Soziologe: Geißler wird scheitern

Moderation: Dieter Kassel · 11.10.2010
Der Soziologe und Bewegungsforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin glaubt nicht an einen Vermittlungserfolg Heiner Geißlers beim Streit um Stuttgart 21. Es sei strukturell unmöglich, die ihm übertragene Aufgabe zu lösen. Man könne den Gordischen Knoten nicht entwirren, sondern nur durchschlagen. Hierzu eigne sich allein eine Volksbefragung, so Rucht.
Dieter Kassel: In Stuttgart ist inzwischen eine gewisse Routine eingekehrt, eine Protestroutine allerdings. Montag und Freitag, das sind die großen Tage der Gegner des Projektes Stuttgart 21, der Verlegung des Hauptbahnhofs unter die Erde, Donnerstag ist der Tag, an dem die Befürworter des Projektes auf die Straße gehen, oder besser gesagt in den Schlosspark. Am Samstag wird außerdem auch noch protestiert, an diesem Wochenende waren es laut Polizei 65.000 Demonstranten, die Veranstalter reden sogar von bis zu 150.000. Wer also auch immer geglaubt hat, das werde sich alles schon noch beruhigen, der sieht sich bis heute getäuscht. Die Protestbewegung – unser Thema jetzt im Gespräch mit dem Soziologen Professor Dieter Rucht, er ist einer der beiden Leiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin. Schönen guten Morgen!

Dieter Rucht: Guten Morgen!

Kassel: Was motiviert diese Leute immer noch und offenbar zum Teil auch immer stärker? Geht es da wirklich noch um die Verlegung eines Bahnhofs oder längst um ganz andere Dinge?

Rucht: Es geht natürlich auch um die Verlegung des Bahnhofs, aber es geht um mehr. Da drückt sich noch mal ein Missmut der Regierten gegenüber den Regierenden aus, das bündelt sich in diesem Projekt. Es geht darüber hinaus auch um die Vorstellung von Fortschritt oder von Tradition, also viele hängen vielleicht auch aus ganz emotionalen Gründen an diesem alten Bahnhof, das ist was Vertrautes, und sie glauben nicht, dass die Vorteile, die durch das neue Projekt versprochen werden, tatsächlich auch eintreten.

Kassel: Nun hat man in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Protestbewegungen in Deutschland ja immer mehr oder weniger mit linken Bewegungen gleichsetzen können. Wenn wir über die Friedensbewegung reden, die Antiatomkraftbewegung ... Ist das – gerade weil Sie auch gesagt haben, dieses Festhalten am Alten –, ist das zum ersten Mal eine wirklich in ihren Grundzügen konservative Protestbewegung?

Rucht: Es gab auch schon früher eher konservativ orientierte Bewegungen. Ich erinnere etwa an das Atomkraftwerk, das geplante Atomkraftwerk in Wyhl, in Südbaden, da waren es im Grunde die Anlieger, die Winzer, die Bauern, die vor allen Dingen gegen das Projekt waren. Und das war durchaus eine konservativ gesonnene Bevölkerung. Auch andere Projekte, Wackersdorf in Bayern, Rhein-Main-Donau-Kanal: Es war nicht so, als hätten da vorwiegend oder überwiegend die Linken protestiert.

Kassel: Ist denn dennoch diese Protestbewegung – Sie sind in Stuttgart gewesen auch letzte Woche –, ist die von der Atmosphäre von dem, was da passiert, denn grundlegend anders? Oder ist es letzten Endes, wenn man sich mal die Umgebung wegdenkt, auch keine andere Atmosphäre als früher mal und auch heute noch im Wendland oder bei anderen Gelegenheiten?

Rucht: Nach dem Anschein, also das, was man in den Medien sieht an Bildern, auch an kurzen Interviews, ist es schon so, dass die bürgerliche Mitte hier sehr, sehr stark vertreten ist. Es ist auch ungewöhnlich, dass eine Stadt mit dieser Häufigkeit und mit dieser Dichte, mit dieser hohen Emotionalität auch protestiert. Ich habe gedanklich nach Vergleichsfällen gesucht und bin eigentlich nur auf Serbien gekommen, da wurde um die Jahreswende '96/'97 im Grunde Tag für Tag mit großen Menschenmassen demonstriert. Aber da ging es um mehr als nur – ich sage jetzt "nur" – einen Bahnhof, da sollte das Regime Milosevic gestürzt werden, und das ist ja schließlich auch gelungen.

Kassel: Aber gerade so ein Vergleich ... Ich bin ganz froh, dass Sie den Vergleich jetzt gewagt haben, weil ja alle möglichen Vergleiche schon in der Luft sind: Die Vergleiche mit den Montagsdemonstrationen der DDR sind da, sind naheliegend, weil Montag einer der großen Demonstrationstage in Stuttgart auch ist, ich hab Vergleiche natürlich mit der Bewegung gegen den Nato-Doppelbeschluss in den 80er-Jahren, vieles andere gelesen. Das Härteste – das war allerdings auch ein Internetblog, kein redaktioneller Artikel – war tatsächlich ein Vergleich mit dem Widerstand – das ist auch noch ein Unterschied, müssen wir gleich noch drüber reden, Protest und Widerstand –, den Widerstand gegen Adolf Hitler in der Nazizeit. Ist das nicht alles langsam eine gewisse Hysterie? Ich meine kommen wir darauf zurück: Das sind Leute, die sich a) keinerlei Gefahr aussetzen und b) am Ende ja doch schlicht und ergreifend gegen ein technisches Großprojekt protestieren!

Rucht: Ich bin auch dafür, den Konflikt etwas niedriger zu hängen. Es steht nicht die Zukunft von Deutschland auf dem Spiel, es geht um ein regionales Bahnprojekt, nicht mehr und nicht weniger. Da spielen ja wie gesagt andere Motive mit rein, aber zunächst mal ist es ein sehr begrenztes Projekt, und in dem Zusammenhang von Widerstandsrecht jetzt im juristischen Sinne zu sprechen, erscheint mir ziemlich abwegig. Grundgesetz Artikel 20 (4) regelt ja das Widerstandsrecht, aber das bezieht sich darauf, dass jemand es unternimmt, diese staatliche Ordnung, im Grunde die demokratische Ordnung zu beseitigen. Dagegen gibt es ein Widerstandsrecht. Aber in anderen Zusammenhängen würde ich die Latte gleichsam tiefer hängen, ich würde hier von Protest oder anderem sprechen, aber nicht von einem Widerstandsrecht im juristischen oder verfassungsrechtlichen Sinne.

Kassel: Sind es eigentlich inzwischen im Wesentlichen immer noch die Stuttgarter und die Leute aus der näheren Umgebung, die da protestieren, oder hat langsam auch so ein Demonstrationstourismus eingesetzt?

Rucht: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube schon, dass es überwiegend die Stuttgarter sind, die Leute aus der Region. Es kann sein, dass einige aus Tübingen oder woanders mit dazu kommen, aber im Moment wird der Protest immer noch im Wesentlichen von den Stuttgartern getragen. Aber so ganz genau wissen wir das eben nicht. Es gibt derzeit noch keine Befragung der Demonstrierenden vor Ort.

Kassel: Es gibt allerdings eine Befragung der Bundesbürger, den Deutschlandtrend, den die ARD unter anderem immer macht, und da gab es zwei Ergebnisse, die, wie ich finde, wenn man sie in Zusammenhang bringt, sehr interessant sind: "Nur", in Anführungsstrichen, "nur" 54 Prozent der Befragten in ganz Deutschland haben gesagt, sie sind gegen dieses Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, gleichzeitig haben aber 94 Prozent gesagt, sie sind für die Proteste dagegen. Können Sie mir das erklären, dass man eigentlich die Ziele nicht teilt und trotzdem sich freut, dass es die Proteste gibt?

Rucht: Ich denke, die Protestierenden haben sich durch ihre Zähigkeit, durch ihre Massenhaftigkeit auch ein Stück Respekt bei der bundesweiten Bevölkerung verdient. Sicherlich kann ich sagen ... Ich kann nicht sagen sicherlich, aber vermutlich spielt auch dieser Polizeieinsatz eine große Rolle, also da erschienen ja die Protestierenden als Opfer, es gab da diese schrecklichen Bilder. Das haben die Leute im Hinterkopf. Es ist nicht sicher, wenn die Befragung jetzt noch mal zwei oder drei Wochen liefe, ob das gleiche Ergebnis in dieser Deutlichkeit zu verzeichnen wäre.

Kassel: Der Polizeieinsatz vom 30. September hat viele schockiert, ich glaube, das kann man inzwischen sagen, die Polizeieinsatzkräfte im Nachhinein fast genau so wie die betroffenen Demonstranten. Und viele hätten gedacht, das wird die Leute aber nun doch einschüchtern. Sie haben es ja schon gesagt, das ist so ein bisschen die bürgerliche Mitte, die da auch immer vorm Bahnhof und im Schlossgarten steht. Warum ist das offenbar nicht so? Denn es hat ja direkt am nächsten Tag, wie an den Tagen danach genau so viele Leute dorthin gezogen wie vor dem Einsatz.

Rucht: Ein harter Polizeieinsatz oder allgemeiner gesprochen Repression ist immer ein riskantes Spiel, es kann in zwei Richtungen münden: Einerseits kann dieser Protest oder kann Repression tatsächlich abschrecken, das heißt die moderaten Teile von Protestgruppen bleiben dann zu Hause, sie befürchten das Risiko, sie haben auch was zu verlieren, sie haben vielleicht Kinder zu Hause, wollen nicht in der Polizeizelle enden. Auf der andere Seite kann aber auch harter Einsatz oder überharter Einsatz Solidarisierungseffekte hervorrufen. Das war hier eindeutig der Fall, in Stuttgart insbesondere hatten die Leute Bilder von Jugendlichen, von Schülern vor Augen, die wirklich harmlos, so sieht es aus, demonstriert haben, und dann mit dem Knüppel oder mit dem Wasserwerfer, mit Tränengas traktiert wurden, und das hatte so eine Art Mitleidseffekt auch zur Folge. Deshalb diese breite Solidarisierung, deshalb das Anwachsen der Proteste nach dieser Aktion.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Dieter Rucht, Soziologe, beschäftigt sich seit langer Zeit mit dem Entstehen und der Entwicklung von Protestbewegung. Im Moment sind natürlich, Herr Rucht, alle Augen auf Heiner Geißler gerichtet, der nun schlichten soll, der als Mediator da auftritt. Aber kann es überhaupt einen Kompromiss geben, der letzten Endes das Ergebnis einer Schlichtung in der Regel ist, zum Beispiel bei Tarifverhandlungen. Ist denn eine Situation vorstellbar, mit der wirklich beide Seiten zufrieden sind? Man kann ja das Projekt nicht halb durchführen.

Rucht: Genau das ist das Problem, und deshalb glaube ich knüpfen sich zu viele Hoffnungen an die Person von Geißler. Er ist ein ehrenwerter und von beiden Seiten, nicht nur von beiden Seiten geschätzter Mann, aber ich glaube, das ist fast strukturell unmöglich, diese Aufgabe zu lösen. Es gibt eben, wie Sie sagten, anders als bei Tarifverhandlungen, bei Verteilungskonflikten, keine Mitte, in der man sich treffen kann, es ist ein Entweder-oder wie bei der Schwangerschaft: Ein bisschen schwanger geht in dem Fall nicht. Und ich vermute, dass Geißler entweder schon im Vorfeld oder im Zuge der Verhandlungen aufgibt oder dass eine der Konfliktparteien dann den Verhandlungstisch verlässt, sodass man wiederum beim Punkt null ist. Man müsste diesen Gordischen Knoten nicht mühsam entwirren, sondern man kann ihn nur durchschlagen – das wäre meine Position – mit einer Volksbefragung. Er wird im Grunde auch nicht durchschlagen mit der nächsten Landtagswahl, selbst wenn dort die Projektgegner, also sprich Grün insbesondere, vielleicht auch Rot gewinnen würden, denn eine Landtagswahl ist keine Sachentscheidung bezogen auf ein regionales Thema. Es ist immer ein Bündel von Überlegungen, von Entscheidungen, es ist eigentlich nicht gut, wenn ein Thema diese ganze Wahl überschattet.

Kassel: Im heutigen "Focus", dem Nachrichtenmagazin, wirft der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich den Westdeutschen im Allgemeinen und eben auch den Südwestdeutschen im Besonderen Fortschrittsfeindlichkeit vor und Bequemlichkeit sogar, sagt, moderne technische Großprojekte seien im Osten Deutschlands noch durchführbar und im Westen nicht mehr. Es kommt ja was auf uns zu, was auch aus ökologischen Gründen gemacht werden muss, Stichwort neue Stromleitungen von Nord nach Süd und Ähnliches. – Wollen die Leute auch alle nicht vor ihrer Haustür haben. Nach dieser Bewegung gegen Stuttgart 21: Könnte Tillich recht haben?

Rucht: Die Konflikte werden vermutlich zunehmen, aber ich halte es für völlig übertrieben, dass in der Bundesrepublik überhaupt kein Großprojekt mehr durchsetzbar wäre. Das hängt sehr von den Bedingungen ab, auch wie das im frühen Stadium der Planung eingeführt wird. Man darf eben nicht nur, wie das die bisherige Erfahrung lehrt, über die Vorteile solcher Projekte reden, dann kommen nach und nach und ungewollt auch die Nachteile auf den Tisch. Nein, man muss von Anfang an über Vor- und Nachteile reden, man muss die Bevölkerung einbeziehen. Und wenn das in der entsprechenden offenen Weise geschieht, dann kann es durchaus sein, dass das eine oder andere Projekt auf der Strecke bleibt oder dass Alternativplanungen zustande kommen. Aber ich glaube nicht, dass alles verunmöglicht wird. Im Übrigen ist es ja auch so, dass viele Projekte mit großen Versprechungen versehen wurden, ich denke jetzt an den Rhein-Main-Donau-Kanal, da sollte ja also die Schifffahrt, die Frachtschifffahrt blühen. Inzwischen ist es eher ein Paradies für Wassersportler geworden, aber es ist ein sehr teures Paradies geworden.

Kassel: Danke schön. Dieter Rucht war das, Soziologe und Koleiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum in Berlin über die Hintergründe der Proteste in Stuttgart. Danke Ihnen fürs Kommen!

Rucht: Bitte schön!
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