Sozialistische Architektur in Polen

Die Wiederentdeckung des Betonquaders

Luftaufnahme der polnischen Hauptstadt Warschau
Warschau: Der Stadtraum wird nicht mehr von Prinzipien, sondern vom Markt kontrolliert. © imago / Arnulf Hettrich
Von Martin Sander · 23.09.2015
In Polen wird die sozialistische Vergangenheit entschieden abgelehnt. Auch die Architektur dieser Zeit hat kaum noch Freunde. Der junge Autor und Fotograf Filip Springer versucht das zu ändern.
Rund ein Viertel aller Polen, etwa elf Millionen, leben in Wohnblocksiedlungen, errichtet von den frühen fünfziger bis zu den späten achtziger Jahren, vornehmlich aus Fertigteilen, meist aus der legendären Betonplatte. Dieses Bauerbe, unabhängig davon wie sich die Bewohner darin fühlen, hat bis heute ein denkbar geringes Sozialprestige. Einen ungleich besseren Ruf haben bei den meisten Menschen klassische Altbauten, das eigene Haus egal welcher Form oder auch jene oft umzäunten und bewachte Wohnsiedlungen, die zuhauf in den letzten beiden Jahrzehnten entstanden sind.
Mit der Frage, ob man der Architektur und Stadtplanung der sozialistischen Vergangenheit auch etwas abgewinnen kann, beschäftigen sich in Polen nur wenige, meist Spezialisten. Einer von ihnen ist der Reportage-Autor und Fotograf Filip Springer. Mit seinen Büchern und Zeitungsreportagen plädiert Springer für ein Umdenken.
"Ich gehöre einer Generation an, die sich an die Volksrepublik Polen kaum erinnert, weil sie erst an deren Ende auf die Welt kam. Wir haben deshalb auch keine unangenehmen Erinnerungen. Für mich war es eine Entdeckung, dass in dieser lausigen Volksrepublik mit ihren zahllosen zweifellos schlechten, hoffnungslosen, nach beliebigen Mustern errichteten Bauten auch wertvolle Architektur entstanden ist."
Die Wohnblöcke sind einfach - und bei den Bewohnern sehr beliebt
Filip Springers bevorzugter Treffpunkt ist ein gemütliches Büchercafe im Zentrum von Warschau. Springer, Jahrgang 1982, erzählt, wie er in einer klassischen Altbauwohnung in Poznań aufwuchs.
Als Student musste er in einen Plattenbau ziehen und fühlte sich auf Anhieb unwohl. Das eigene Befinden brachte ihn aber dazu, das Thema sozialistisches Architekturerbe neu zu durchdenken.
In Warschau, seinem derzeitigen Lebensmittelpunkt, schätzt er einige Leistungen im Städtebau der Nachkriegszeit außerordentlich. Zum Beispiel die "Gärten von Zoliborz". Die Mustersiedlung entstand seit den frühen sechziger Jahren im Nordwesten der polnischen Hauptstadt. Sie war und ist bei ihren Bewohnern sehr beliebt.
Die einfachen, quaderförmigen Wohnblöcke aus weißem Ziegel, mit drei Geschossen geplant, dann aber überwiegend mit fünf Geschossen realisiert, hat die Architektin Halina Skibniewska weitläufig in einem großen Park platziert, unregelmäßig, nach einem von der umgebenden Natur inspirierten Plan.
Skibniewska, zugleich eine hohe Funktionärin der Kommunistischen Partei, kämpfte beim Bau um den Erhalt jedes Baums. Sie entwarf nicht nur viel Interieur einschließlich passgenauer Wandschranksysteme. Sie plante auch – damals ungewöhnlich - behindertengerechtes Wohnen in den Erdgeschossen etlicher Häuser. Dazu kam es dann in der Praxis nicht, so wie auch viele andere gute Pläne in der Volksrepublik auf der Strecke blieben.
Nicht verwirklicht wurde auch manche Großutopie, etwa die Idee von Oskar Hansen, einem Star der polnischen und internationalen Nachkriegsmoderne: Hansen wollte den Städtebau Polens auf vier Bänder von der Ostsee bis in die südpolnischen Berge konzentrieren, statt immer nur die traditionellen Städte rundum zu erweitern.
Der Modernismus war nicht schön, aber er folgte Prinzipien
"Mir geht es nicht darum, den Modernismus kritiklos zu rehabilitieren, überhaupt nicht. Aber dieser Modernismus war eine große Idee in der Architektur, eine gigantische Strömung, eine Philosophie. Man projektierte nach genau festgelegten Prinzipien. Und das fehlt mir an der Architektur heute."
Im neoliberalen Polen werde viel zu wenig geplant, meint Filip Springer.
"Der Präsident der polnischen Stadtplaner-Vereinigung Tadeusz Markowski hat gesagt, er habe 1989 von den neuen Machthabern in der Stadt Lódź gesagt bekommen: Planung gab es im Kommunismus, jetzt wird der Stadtraum vom Markt kontrolliert - und von Gott. Der Markt beherrscht die Stadtplanung in Polen. Wie es mit Gott ist, weiß ich nicht. Wir haben ein gigantisches Problem mit dem öffentlichen Raum. Es herrscht Chaos in der Architektur und in der Stadtplanung."
Vor allem aus kommerziellen Gründen sind in den letzten Jahren einige herausragende Bauten der Nachkriegsmoderne abgerissen worden – trotz internationalem Architektenprotest. So musste der 1972 entstandene Bahnhof von Katowice mit seinen kelchförmigen Dachträgern aus Rohbeton – ein originelles Beispiel des Brutalismus – einem neuen, ziemlich gesichtslosen Bahnhof mit Einkaufsgalerie weichen.
Im letzten Moment vom Abriss verschont blieb hingegen der große Zentralbahnhof der polnischen Hauptstadt. Mit seinen komplett unterirdischen Bahnsteigen und dem wuchtigen Dach über der gläsernen Eingangshalle gilt er als Musterbeispiel der späten Moderne, damals im Eiltempo fertig gestellt zum 12. Parteitag der Kommunisten 1975.
Zur Fußball-EM sollte der Zentralbahnhof neu gebaut werden
Zur Fußball-"Euro" 2012 in Polen wünschten sich die Verantwortlichen dann einen ganz neuen Bahnhof. Nur aus Geldmangel entschied man sich dann doch für eine Grundreinigung plus behutsamer Renovierung des bestehenden Gebäudes. Das so erhaltene Baudenkmal der Moderne hat einiges dazu beigetragen, dass man das architektonische Erbe der kommunistischen Ära nicht in Bausch und Bogen verdammt. Filip Springer merkt an:
"Der Zentralbahnhof ist meiner Meinung nach eines der wichtigsten Beispiele für Bauten der Spätmoderne in Polen. Seine Geschichte zeigt, dass es oft genügt, Gebäude dieser Art zu reinigen und mit neuer Farbe zu versehen, damit sie wieder Eindruck machen. Jetzt strahlt der Zentralbahnhof wieder, und er gefällt vielen Warschauern."
Nicht nur unter Architekten und ihren Kritikern, auch in den öffentlichen Debatten hat das schwierige, weil oft gut gedachte, aber schlecht ausgeführte Bauerbe der Volksrepublik heute einen deutlich besseren Status als in den Jahren nach der Wende. Die Immobilienwirtschaft und Bauindustrie beeindruckt das aber nicht. Abgerissen wird weiter, wenn auch gegen wachsenden Protest.
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