"Sozialismus mit menschlichem Antlitz"

Von Hans Jürgen Fink · 07.05.2008
Das Jahr 1968 fand nicht nur in Paris und Berlin statt. Die Jugend in der DDR und in anderen osteuropäischen Staaten schaute nach Prag. Der Frühling dort verhieß Demokratie, Freiheit und Sozialismus. An der Spitze der friedlichen Bewegung für eine Öffnung des Systems stand Parteichef Alexander Dubcek. Hinter ihm stand fast das gesamte Volk - Arbeiterklasse, Künstler und Intelligenz.
Einen solchen Maifeiertag hatte die kommunistische Welt noch nicht erlebt. Das Volk hatte sich in Bewegung gesetzt, und Alexander Dubcek, der erste Mann der kommunistischen Partei in der CSSR, war sein Idol. Es war, als wollten sie ihn auf Händen tragen. Niemand hätte dies noch Anfang des Jahres für möglich gehalten.

Denn was die Parteizeitung "Rude Pravo" am 6. Januar in dürren Kommuniqué-Worten verlautbarte, entsprach altbekanntem kommunistischen Ritual. An der Spitze der Kommunistischen Partei wurde der Tscheche Antonin Novotny durch den Slowaken Alexander Dubcek abgelöst

Alexander Dubcek - 46 Jahre alt, im Ausland, aber auch selbst in Prag ein eher unbekanntes Gesicht und unbeschriebenes Blatt. Nur in Moskau, da kannte man ihn. In der Sowjetunion hatte der Sohn eines Tischlers und überzeugten Kommunisten von 1925 bis 1938 seine Kinder- und Jugendjahre verbracht, dort hatte er zur Zeit der Chruschtschowschen Entstalinisierungsphase die für kommunistische Führungskräfte obligatorische Parteihochschule absolviert.

Zwar hatte er Maschinenschlosser gelernt, seine eigentliche Schule aber war der Parteiapparat. Und doch war er, wie sich Jiri Grusa erinnert, Schriftsteller und heute Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien, alles andere als ein Apparatschik:

"Mit dem Slowaken Dubcek wurde nicht nur kein langweiliger Apparatschik zum Generalsekretär gewählt, sondern ein Star der beginnenden medialen Ära. In der ersten Jännerwoche 1968 bekam das System- wie das heute modern gesagt wird - ein 'face value'. Er hat die Menschen angelächelt, zeigte sich in der Badehose auf dem Sprungbrett der öffentlichen Schwimmschule und schüttelte die Hände von nicht vorher ausgesuchten Zuschauern."

Ein neuer Mann, aber kein Programm. Jedenfalls keins, das in der Öffentlichkeit erkennbar gewesen wäre. Bis in den März hinein war die Partei im Wesentlichen mit sich selber beschäftigt. Dubcek verkündete und verkörperte einen neuen Führungsstil: Diskussion statt Befehl und Gehorsam, kollektive Führung statt Ämterhäufung und Personenkult. Infolgedessen verloren einige Dutzend kleiner Novotnys in Partei und Staat ihre Posten und Pfründe.

Novotny selber aber residierte weiter als Staatspräsident auf der Prager Burg. In der Parteispitze blieben die Macht- und Mehrheitsverhältnisse im Grunde so wie sie waren und so gespalten wie eh und je: Tschechen und Slowaken, Orthodoxe und Reformkommunisten, die alte Garde der Kriegs- und Nachkriegszeit und junge Karrieristen. Nie hatte Dubcek hier eine sichere eigene Mehrheit.

Die Öffentlichkeit aber erwartete mehr als bloßes Postengeschiebe. Allenthalben regte sich in der Presse Kritik an den alten Herrschaftsmethoden und Parteifunktionären. Am 4. März verkündete Dubcek die Aufhebung der Zensur, aber faktisch hatte die Behörde ihre Arbeit bereits vorher eingestellt. Das Startsignal hatten einmal mehr die Schriftsteller gegeben: Als ihr Verband seine Wochenzeitschrift unter neuem Titel - Literarni Listy -, aber mit der alten Redaktion wieder herausgeben durfte, waren die Dämme, so Chefredakteur Antonin Liehm, gebrochen:

"Die Tschechoslowakei hatte im Frühjahr '68 die freieste Presse und die freiesten Medien der Welt. Die Journalisten waren so frei, wie sie wollten. Sie konnten alles schreiben und alles ging sofort auf die Seiten und sofort in den Rundfunk und sofort auf den Bildschirm. Das war diese Freiheit. So eine unbegrenzte Freiheit gibt es nur in revolutionären Momenten sehr selten."

Die Journalisten waren die ersten, die ihre Angst vor kommunistischer Repression verloren. Selbst "Rude Pravo", das Zentralorgan der KPC, löste sich vom kurzen Gängelband der Partei. In Rundfunk und Fernsehen waren - ein absolutes Novum - Live-Diskussionen zu hören. Öffentliche Veranstaltungen mit totaler Redefreiheit wurden direkt übertragen.

Was früher tabu war, kam jetzt offen zur Sprache: der Zentralismus der KPC, der Missbrauch der Macht, der Niedergang der Moral, die Deformationen der Wirtschaft, die allgegenwärtigen Versorgungsmängel des Alltags, das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie.

Stephan Benda, damals Student der Philosophie und Ökonomie an der Karlsuniversität, weiß noch heute, wie es war, als er im Fernsehen mit dem prominenten Reformkommunisten Josef Smrkovsky live über freie Wahlen stritt:

"Wir sind als Studenten zum Fernsehen eingeladen worden, im März, Smrkovsky, also die neue Parteiführung war da und wollte mit uns Studenten diskutieren. Sie haben gesagt, im Herbst gibt es diese neue Wahl, und im Rahmen der Nationalen Front werden die Wähler die Möglichkeit haben, zwischen zwei oder sogar drei Kandidaten auszuwählen, wer der bessere ist. Ich war da und habe einfach gesagt: 'Genosse Smrkovsky, reden Sie nicht um den heißen Brei herum. Wollen Sie die freien Wahlen oder nicht?' - Na, der war total sauer, hat geschrien: 'Warte nur, warte, Studenten müssen aufpassen, wenn sie solche radikalen Forderungen stellen .Dann wird's zu Ende sein mit dem Erneuerungsprozess.' Ich hatte nur das gesagt, was wir alle schon wussten. Das war vielleicht nur ein bisschen untaktisch, dass ich das da sagte."

Was die meisten Menschen jedoch besonders bewegte, war die Rehabilitierung der Opfer des stalinistischen Terrors. Nirgendwo außerhalb der Sowjetunion hatte die kommunistische Repression so viele Bürgerinnen und Bürger getötet, gefoltert, verhaftet und beruflich geschädigt wie in der CSSR nach dem Februar-Putsch zwanzig Jahre zuvor. Bürgertum und Mittelstand waren ihrer Existenz beraubt und aus dem öffentlichen Leben praktisch verschwunden, ausgelöscht wurde die Sozialdemokratie und verfolgt wurden all jene Kommunisten, die sich gegen die Bolschewisierung zur Wehr zu setzen versuchten.

Atemlos lauschten Tausende junger und alter Leute beispielsweise, als die Witwe Slanskys vom Schicksal ihres Mannes berichtete, damals kommunistischer Generalsekretär, der mit weiteren Genossen von den eigenen Parteifreunden aufgehängt worden war.

Nun war Novotny auch als Staatspräsident untragbar geworden. Mit ihm stürzten sein Chefideologe Hendrych und andere Kameraden. Jetzt rückten Reformkommunisten wie Smrkovsky, Kriegel, Mlynar, Spacek, Cisar und Slavik in führende Positionen ein. Cernik bildete eine Expertenregierung, Smrkovsky wurde Parlamentspräsident, und Kriegel führte fortan die nationale Front. Auf die Burg zog mit Ludvik Svoboda der Armeegeneral ein, der an der Seite der Roten Armee 1945 sein Land von der deutschen Besatzung befreite. Nun erst - es war inzwischen April - brachte die neue Führung der KPC eine politische Plattform zustande, ein Aktionsprogramm bis zum nächsten Parteitag, der für September geplant war. Zusammengefasst heißt es dort:

1. Souveräne Innen- und Außenpolitik bei Aufrechterhaltung der bestehenden Bündnisse und Verträge mit der Sowjetunion und den übrigen Ostblockstaaten.
2. Verwirklichung des Prinzips der Gewaltenteilung in Verbindung mit einer Neuformulierung der führenden Rolle der Kommunistischen Partei.
3. Anerkennung der Grundrechte wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit einschließlich des freien Reiseverkehrs auch in das nichtkommunistische Ausland.
4. Wirtschafts- und Sozialreform nach modernen fachlichen Gesichtspunkten in Verbindung mit unbeschränkten Handelsbeziehungen nach allen Richtungen.


So abstrakt das Aktionsprogramm an entscheidenden Stellen auch blieb, so wirkte es doch als Impuls für die Reformpolitik. Dies umso mehr, als in diesem Frühling Musik und Film, Theater und Poesie aufs Schönste erblühten und wie hier mit Marta Kubisova auch erklangen.

(Musik Kubisova)

In diesem Klima regte sich allerorten in der Gesellschaft eine lebhafte Aktivität. Es bildete sich eine Öffentlichkeit heraus, die sich mehr und mehr strukturierte. Mit der zugesagten Versammlungs- und Koalitionsfreiheit im Rücken nahmen die Bürgerinnen und Bürger ihre Sache in die eigene Hand.

Die Opfer der politisch Verfolgten fanden sich so zusammen und gründeten einen Verband, den sie nach dem Paragraphen des Strafgesetzbuches zum Tatbestand des Umsturzversuches benannten, nach dem viele von ihnen verurteilt worden waren: "K-231". Sie wollten darüber wachen, dass die versprochene Rehabilitierung und Entschädigung auch in die Tat umgesetzt würden.

Ein anderer Klub nannte sich KAN - Klub der engagierten Nichtparteimitglieder. Eine Bürgerinitiative dezidierter Nichtkommunisten, die den herrschenden Kommunisten in öffentlichen Belangen Paroli zu bieten oder Impulse zu geben versprachen.

Auch die beiden Parteien, die in der Nationalen Front, ähnlich wie die Blockparteien in der DDR, als Transmissionsriemen der Kommunisten fungierten, erwachten zu neuem Leben. Beide, die Sozialistische Partei und die Christliche Volkspartei, trennten sich im März von ihren diskreditierten Führungsfiguren. Erstmals seit 20 Jahren trafen auch Sozialdemokraten wieder zusammen, um ihre zwangsvereinigte Partei neu zu konstituieren.

Über die politischen Klubs und Parteien hinaus schien das ganze Land vom Gründungsfieber erfasst. Es bildeten sich eine Gesellschaft für Menschenrechte nach den Grundsätzen der Vereinten Nationen, ein Komitee zur Verteidigung der Pressefreiheit. Schriftsteller und Journalisten trafen sich in einem Koordinierungsbüro. Einzelne Künstlerverbände konstituierten sich, kirchliche Initiativen, ethnische Minderheiten meldeten sich zu Wort, Jugend- und Sportverbände wie Sokol und Orel holten ihre alten Abzeichen und Fahnen aus dem Versteck.

Schon im Januar '68 hatte der zentrale Gewerkschaftsbund die Transmissions-Riemen gelockert, die ihn an die Parteiführung fesselten. Die Lokführer traten aus und schufen eine eigene Organisation.

Alle diese Klubs, Vereine und Verbände waren am 1. Mai mit auf der Straße. Und eben dies waren die Bilder, die Breschnew so sehr irritierten:

"Wer hat sie von Kopf bis Fuß eingekleidet? Wer gab ihnen das Geld?"

fuhr er Dubcek am 4. Mai an, gleich nach dessen Ankunft in Moskau.

"Sie gingen organisiert mit eigenen Parolen... und keine einzige Parole zu Ehren der KPC. Dann geht der Klub 231 und wieder trägt er eigene Parolen. Der KAN geht - und das Gleiche wiederholt sich. Die marschierten am Organisiertesten. Dort wurde faktisch die Sowjetunion beleidigt. Und was tut das ZK der KPC?
Genosse Dubcek sagt jedoch: Wir bekommen das schon in den Griff!
Aber wo ist die führende Rolle? Wieso habt Ihr das zugelassen? Sie machen doch jetzt, was sie wollen."


Für Breschnew waren dies klare Beweise einer schleichende Konterrevolution. Er kritisierte die Aktivitäten antisozialistischer Kräfte in den Massenmedien, Künstler- und Intellektuellenkreisen, polemisierte gegen den subversiven Einfluss der westdeutschen und amerikanischen Imperialisten, rügte die umfassenden Rehabilitierungen und klagte über die Ablösung moskaufreundlicher Funktionäre in der Regierung:

"Was ist denn bei Euch los? Um 11 Uhr bestellt Genosse Dubcek den Genossen Lomsky, um 12 Uhr ist er schon nicht mehr Verteidigungsminister. Unsere Botschaft spricht am Vormittag mit dem Außenminister David, am Nachmittag ist David schon demissioniert. Die meisten dieser Genossen erhalten keine neue Funktion."

Um dann zu schließen:

"Alles, was bei Euch läuft, gleicht einem Palastumsturz."

Kaum hatten Tschechen und Slowaken den Kreml verlassen, erschienen dort die Parteichefs aus Polen, Ungarn, Bulgarien und aus der DDR. Schon Ende März hatten die fünf in Dresden zusammengesessen, damals noch mit Tschechen und Slowaken gemeinsam an einem Tisch. Als Drohkulisse hatten sie hohe Militärs mitgebracht. Sehr zur Verblüffung der tschechoslowakischen Delegation. Diese war auf Gespräche über Wirtschaftsprobleme eingestellt, sah sich aber jetzt unvermutet "wie Jan Hus auf dem Konzil zu Konstanz,", so Dubcek in seinen Memoiren, an den ideologischen Pranger gestellt.

Der Ungar Kadar verglich das Geschehen in Prag mit dem Prolog zur ungarischen Konterrevolution 1956. Polens Parteichef Gomulka erwartete von Dubcek eine energische Gegenoffensive gegen die reaktionären Kräfte. Gastgeber Ulbricht drohte.

"Entweder in Prag herrscht Ordnung oder wir müssen entschiedene Maßnahmen ergreifen."

Beim Moskauer Fünfertreffen im Mai beließ man es nicht bei kritischer Analyse. Man schritt zur Tat und verständigte sich auf eine Doppelstrategie: Zum einen wollten sie die "gesunden Kräfte" in der KPC suchen und ihnen im Kampf gegen die Reformkommunisten hilfreich zur Seite stehen. Zum anderen gaben sie den Militärs grünes Licht zu flankierenden Operationen.

Höhepunkt war das gemeinsame Manöver Sumava auf dem Gebiet der CSSR, Polens und der westlichen Sowjetunion. Am 30. Juni sollte es enden, doch verließ der letzte sowjetische Soldat erst Anfang August, mithin fünf Wochen später, tschechischen Boden. Was ursprüngliche als Kommandostabsübung angesagt war, entpuppte sich als Vorübung zur späteren Intervention. Der stellvertretende Nachrichtenchef im Ostberliner Verteidigungsministerium, Oberst Paduch, war damals im Leitungsstab der sowjetischen Streitkräfte in der Nähe von Prag mit dabei:

"Persönlich gewann ich - wie auch andere Offiziere - zunehmend den Eindruck, dass die Kommandostabsübung immer mehr in den Hintergrund trat und letztendlich nur als Vorwand diente, um das eigentliche Ziel zu verschleiern. Dieses Ziel bestand darin, die Führung der CSSR und der Tschechoslowakischen Volksarmee davon zu überzeugen, dass die Truppen der Warschauer-Pakt-Streitkräfte, vor allem der Sowjetarmee, unmittelbar aus der Übung heraus zur Beherrschung der entstandenen Lage in der CSSR verbleiben sollte."

Öffentliche Polemik, politischer Druck und militärische Drohung blieben nicht ohne Wirkung in Prag. Dubcek musste auch deshalb lavieren, weil sein slowakischer Parteifreund Bilak im Kreml offen die Partei Breschnews ergriff und in diesem Sinne auch in der Prager KPC-Führung argumentierte.

Noch hatten zudem die Bremser und Blockierer im Partei- und Staatsapparat das Sagen. In dieser Situation schrieb Ludvik Vaculik sein Manifest der 2000 Worte - "Zweitausend Worte, die für die Arbeiter, Landwirte, Angestellten, Wissenschaftler, Künstler und alle bestimmt sind" - wie die Überschrift wörtlich lautet und, so der Verfasser, die politische Absicht erklärt:

"Wir wenden uns an euch in diesem Augenblick der Hoffnung, die jedoch ständig gefährdet ist. Es hat mehrere Monate gedauert, bis viele von uns das Vertrauen gewannen, dass sie frei sprechen können, viele aber glauben das nicht einmal jetzt. Doch wir haben endlich so gesprochen und uns so weit enthüllt, dass wir unsere Absicht, dieses Regime zu vermenschlichen, einzig und allein vollenden müssen. Sonst würden die alten Kräfte grausam Vergeltung üben. Wir wenden uns vor allem an jene, die bisher nur abgewartet haben. Die Zeit, die anbricht, wird für viele Jahre entscheidend sein."

Am 27. Juni erschien das Manifest in den "Literarni Listy" sowie in drei Tageszeitungen. Die Verbreitung war also enorm. Die Anregung dazu kam aus der Parteiführung selber. Frantisek Kriegel, berichtet Chefredakteur Liehm, habe Vaculik mit dieser Idee konfrontiert, um den stagnierenden Reformprozess und den zögernden Dubcek durch öffentlichen Druck vorwärtszutreiben. 70 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterschrieben das Manifest, das damals zum Stein des Anstoßes, inzwischen aber längst zur Legende wurde.

Vaculik: "Die 2000 Worte sind nach dem Muster Gandhis geschafft: Gewaltloser Widerstand. Das stimmt!"

Wie ein Katalysator wirkten die 2000 Worte - nach innen und außen. Die Auseinandersetzung spitzte sich zu: Auf der einen Seite die Dogmatiker in der KPC, die um ihre Macht, Posten und Pfründe fürchteten, und die Fünfer-Koalition der Bruderparteien. Auf der anderen Seite die Gruppe der Reformkommunisten, unterstützt von 80 Prozent der Bevölkerung. Der außerordentliche Parteitag, den Dubcek für Mitte September durchgesetzt hatte, sollte über Reformen und Personen entscheiden.

Kaum war das Manifest in der Öffentlichkeit, schlug der Kreml Alarm. Noch in derselben Nacht telefonierte Breschnew mit Prag und verlangte von Dubcek ein sofortiges Eingreifen gegen die Konterrevolution. Die Prager Botschaft der DDR kabelte nach Ostberlin:

"Dieses Dokument ist ein Aufruf zur Konterrevolution, der programmatischen Charakter trägt."

Trotz verschärfter Polemik zwischen Moskau und Prag setzte Breschnew zunächst weiter auf eine politische Lösung der Krise. Gleichzeitig bekam Verteidigungsminister Gretschko grünes Licht für den Ernstfall der Intervention. Außenminister Gromyko gab bezüglich der weltpolitischen Folgen Entwarnung.

"Ich denke, die äußersten Maßnahmen werden keine Verschärfung der internationalen Lage hervorrufen. Es wird keinen großen Krieg geben. Sollten wir aber die Tschechoslowakei verlieren.., "

so entwickelte Gromyko eine Art Dominotheorie:

" ... so wird es eine große Versuchung für andere sein. Wenn wir die Tschechoslowakei halten, wird uns das stärken."

Damit konnten die Vorbereitungen für die Operation "Donau" beginnen. In den vier Bruderstaaten lief die Mobilisierung an.

Noch zweimal trafen Breschnew und Dubcek Ende Juli/Anfang August zu Gesprächen zusammen: Einmal bilateral im ostslowakischen Grenzstädtchen Cierna nad Tisou zur sogenannten Schlafwagenkonferenz, kurz darauf beim Sechsergipfel in Bratislava. Alles Reden war freilich vergeblich. Wenn Breschnew meinte, er habe Dubcek darauf festlegen können, die unerwünschten Klubs zu verbieten, die Massenmedien zu zügeln, die Reformer aus der Partei zu entfernen und die Führungsrolle der KPC notfalls mit Gewalt durchzusetzen, so waren dies in Dubceks Augen lediglich unverbindliche Mahnungen, Meinungen und Informationen. Er spielte auf Konfliktvermeidung und Zeitgewinn in der Hoffnung, der nahende Sonderparteitag werde seine Stellung nach innen und außen erheblich stärken. Dubcek erklärte seine damalige Taktik später:

"Wenn mir Breschnew sagte, die und die Leute sind unannehmbar, so reagierte ich nicht und er dachte, dass ich es akzeptierte. Und ich tat wieder das meinige und führte es nicht durch. Denn hätte ich es in den Ring geworfen, hätte das Volk rebelliert und wie wären in jene innere Eskalation geraten, in die sie uns hineinmanövrieren wollten und die einen Vorwand für die Intervention geliefert hätte."

Diesen Vorwand für die Intervention lieferten am Ende jedoch Dubceks Gegner in der Spitze der KPC. Auf dem Bratislaver Gipfel überreichten sie ihren sowjetischen Freunden ihr Hilfeersuchen. Die tschechischen Historiker Thuma und Vilimek wissen inzwischen, wie dies geschah:

"Ja, es gab diesen Brief. Er wurde von Vasil Bilak, Alois Indra, Oldrich Svestka, Dragomir Kolder und Kapek unterzeichnet. Er wurde nicht nach Moskau geschickt, sondern in Bratislava auf der Herrentoilette von Bilak an Pjotr Schelest, den Chef der ukrainischen KP, übergeben, Es gab einen solchen Hilferuf. - Das war billiger, man musste keine Briefmarke kaufen."

Ihren Dolchstoß begründeten sie mit der These:

"Das Wesen des Sozialismus selbst ist in unserem Lande bedroht. Die rechten Kräfte haben günstige Bedingungen für einen konterrevolutionären Umsturz geschaffen. In dieser schwierigen Situation wenden wir uns an Sie, die sowjetischen Kommunisten, mit der Bitte, uns mit allen Mitteln, die Ihnen zur Verfügung stehen, wirksame Unterstützung und Hilfe zu gewähren. Nur mit Ihrer Hilfe ist es möglich, die CSSR der drohenden Gefahr der Konterrevolution zu entreißen."

Dieser Bitte kamen die Sowjetunion und ihre vier Bruderstaaten nur zwei Wochen später nach.

Dabei sah es nach dem Bratislava-Gipfel eher nach einer Beruhigung der gespannten Situation aus: Die Teilnehmerstaaten zogen ein positives Resümee. Die sowjetischen Truppen verließen den Boden der CSSR, die Pressepolemik hörte auf. Schließlich brach die Ferienzeit an, und die meisten Parteichefs der Bruderländer verabschiedeten sich in den Urlaub. So auch Walter Ulbricht nach seinem Zusammentreffen mit Dubcek am 12. August in Karlsbad. Freilich nicht ohne öffentliche Ermahnung:

"Sie haben recht, also dass unsere Bürger manches nicht so einfach verstehen, was bei Ihnen vor sich geht. Ich würde sagen: Dort, wo man den Kampf vernachlässigt, immer dort sitzt der Gegner."

Zweimal noch telefonierte Breschnew mit Dubcek, dann war das Spiel aus. Bis zum Sonderparteitag der KPC musste der Kreml-Chef handeln, wollte er seine Freunde dort retten und die CSSR, wie er meinte, vor der Konterrevolution bewahren. Am 20. August kurz vor Mitternacht landeten sowjetische Truppen und Panzer auf dem Flugplatz von Prag, überschritten sowjetische, ungarische, polnische und bulgarische Soldaten die Grenze zur CSSR. Die NVA der DDR blieb auf heimischem Boden. Dubcek und seine Freunde wurden festgesetzt und nach Moskau verbracht.

Was den Interventionstruppen militärisch gelang, geriet Breschnew politisch zu einem Desaster. Seine Bundesgenossen in Prag hatten - auch dank Svobodas Standfestigkeit - kläglich versagt, noch einmal musste Breschnew mit den Prager Reformern verhandeln. Doch unter dem Druck der sowjetischen Panzer im Lande hatten sie keine Chance. Sie unterschrieben am Ende das Diktat der "Moskauer Protokolle". Als gebrochener Mann kehrte Dubcek an die Moldau zurück:

"Wir werden Euch für unser ganzes Tun immer verantwortlich sein. Wir verstehen unsere Arbeit als Dienst an unserem Volke. Als einen Dienst an unsere tschechoslowakische sozialistische Heimat."

"Liebe Zuhörer ... "

fügte Dubcek am Ende seiner Radioansprache hinzu ...

"... ich bitte Sie, die an einigen Stellen entstandenen Pausen zu entschuldigen. Wir alle, die wir in den letzten Tagen in Moskau verhandelt haben, sind Ihnen zutiefst dankbar für die mutige kommunistische Arbeit, durch die Sie in den letzten Tagen eine Eskalation der Situation verhindert und die Einheit unserer Völker bewahrt haben."

In Prag aber wurden die Heimkehrer aus Moskau als Helden empfangen. Entschlossen und geschlossen stand das Volk im friedlichen Widerstand gegen die Okkupation. Ungebrochen war die Hoffnung auf Freiheit und Demokratie. Sie dauerte über den Winter bis in den nächsten Frühling hinein. Dann hatte Husak die letzten Positionen der Reformer gebrochen, Dubcek selber verlor ein großes Stück seiner Reputation, als er im August 69 die Knüppelgesetze unterschrieb, gegen die Demonstranten, die für ihn am Jahrestag der Okkupation auf die Straßen gegangen waren.

Als die Idole des Frühlings zerbrachen und der organisierte Widerstand schwand, folgte ein zwanzigjähriger Winter der Anpassung und Resignation. Was nicht schwer zu erklären ist, meint der Bremer Historiker Jan Pauer, der grundlegende Werke über den Prager Frühling vorgelegt hat:

"In dem Augenblick, wo kein organisierter Widerstand mehr war, war das dann die Existenzfrage. Soll ich den Helden spielen und meinen Kindern dann das Leben kaputtmachen, weil sie nicht in die Schule gehen und Abitur machen können? Das waren dann isolierte Entscheidungen. Und diese Demoralisierung und Selbstverachtung auch der Leute dabei, die das haben durchmachen müssen, das hat dann diese moralische Niederlage herbeigeführt."

Doch so groß auch der Schock des Einmarsches war, so wirkte er doch zunächst auch mobilisierend.

"Das Wichtigste am Prager Frühling war der Herbst"

... meint Ludvik Vaculik im Blick zurück auf die Zivilgesellschaft, die sich vor den Panzergeschützen gewaltlos formierte.

Vaculik: "Einige Wochen und Monate war alles geblieben: Zeitungen, Leute, Studenten auf den Straßen, Debatten mit den Russen auf den Panzern. Es war etwas! Das war ein Erfolg. Es war vielleicht das wichtigste, ja das beste, was passieren konnte. Das war der eigentliche Sinn des ganzen Prager Frühlings."

Im Zeichen der Normalisierung erlebte die Tschechoslowakei einen stürmischen Herbst: Mit Studentendemonstrationen, Unmengen von Petitionen für die Reformpolitik. Abgesehen von den inkriminierten Klubs K-231 und KAN oder der Sozialdemokratischen Partei arbeiteten alle anderen Organisationen weiter so wie bisher: namentlich die Jugendverbände und die Betriebsräte. Sie dehnten sich gegen den Willen der Regierung am Ende bis auf 120 Betriebe aus. Nicht nur die Selbstverbrennungen belegen, wie hoch die Opferbereitschaft in der Gesellschaft war. Auch die Spenden für den Republikfonds hörten nicht auf.

Mit dem Triumph der Normalisierer endete diese erste Bürgergesellschaft in einem sozialistischen Land. Ausgeträumt war damit der Traum einer Versöhnung von Sozialismus und Demokratie. Als rund 20 Jahre später in der Mitte Europas die Mauern fielen, hatte diese Idee ihre Zukunft schon lange verloren. Für Europa aber, so Jan Pauer, haben Tschechen und Slowaken ein historisches Beispiel gegeben:

"Diese Erfahrung der friedlichen Überwindung - man kann es nicht oft genug betonen: dies war keine Bürgerkriegskonstellation. Da hat sich etwas geöffnet und man hat gesehen, man kann es auf diese Art und Weise überwinden oder verändern. Das war eigentlich paradigmatisch, das, was dann in der samtenen Revolution oder in den friedlichen Revolutionen des Jahres 1989 passiert ist."
Prager Frühling
Das Ende des Prager Frühlings im August 1968© AP Archiv