen generell in diesem Gebiet. Also dieser Unifizierungsprozess, der heilende Unifizierungsprozess hat stattgefunden, und zwar in einem Tempo, welches ich damals zu Beginn der 90er-Jahre nicht vermutet hätte.
Deutschlandradio Kultur: Voraussetzung damals für die Erlangung der deutschen Einheit war auch die endgültige Regelung der deutsch-polnischen Grenzfrage an Oder und Neiße durch den Zwei-plus-vier-Vertrag und dann durch den deutsch-polnischen Vertrag über den Grenzverlauf.
War das damals aus polnischer Sicht eigentlich nur noch eine völkerrechtliche Formalität, die man halt erledigen musste? Oder gab es damals Befürchtungen, dass ein vereintes Deutschland die Grenzfrage nochmal aufwerfen würde?
Generelle Angst vor der Macht Deutschlands
Krzysztof Wojciechowski: Es gab generelle Angst vor den Potenzen, vor der Macht des neuen Nachbarn, eines Landes mit 80 Millionen Einwohnern, zentraler Rolle in Europa.
Ich als junger Pole, geboren Ende der 50er-Jahre, erzogen in den 60er- und 70er-Jahren, lebte in ständiger Angst vor dem deutschen Staat, vor dem westdeutschen Staat – die DDR hat man irgendwie ausgeklammert. Das war die Folge des Zweiten Weltkrieges, dieser ganzen traumatisierenden Erlebnisse, die die Polen im Zweiten Weltkrieg hatten, infolge der gezielten staatlichen Propaganda, die die, sagen wir, Einheit der Nation durch das Schüren der Angst vor dem deutschen Revisionismus und Imperialismus erzielen wollte. Und plötzlich soll man einen Vorgang akzeptieren, der im Grunde genommen alle diese Ängste noch stärkt und wiederbeleben lässt.
Die Angst vor der Expansion des deutschen Kapitals. Hätte man damals einen durchschnittlichen Polen gefragt, was werden die Deutschen mit den polnischen Westgebieten tun, er hätte gesagt: Sie werden versuchen es aufzukaufen. Das sind ihre alten Gebiete und sie haben Geld und ein Hektar Feld kostet in Polen ein Zehntel davon, was er in Deutschland kostet. Also, sie werden das aufkaufen, wenigstens versuchen. Deswegen gab es diese Verhandlungen Polen und Deutschland im Vorfeld der Erweiterung der Europäischen Union. Die Polen hatten Angst vor der Landübernahme durch die Deutschen, die Deutschen vor der billigen Arbeitskraft aus Polen.
Jedenfalls die Ängste waren noch da. Und man brauchte die Zeit, um in einem sozusagen langsamen Prozess der Kooperation das Ganze abzubauen. – Es ist gelungen. Es ist fantastisch gelungen.
Ich kann mich erinnern an den Anfang der 90er-Jahre, als hier wirklich ein Problem war, auf die andere Seite zu gehen und dort was zu erledigen – für die Polen und für die Deutschen. Die meisten Deutschen sind natürlich zum Basar gegangen und um Benzin zu tanken, aber das taten sie nur auf festgefahrenen Pfaden. Schon ein Abstecher, 50 Meter, um – ich weiß nicht was – im Restaurant etwas zu essen, war schon ein Kraftakt. In ganz Słubice lebten vielleicht zehn Personen, die sprachlich und mental in der Lage waren, in Frankfurt etwas zu erledigen.
Ich habe begonnen im Rathaus im Universitäts-Gründungsbüro, damals gab es die Universität nicht. Dann machte ich eine blitzschnelle Karriere als der einzige Mensch im Rathaus in Frankfurt an der Oder, der mit Polen telefonieren kann. Das war eine Grenzstadt seit 50 Jahren, sozialistische Brüderschaft usw., aber im Rathaus konnte kein Mensch mit der polnischen Seite telefonieren. – So waren die Realitäten.
Jetzt haben wir praktisch einen nicht ganz homogenen, aber einen Organismus hier vor Ort, der über die Grenze funktioniert, mit unzähligen Kanälen verbunden ist und keine Erscheinungen von Intoleranz gegenüber dem anderen hat. Das ist wirklich auch in menschlicher Hinsicht eine fantastische Entwicklung.
Deutschlandradio Kultur: Also, wie es früher war zu DDR-Zeiten und zu Zeiten der Volksrepublik Polen, dass man sozusagen Rücken an Rücken miteinander lebte, das ist jetzt hier in der Region überwunden? Das wächst zusammen, sagen Sie?
Krzysztof Wojciechowski: Ich würde sagen, es ist überwunden. Natürlich ist es immer noch so, dass ein durchschnittlicher Frankfurter noch nie in einer privaten Wohnung in Słubice gewesen ist und vice versa. Aber wir haben eine Schicht von Menschen, die im Alltag über die Grenze sozusagen auf beiden Seiten lebt. Die zählt 1000, 1500 Personen. Also eine Wohnung hier und die Arbeitsstätte dort, Kindergarten hier und Musikschule auf der anderen Seite, Einkäufe hier, Restaurant hier, Golfklub hier usw. – Ehefrau hier, Freundin auf der anderen Seite, das gibt’s auch.
Früher war die Trennung krass, radikal. Das erste sozusagen Vertrauensbekenntnis meiner Arbeitskollegin im Rathaus, die in meinem Zimmer gesessen hat, war: "Krzysztof, weißt du, dir kann ich das sagen, ich gehe nach Polen nie."Also eine: "Mit diesem Gesindel lasse ich mich nicht ein."Jetzt in diesem Jahr im Februar treffe ich sie in einem Spa, also in einer Wellness-Anstalt in Ośno, das ist 20 Kilometer weiter. Sie verbringt dort eine Woche und sagt: "Krzysztof, ich hätte nie gedacht, dass hier so fantastisches Wellness angeboten wird, alles stimmt, die Leute sind höflich, alles auf dem höchsten Niveau, ich bin glücklich – und dazu noch der Preis!" – So haben sich die Haltungen gewandelt.
Wir müssen natürlich realistisch sein. Es ist nicht so, dass ein Deutscher und eine Polin sich dann sozusagen jeden Tag treffen und Freundschaft betreiben. Diese Organismen leben weitgehend getrennt immer noch, aber sind mit immer mehr Fädchen, Kanälen, Banden verbunden. Und dieser Prozess nimmt zu.
Deutschlandradio Kultur: Welche Rolle spielt dabei die Institution, der Sie vorstehen, das Collegium Polonicum? Sie haben ja Studierende aus Polen, aus Deutschland, aus anderen Ländern, etwa tausend Studierende, wenn ich das richtig weiß, die sich mit grenzübergreifenden und europäischen Themen beschäftigen im Bereich Geistes-, Sozial- und auch Umweltwissenschaften.
Wie eng sind Sie verzahnt mit der Viadrina-Universität am anderen Flussufer? Ist das inzwischen ein Universitätsstandort oder forscht und lehrt jeder so ein bisschen vor sich hin?
Krzysztof Wojciechowski: Wir sind eine gemeinsame Einrichtung der Europauniversität Frankfurt Oder und der Adam-Mickiewicz-Universität Posen. Wir wollen diese Zusammenarbeit noch vervollkommnen, indem wir die in Europa erste gemeinsame Fakultät aufbauen werden. Sie wir heißen: internationale Fakultät für europäische und regionale Studien. Die Pläne sind ehrgeizig. Das Geld, sagen wir, wird perspektivisch bei den Regierungen in Polen und in Deutschland erworben.
Unsere 20-jährige Geschichte ist die Geschichte eines Aufbaus eines Studiums auf allen Ebenen dieser Institution, also nicht nur Forschung und Lehre, aber auch Organisation, Technik, Arbeitsrecht usw. Da haben wir schon wirklich viel getan. Ich kenne kein anderes Beispiel, obwohl internationale Zusammenarbeit in Europa gang und gäbe ist im universitären Bereich. Aber nirgendwo gibt es diesen tiefen Schnitt durch die ganze Struktur einer Institution. Diese Zusammenarbeit war immer der Wegbereiter der Kontakte hier. Wir haben hier viele Dinge gemacht, die den Leuten mentale Fenster auf den Nachbarn geöffnet haben und sie dazu bewegt haben, in ihrem Bereich auch etwas Ähnliches zu tun.
Kriminelles Schlachtfeld ist heute Flaniermeile
Wir müssen uns noch an den Beginn der 90er-Jahre erinnern, wo diese Grenze eine scharfe Grenze zwischen Ost- und Westeuropa war, wo das Lohngefälle zehn zu eins war und wo diese Brücke ein richtiges Schlachtfeld war zwischen den deutschen Beamten – Grenzschützern, Polizisten und Zöllnern – und den polnischen Kriminellen, Schmugglern, Autodieben usw. usf. So waren die Realitäten damals. Wenn Sie heute über die Brücke flanieren, dann flanieren Sie so wie über Pont Neuf in Paris. Sie gucken nach rechts, links, Leute laufen mit Hündchen, kleine Kinder alleine über die Brücke usw. Die Sachen sind vergessen, aber es ist praktisch ein Wunder, dass das alles überhaupt möglich war.
Deutschlandradio Kultur: Frankfurt und Słubice ist schon was Besonderes durch die Universitätslandschaft, die es hier gibt. Andere Orte im Grenzgebiet haben es da nicht so gut, zumal sowohl auf der deutschen wie auf der polnischen Seite das ja eher strukturschwache Regionen sind. Gemeinden und Landkreise haben kein Geld, hohe Arbeitslosigkeit, viele, vor allem jüngere Menschen, wandern ab.
Können diese gemeinsamen Probleme in der Grenzregion auf dieser und auf der anderen Seite auch eine Chance sein, indem man mit dem wenigen, was man hat, grenzüberschreitend plant, die knappen Ressourcen zusammenwirft?
Krzysztof Wojciechowski: Theoretisch schon. Leider ist es so, dass Misserfolge und Probleme nur scheinbar die Menschen verbinden. Lieber Erfolge und große Chancen und Entwicklungsschübe, das verbindet mehr. Man muss das operationalisieren, was man hat. Und man hat momentan tatsächlich nicht allzu viele Ressourcen.
Die beiden Städte hier zum Beispiel gehen einen sehr guten Weg. Das heißt, sie verkaufen sich nach außen als eine Stadt, werben beide für Investoren mit der Grenzlage, versuchen ein gemeinsames Image aufzubauen. Auf dem Kopfbogen der beiden Städte steht nicht Frankfurt oder Deutschland, sondern "Doppelstadt", Frankfurt oder Słubice, europäische Doppelstadt. Das sind sehr sympathische Sachen.
Und in der Tat, es sind nicht nur Floskeln, sondern es verwandelt sich in eine Art Flair von diesem Standort. Wenn Sie mit den Leuten sprechen, die in Greifswald oder in Chemnitz wohnen und diesen Standort kennengelernt haben oder die selbst aus Warschau kommen und sehen, was für ein Ort das ist, dann sagen diese Leute, es ist tatsächlich etwas Internationales hier, etwas Europäisches hängt in der Luft. Die Menschen sind freundlicher, netter. Man hört viele Sprachen in den Straßen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben vorhin daran erinnert, dass zu Beginn der 90er-Jahre doch noch gewisse Befürchtungen in Polen bestanden haben, was deutsche Vormachtstellung angeht. Diese Zeiten, sind die jetzt endgültig vorbei? Ist in Polen keine Befürchtung mehr, dass Deutschland durch seine Wirtschaftskraft, durch sein großes politisches Gewicht in der Europäischen Union dominieren könnte?
Krzysztof Wojciechowski: Momentan sind diese Befürchtungen nicht größer als woanders. Das heißt, Deutschland in den 2000er-Jahren hat sich völlig unbemerkt und ungewollt zu einer Größe entwickelt, die über die europäische Szene dominiert. Das ist ein sehr bemerkenswerter Prozess. Das geschah ohne den politischen gezielten Willen. Natürlich nicht nur die Polen, aber auch die Briten, Franzosen usw. haben ein bisschen Angst vor dieser Größe. Nur in Polen, dieser scharfe Bei-Ton, das heißt, "die Deutschen haben schlechte Absichten und sind schon immer Brutalos gewesen und so sind sie geblieben hinter der Maske der guten Europäer", also, das ist verschwunden. Und zwar verschwand das viel früher als die Wiedervereinigung Deutschlands und auch Aufnahme Polens in die EU. Schon in den 80er-Jahren, das ist meine These, mit der Aktion der Hilfe für Polen in der Solidarność-Zeit, es kamen damals 80 Millionen Pakete nach Polen, davon kamen drei Viertel aus Deutschland, also Hilfspakete mit Nahrungsmitteln usw. Das ist meiner Meinung nach die Zäsur, wo die Polen nicht mehr die Deutschen als sozusagen böse Menschen, sondern als Gutmenschen oder erstmal neutrale Menschen zu empfinden begannen. Heute sind die Ängste nicht da.
Natürlich, das asymmetrische Verhältnis, großes Deutschland, mittelgroßes, im Vergleich zu Deutschland kleines Polen, ist immer eine Nahrung für Ängste und für Instrumentalisierung der Ängste, das heißt, für das Unterstellen der fragwürdigen Motive der anderen Seite, um eben politische Ziele zu erreichen.
Der Mainstream in Polen hat momentan keine Angst vor den Deutschen, eher, auf der Sympathieskala stehen die Deutschen sehr hoch. Man weiß, die polnische Wirtschaft hängt von der deutschen ab. Man weiß, politisch stimmen die Verhältnisse. Nur natürlich ist es die Frage, wie weit die Kooperation akzeptiert werden kann. Wie weit kann man die Verhaltensmuster oder Maßstäbe, die die Deutschen setzen, akzeptieren ohne Verlust an Selbstwertgefühl und eigener Identität?
Es gibt natürlich in Polen ein politisches Lager, das ist rechts. Das ist die Partei PiS und noch kleinere Parteien im rechten Spektrum. Die sagen: "Ja, wenn wir weiter so machen, dann sind wir nur ein Anhängsel an Deutschland, 17. Bundesland oder so was. Wir müssen, um eben eigene Identität zu bewahren, uns quer stellen und auf eigene Weise, andere Weise zu verschiedenen Problemen positionieren, einschließlich Migration, einschließlich Vertiefung der europäischen Integration, Griechenlandfrage usw. usf."
Deutschlandradio Kultur: Beim Thema Migration gibt’s ja in der Tat zurzeit Meinungsverschiedenheiten auf der großen politischen Ebene zwischen Berlin und Warschau. Die Bundesregierung hat viel Druck gemacht für verbindliche Quoten, nach denen Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedsländer, darunter eben auch Polen, verteilt werden sollen. Polen nimmt jetzt einige tausend Flüchtlinge auf, gehört aber eher zu den Bremsern in Europa bei der Flüchtlingsfrage. – Warum? Wovor fürchtet sich Polen?
Krzysztof Wojciechowski: Sie müssen sich vorstellen, dass in einer durchschnittlichen provinziellen polnischen Stadt ein Mensch, der anders aussieht als ein Pole, immer noch für Sensation sorgt. Polen ist immer Migrationsland gewesen, aber in einer Richtung. Die Polen emigrierten ins Ausland und keiner emigrierte nach Polen, ausgenommen ein paar Episoden in der Geschichte.
Es ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein homogener Staat geworden. Früher war das ein Vielvölkerstaat. Jetzt ist es ein homogener Staat. 90 Prozent der Polen sind polnischer Nationalität und Katholiken. Nur irgendwie zehn Prozent sind etwas anders und vielleicht fünf Prozent sind andersgläubig. Also, das Andersartige ist immer noch eine Rarität. Natürlich, in dieser Situation entstehen Ängste, die unbegründet sind, entstehen Mythen, sagen wir, Horrorgeschichten werden in Köpfen geboren. – Was ist, wenn plötzlich tausende Muslime usw. aufgenommen werden ins Land und unter uns leben müssen?
"Polen könnte ein, zwei Millionen Menschen ohne Weiteres integrieren"
Polen könnte ein, zwei Millionen Menschen ohne Weiteres integrieren und braucht diese Menschen auch wegen der demografischen Entwicklung. Das Land altert, braucht genauso wie Deutschland frisches Blut. Nur natürlich, die Bedingung ist, dass sich etwas in den Köpfen ändert. – Und es ändert sich.
Die Umfragen zeigen im Laufe der letzten Monate, dass das Lager derjenigen, die sagen, ja, wir sind moralisch verpflichtet usw., wächst. Einige Befragungen zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung für die Aufnahme von Flüchtlingen ist. Und auch der Fremdenhass, obwohl er nach außen so schlimm aussieht, ist praktisch nicht so schlimm, wie man es vermuten könnte.
Ich habe gestern eine Zahl gelesen, eine Ziffer gelesen, nämlich 17 Prozent der Polen sind bereit, einen Muslim oder eine Muslimin in der Familie zu akzeptieren – 17 Prozent! Da kann man sagen, "na ja, aber 80 Prozent sind nicht bereit, das ist ein Skandal" usw. Ich darf die Hörer daran erinnern bzw. ich darf ihnen sagen, dass 1991 eine solche Untersuchung im deutsch-polnischen Grenzgebiet zu dem Ergebnis führte, dass nur 3,7 Prozent der Deutschen und 3,5 Prozent der Polen damals bereit waren, einen Vertreter des Nachbarvolkes als angeheiratetes Familienmitglied zu akzeptieren. Das heißt, damals waren die Deutschen viel polenfeindlicher als heute die Polen islamfeindlich sind.
Welchen Weg wir gemacht haben hier: 80 Prozent akzeptieren momentan zwischen Deutschen und Polen jede Form von Kontakten und von Annäherung. Das werden die Polen auch machen mit den Muslimen oder nur Einwanderern. Sie brauchen nur die Zeit. Sie brauchen günstige Bedingungen und auch vernünftige Argumente. Nämlich aus polnischer und aus osteuropäischer Perspektive hat irgendeine böse Kraft die Deutschen des gesunden Menschenverstandes beraubt, dass sie nichts gegen Menschenkolonnen haben, die aus Hunderttausenden bestehen. Diese Kolonnen zertrampeln alle Grenzen und alle Gesetze, die es in Europa gibt und strömen nach Deutschland. Und die Deutschen begrüßen sie noch mit Blumen. Das ist in den Augen der Osteuropäer irgendeine Störung des Geistes. Das können sie nicht verstehen und nicht einordnen. Da stehen ihnen die Haare zu Berge. – Was wird mit Europa? Was wird mit Deutschland usw.?
Und ich muss auch sagen, das ist im Weltmaßstab ein einmaliger Vorgang. Und die Deutschen sollen sich dessen bewusst sein. Es ist nicht so, dass sie die einzig wahre moralisch-edle Haltung predigen und das Recht haben, von anderen dieselbe Haltung zu erwarten, sondern dass sie etwas sehr Seltsames tun und eher in Erklärungsnot gegenüber sind als in einer Poetik der moralischen Predigt.
Deutschlandradio Kultur: In Polen ist zurzeit Wahlkampf. In vier Wochen wird ein neues Parlament gewählt. Und die Umfragen sagen, dass höchstwahrscheinlich die von Ihnen schon erwähnte nationalkonservative Partei "Recht und Gerechtigkeit" gewinnen wird.
Wir erinnern uns an Jarosław Kaczyński und Lech Kaczyński, die beiden Zwillinge, die einige Jahre lang Staats- und Ministerpräsident Polens waren. Damals waren die deutsch-polnischen Beziehungen belastet, die Beziehung Polens zu Europa erst recht. – Droht uns das wieder?
Krzysztof Wojciechowski: Ich würde so sagen: Damals tatsächlich, diese zweijährige Periode, die hat uns zu schaffen gemacht, obwohl wir uns zu Beginn gesagt haben, "ach, wir ignorieren die Regierung, die symbolischen Gesten usw. Wir machen unsere Sache weiter." – Dann doch irgendwie nach gewisser Zeit aus diesen oder anderen Gründen haben wir uns in die Wolle gekriegt, ja. Und das war schon schwierig. Es ist so, dass doch gewisse Impulse von oben nach unten durchdringen und es war problematisch.
Ich hoffe sehr, dass die neue Generation bei PiS, und die ist schon sozusagen am Steuer, …
Deutschlandradio Kultur: PiS ist die polnische Abkürzung für die Partei "Recht und Gerechtigkeit".
Krzysztof Wojciechowski: Ja, das ist die Partei von Kaczyński, den ehemaligen Zwillingsbrüdern, von Jarosław Kaczyński.
…, dass diese neue Generation etwas anders denkt. Das heißt, vermutlich wird sie in der symbolischen Sphäre weiter Distanziertheit demonstrieren, weil, im Grunde genommen ist das eine Partei der Globalisierungs- und Europäisierungsverlierer. Sie definieren sich negativ. Das ist ihre einzige Chance, sich durch nationale und auch religiöse Parolen zu definieren. Aber die Schärfe ist nicht mehr dieselbe. Auch ein gewisser Realitätssinn ist vorhanden. Man weiß, man kann sich als ein mittelgroßes Volk nicht alles in Europa leisten. Man kann das ganze Europa nicht in Schach halten.
Auch der Präsident Duda, der eben eindeutig Mitglied dieser neuen Generation ist, der ist nach Deutschland gefahren. Zwar hat er dann das polnische Selbstwertgefühl aufpumpen wollen, indem er vorgeschlagen hat, mit der Ukraine soll auch Polen mit verhandeln, also mit Russland und der Ukraine, aber das ist total unrealistisch und kontraproduktiv. Aber die Töne waren ganz anders als damals 2005. Auch die Minderwertigkeitskomplexe der Polen, die damals eine wesentliche Rolle gespielt haben, sind nicht mehr da. Polen sind selbstbewusste Europäer geworden. Sie wissen, was sie wert sind und haben diese Angst nicht mehr.
Also, ich hoffe sehr, dass diese Regierung ein zwar nicht besonders emotional warmes Verhältnis zu Deutschland entwickeln wird, aber ein realistisches Verhältnis.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
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