Soziales

Die fremde Hand in meinem Leben

Von Gerhard Richter · 16.02.2014
In Deutschland beschäftigen rund 20.000 behinderte Menschen einen oder mehrere persönliche Assistenten. Sie sollen dem Behinderten möglichst viel Eigenständigkeit ermöglichen. - Ein schwieriger Balanceakt für beide Seiten.
Es ist Sonntagvormittag in der Kirche des Nazareners. Roland Walter hat seinen elektrischen Rollstuhl ganz nach vorne gefahren, sitzt in der ersten Reihe. Er hat freien Blick auf die Musiker, die im hellen Gemeinderaum Gitarre und Keyboard spielen. Seit zwölf Jahren kommt Roland Walter regelmäßig hierher. Er ist 50 Jahre alt und hat einen eher knabenhaften Körper. Der leuchtend blaue Pullover über dem gebügelten Hemd passt gut zu seinen kurzen blonden Haaren. Seine Hände und Füße sind vom Spasmus verkrümmt, aber seine Gesichtszüge sind entspannt. Das markanteste an ihm ist sein breites strahlendes Grinsen. Der Glaube, sagt er, gibt ihm Halt und Orientierung. Weil seine Zunge gelähmt ist, klingt das so.
Roland Walter: "Der Glaube gibt mir Halt und Orientierung"
Nach dem Gottesdienst beugen sich viele zu ihm hinunter, umarmen ihn zur Begrüßung. Roland Walter ist festes Gemeindemitglied und sogar Laienprediger. Wenn er predigt, schreibt er vorher den Text auf und projiziert ihn zum Mitlesen an eine Leinwand. Ein ganz besonderes Erlebnis für alle, sagt Pfarrer Martin Wahl:
"Für Roland war das. glaub ich, fast so was wie eine Offenbarung, als er gemerkt hat, er kann sich trotz seiner Sprachbehinderung verständlich machen. Und über diese Medien, damals war es noch die Power-Point Folie, heute ist es der Beamer, seine Möglichkeiten mit seinem Leben etwas zu machen, hat das enorm erweitert. Und das war für uns als Gemeinde auch total schön, mitzuerleben."
Die moderne Technik hilft. Aber noch viel wichtiger ist ein junger Mann, der unauffällig am Rand steht. Christian, persönlicher Assistent von Roland Walter, 33 Jahre alt, sehr kurzes Haar, athletischer Körper. Gelassen balanciert er eine Tasse Kaffee zum Rollstuhl von Roland Walter.
Christian: "Das war ein Ritual. Jeden Sonntag nach dem Gottesdienst gibt es diese Tasse Kaffee. Schwarz. Gelegentlich aber auch mit Milch, also das hängt jetzt von der Stimmung ab."
Im Augenblick ist die Stimmung sehr gut. Roland Walter plaudert mit seinen Glaubensbrüdern. Christian zieht sich gleich wieder zurück und lehnt scheinbar unbeteiligt an der Wand. Die Hände stecken tief in den Taschen seiner Jeans. Den Rollstuhl hat er aber im Blick.
Christian: "Na in dem Moment versuch ich achtsam zu sein, aber mich trotzdem im Hintergrund zu halten, um dann Rolands private Kontakte nicht zu stören."
Angeregt unterhält sich Roland Walter über die Veranstaltung, zu der er abends hier einlädt. Die "Künstlerrampe", bei der er selbst und befreundete Künstler auftreten werden. Eine Premiere.
Walter: "Die Rampe als Metapher für Rollstuhlfahrer, aber auch für unbekannte Künstler."
Nicht alle der Umstehenden haben Roland Walter verstanden. Christian, der Assistent, hat das sofort bemerkt, tritt dazu und übersetzt.
Christian: "Die Rampe als Metapher für Rollstuhlfahrer, aber auch die Rampe für unbekannte Künstler."
Glücklich schaut er in die Bäume
In dem Moment leiht er ihm seine Zunge, gleich danach ersetzt er ihm Arme, Hände und Beine. Christian holt Mantel und Mütze aus der Garderobe und zieht Roland Walter an. Die Beine legt er in den wattierten Fußsack und zieht den Reißverschluss hoch. Fertig eingepackt schiebt Roland Walter den schwarzen Steuerhebel seines Rollstuhls nach vorn und fährt nach draußen. Er genießt es, selbständig unterwegs zu sein, wenigsten den kurzen Weg zur Bushaltestelle. Glücklich schaut er in die Bäume, blinzelt in die Sonne. Christian schlendert 20 Meter hinter ihm.
Als der Bus kommt, klappt Christian eine Rampe aus Stahlblech hoch, Roland Walter fährt in den Bus hinein und zieht die Bremse seines Rollstuhls. Christian geht nach hinten und setzt sich in die letzte Reihe. Seit zehn Jahren begleitet er ihn als Assistent, aber "ziemlich beste Freunde" sind sie nicht.
Christian: "Also ich hab nach wie vor ein gutes Gefühl, wenn ich hier bin bei Roland, aber es ist auf keinen Fall Freundschaft. Das ist wirklich ein Arbeitsverhältnis auf einer sehr angenehmen Ebene."
An Roland Walters Wohnung angekommen, schließt Christian die Tür auf, zieht seinem Chef Mütze, Mantel und Fußsack aus und hängt alles an die Garderobe. Er hilft ihm beim Toilettengang. Zu Beginn seiner Assistententätigkeit hat er dafür einen Schnell -Kurs bekommen.
Christian: "Das ABC der Pflege in Grundzügen, so in zwei Wochen kann man da ja nicht soviel machen. Hygiene, Rollstuhltraining, ein bisschen Nähe und Distanz , ein paar medizinische Grundregeln, ein bisschen medizinische Hilfe, also die wichtigsten Handgriffe."
Manchmal ist es eine Nervenprobe
Seit sieben Uhr morgens kümmert sich Christian heute um Roland Walter und dessen Haushalt. Er hilft ihm aus dem Bett, zieht ihn an, setzt ihn in den Rollstuhl, hilft ihm aufs Klo, putzt ihm die Zähne, rasiert ihn, wäscht und duscht ihn, kocht Kaffee, macht Frühstück, räumt ab, wäscht das Geschirr und kocht für ihn. Weil Sonntag ist, hat er eine Tupperdose mit tiefgekühltem Mittagessen aus dem Eisfach geholt. Jeder Handgriff genau so, wie Roland Walter es will. Meist harmoniert das gut, aber manchmal ist es eine Nervenprobe, sagt Christian.
"Ja, es gibt Momente, grade weil das Verhältnis ja oft so nah ist, wenn man dann fragt, taucht im Geist die Frage auf: Warum muss er das jetzt machen? Ist das überhaupt nötig oder sinnvoll, und im gleichen Moment, oder kurz danach taucht dann der Gedanke auf: Es ist deine Aufgabe und du hast es nicht zu bewerten oder zu beurteilen, also mach es einfach!"
Das aufgetaute Essen aus der Tupperdose legt Christian auf einen Teller und stellt ihn in die Mikrowelle. Rindsroulade mit Thüringer Klößen und Rotkohl. Roland Walter hat es mitgebracht von seinem monatlichen Besuch bei seinen Eltern in Magdeburg. Bis er 37 war, hat er bei ihnen gewohnt, bis dahin hatte er vergeblich nach einer passenden Wohnmöglichkeit gesucht. Für ein Altenheim ist er zu jung, für eine Einrichtung mit geistig Behinderten ist er zu intelligent, und für ein betreutes Wohnen ist er zu behindert. So schildert er seine Situation. Dann hat er von dem Assistenzmodell in Berlin erfahren und hat beim damaligen Sozialamt einen entsprechenden Antrag gestellt.
Christian stellt den dampfenden Teller mit dem kleingeschnittenen Essen vor Roland Walter, setzt sich an den Tisch und füttert ihn ganz langsammit einem Löffel. Zum Nachtisch gibt es Eis.
Um 13 Uhr klingelt es, Anke kommt, die Assistentin für die nächste Schicht. Christian verabschiedet sich
"Na dann schönen Sonntag… du auch"
Schritte in größere Unabhängigkeit
Anke fragt nach, was es als nächstes zu tun gibt.
Anke: "Hast du schon Kaffee getrunken?"
Roland Walter: "Nö, später ..."
Anke: "Machst du später."
Roland Walter fährt seinen Rollstuhl zum Schreibtisch, schaltet den Computer ein. Der gelernte Kaufmann benutzt eine große Maus und eine spezielle Tastatur. Die Beschriftung der Tasten ist längst verwischt, aber Roland Walters verkrümmte Finger finden jeden Buchstaben. Von hier aus spielt er Fernschach, bearbeitet Fotos, plant Reisen.Er verfasst Texte, Beschwerden, Bücher, Broschüren, Anträge, Vorträge, Predigten und neue Konzepte. Meist sind es Schritte in eine noch größere Unabhängigkeit.
"Ich hab dann eine verrückte Idee und dann gibt’s die Leute dazu, die mitmachen."
Während Roland Walter spricht, formt Anke mit ihren Lippen seine Worte lautlos nach, so versteht sie ihnam besten. Die 38-jährige Heilpraktikerin arbeitet 100 Stunden im Monat bei ihm als Assistentin, ein Modell, das Roland Walter vor dreizehn Jahren für sich durchgeboxt hat.
"Es war einfach ein Wunder, dass es bewilligt wurde."
Ein Jahr später machte das Bezirksamt einen Rückzieher, wollte die Kosten nicht mehr tragen. Roland Walter sollte in ein Heim, aber er hat sich gewehrt. Das ARD Magazin Monitor drehte einen Bericht über seinen Fall, am Tag vor der Ausstrahlung gab das Amt nach. Roland Walter konnte in seiner eigenen Wohnung bleiben. Selbständig, betreut von jeweils einem Assistenten. 20 Stunden pro Tag, 365 Tage im Jahr.
Aber das Leben mit Assistenten brachte ganz neue Herausforderungen:
Roland Walter: "Am Anfang hatte ich ein Problem damit, dass die Assistenten am Tag gewechselt haben."
Und wenn mal ein Assistent ausfällt, kann es sein, dass morgens eine Vertretung an seinem Bett steht, ein völlig fremder Mensch, dem er alles erst Mal erklären muss, erzählt er. In den letzten 13 Jahren waren über 500 verschiedene Assistenten in seiner Wohnung, in seinem Bad, auf seinem Sofa und in seiner Küche, an seinem Kühlschrank. Zur Zeit hat er ein festes Team aus neun Assistenten, die sich abwechseln. Zu seinem heutigen Auftritt bei der Künstlerrampe wird ihn Anke begleiten.Das Abendessen muss sie also mitnehmen. Sie schmiert genau zwei Klappstullen. Eine mit Mettwurst ...
"…und die zweite da werd ich Frischkäse draufmachen, wegen der Abwechslung."
Weil sie ihn schon lange kennt, weiß sie, dass ihm das schmeckt. Kleine Entscheidungen trifft sie selbst, ansonsten gibt es einen festen Aufgabenplan:
Tanzen trotz Behinderung
Montag: Bad reinigen, Dienstag Staubsaugen, Mittwoch Handtücher wechseln, Im Zweifel fragt sie ihn:
"Machst du das, oder soll ich das machen?"
Die einzige Anweisung für Roland Walter steht an der Wand über seinem Schreibtisch: "Sei realistisch, versuch das Unmögliche".
Deswegen hat er begonnen, zu tanzen, zu performen. Eine enorme Herausforderung für jemanden, der seit seiner Geburt spastisch gelähmt ist. Roland Walter sortiert nochmal alles für seinen Auftritt am Abend. Aber plötzlich fehlt der mp3 Player, mit der Musik für seine Performance. Eine Schrecksekunde. Anke sucht in allen Taschen und Rucksäcken.
Anke: "Manche Assistenten legen die Dinge an den unmöglichsten Orten ab, und dann hat der nächste Assistent das Nachsehen, weil er es sucht."
Der mp3-Player bleibt verschwunden. Also finden beide eine Notlösung. Anke stöpselt sein Handy an den Computer und er kopiert die Musik darauf. Dann packt sie alles für die Performance ein: Stullen, Trinkflasche, Handtücher, Bühnentrikots und einen zweiten Rollstuhl. Dann zieht sie ihren Chef an, Jacke, Schal, Mütze, Fusssack und zuletzt sich selbst.
In der kleinen Künstler-Garderobe herrscht aufgeregte Stimmung. Der elektrische Rollstuhl nimmt den ohnehin schon spärlichen Platz weg. Roland Walter ist nervös und lässt sich von Anke in ein schwarzes hautenges Trikot helfen. Routiniert zieht sie seine verkrümmten Hände durch die engen Ärmel.
Mit seinem strahlenden Lächeln rollt Roland Walter wieder in den Saal, 20 Gäste sehen zu, wie er sich von Künstlerfreund Wolfgang Ramisch auf eine große Leinwand legen und mit Farbe begießen lässt. Rot, gelb grün, Roland Walter verteilt die Kleckse mit spastischen Bewegungen seiner Arme und Beine. Sein Körper - ein zuckender Pinsel. Am Ende ist der Künstler genauso bunt, wie die Leinwand.
Anke legt ein großes weißes Badetuch in den elektrischen Rollstuhl, für ihren knallbunten, behinderten, tanzenden Chef. Er hat sein Ziel erreicht - jubelnd reißt er die Arme hoch. Von seinen Händen tropft die Farbe. Wie soll er damit den elektrischen Rollstuhl steuern? Anke hat die Situation sofort erfasst, dezent tritt sie dazu, drückt mit spitzem Finger den schwarzen Steuerhebel nach vorn - der Rollstuhl fährt von der Bühne. Ein Teil des Applauses gilt plötzlich ihr, der Assistentin.
Täglich 20 Stunden umringt von Assistenten
Tage später ist Teamsitzung bei Roland Walter zu Hause. Anke, die heute Dienst hat, macht Kaffee, legt Kekse auf den Tisch. Auch Reiner Dybiec ist da, der Sozialpädagoge im blauen Kapuzenpulli, ist der Einsatzbegleiter von Roland Walter. Er ist Ansprechpartner für Assistenten und für Assistenznehmer, wie es offiziell heißt. Angestellt ist er bei der Firma „Ambulante Dienste e.V.“. Die wurde von behinderten selbst gegründet und beschäftigt 550 Assistenten.
Reiner Dybiec: "Wir haben viele Leute wie Herrn Walter, die von Geburt an behindert sind, der spastisch gelähmt ist. Wir haben aber auch viele Leute die querschnittsgelähmt sind, durch einen Unfall und wir haben viele Leute, die durch eine Erkrankung eine Behinderung bekommen haben, vor allem durch Multiple Sklerose. Die sind sehr häufig, diese drei Sachen, würde ich mal sagen. Dementsprechend sind auch die Hilfebedarfe und auch der Stundenumfang sehr unterschiedlich."
Abdel Sellou ist das reale Vorbild für den Krankenpfleger im Film "Ziemlich beste Freunde".
Abdel Sellou ist das reale Vorbild für den Krankenpfleger im Film "Ziemlich beste Freunde".© picture alliance / dpa
Roland Walter braucht täglich 20 Stunden Assistenz. Um das abzudecken beschäftigt er ein Team von neun Assistenten, die sich die Früh- und Spätschichten aufteilen. Heute sitzen alle um den Wohnzimmertisch, packen ihre Kalender aus, um die Schichten der nächsten sechs Wochen einzutragen. Jeder wie er mag und kann. Der eine hat ein elektronisches Tablett, die andere einen Mondkalender. So unterschiedlich sind die Assistenten. Aber alle sollen das eine selbstbestimmte Leben von Roland Walter ermöglichen. Deshalb erklärt er allen, worauf sie achten sollen, oder was ihn stört:
Roland Walter: "Eingefrorenes Brot rechtzeitig aus dem Eisfach nehmen, Reißverschluss am Fusssack nicht zu weit aufmachen, weil er sonst klemmt, oder nicht zu viele private Lebensmittel in seinem Kühlschrank lagern."
Reiner Dybiec hat einen roten Ordner auf den Knien. Aufmerksam hört er zu und macht sich Notizen. Auch der MP3 Player wird angesprochen, der vor dem Auftritt verschwunden war. Ein Assistent hatte ihn unauffindbar in einen Brustbeutel verstaut. Aber es gibt auch ernstere Probleme. Assistent Christian möchte Roland Walter nicht in Kneipen begleiten, in denen geraucht wird. Reiner Dybiec versucht zu vermitteln
Reiner Dybiec: "Würde es dir reichen, mal kurz Luft zu schnappen, mal für fünf Minuten?"
Christian: "Ne. Für mich wäre das ein Grund aufzuhören."
Ulf: "Ja, aber ich versteh Roland. Was er da sagt. Das wird in Zukunft zunehmen. Wenn man mit den Leuten Kontakt hat, sagt man nach der Probe, hey: Wir fahren jetzt nicht nach Hause, sondern wir gehen jetzt in die Kneipe. Wie gesagt, und Berlin ist die Kneipenkultur so, dass da geraucht wird."
Christian: "Für mich ist das gesundheitsgefährdend …"
Roland Walter schaut trotzig auf den Tisch. Die vermeintliche Hilfe des Assistenten erweist sich als Bremse bei spontanen Kneipenbesuchen. Ein kurzfristiger Tausch der Schichten ist zu aufwendig und irgendetwas aus Rücksicht auf einen Assistenten nicht zu machen, hat er schon oft bereut. Die Selbstbestimmung, um die er ständig kämpft, stößt wieder mal eine Grenze. Mit solchen Problemen hat Reiner Dybiec ständig zu tun.
Reiner Dybiec: "Die meisten Probleme, die es bei uns in der Assistenz gibt, die liegen nicht in den praktischen Tätigkeiten, dass jemand das nicht hin bekommt. Die liegen tatsächlich im Nähe und Distanzbereich, das ist die größte Herausforderung in dieser Arbeit zu arbeiten. Und häufig wird unterschätzt von unseren Mitarbeitern, wie nahe das werden kann. Man verbringt doch unheimlich viel Zeit miteinander in dieser umfangreichen Assistenz. So viel Zeit verbringt man mit seinen besten Freunden nicht."
Im Augenblick gibt es für das Kneipenproblem keine Lösung. Reiner Dybiec verspricht, sich darum zu kümmern. Christian könnte mehr Frühschichten machen, oder tatsächlich bei Roland Walter aufhören. Die Fluktuation bei "Ambulante Dienste" ist hoch. Von den 550 Assistenten hören jedes Jahr etwa 100 auf, und genau so viele Neulinge fangen an.
Reiner Dybiec: Dieser Job zieht viele Leute an, die eigentlich noch ein Hauptstandbein woanders haben. Die vielleicht Heilpraktiker sind oder im künstlerischen Bereich sind. Und die vielleicht davon nicht leben können und ein zweites Standbein brauchen, das sie auf jeden Fall ernährt. Sowas wie ein bisschen Sicherheit. Solche Leute haben wir relativ viele hier bei uns."
Wer bei Ambulante Dienste anfängt, bekommt eine Basisausbildung. Beim aktuellen Kurs sitzenacht angehende Assistenten im Kreis und klopfen sich auf Arme, Brust und Beine. Warmmachen für die Lektion: Heben und Tragen, der größte Teil der Basisausbildung zum Assistenten. Kellner, Sozialpädagogen, Studenten, Künstler bekommen gezeigt, wie man einen Behinderten vom Bett in den Rollstuhl bekommt.
Katrin Adams: "Jetzt hol ich ihn richtig nah dran, jetzt stabilisier ich mich nochmal, auch meinen Rücken, gucke, jetzt schau ich,dass ich mein Gewicht einsetze, um ihn mit meinem Gewicht hochzukriegen, jetzt hab ich ihn, und drehen und runter."
Katrin Adams, die Ausbilderin, macht vor, dann üben alle miteinander, richten sich gegenseitigem Bett auf, heben sich in den Rollstuhl und wieder zurück. Katrin Adams schaut zu, achtet auf gerade Rücken und erklärt Hebelwirkungen.
Katrin Adams: "Mir geht es wirklich darum dass die Assistenten oder die Menschen, die das in Zukunft machen bestimmte Prinzipien verstehen. (…) wie sie in Dialog treten, wie sie Gegengewicht einsetzen, wie sie vielleicht am Zug oder Druck arbeiten, also eher so Prinzipien, die sie dann wieder neu umsetzen."
Sarah Blumenstingl, ein blonde fröhliche Frau hebt Benedikt vom Rollstuhl ins Bett. Er will mit dem Assistentenjob sein Geologie-Studium finanzieren, sie braucht neben ihren Projekten als DJ und im Café einen sicheren Job mit Urlaubsanspruch und Krankengeld. Außerdem findet die 35-jährige Mutter die Arbeit an sich gut.
Sarah Blumenstingl: "Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn ich in die blöde Situation komme, dass ich die Möglichkeit verliere, laufen zu können, oder mich selber versorgen zu können, wäre ich ganz ganz dankbar um Menschen, die sich darum bemühen, dass ich mein Leben so selbstständig wie möglich weiter leben kann."
In den nächsten Tagen übt Sarah wie man einen Rollstuhl einen U-Bahntreppe hinauf oder hinunter hievt, sie erfährt etwas über Hygiene, Pflege und Dokumentation.
Nach elf Tagen Basisausbildung, werden Sarah, Benedikt und die anderen zu ihrem ersten Assistenznehmer geschickt. Erst als Aushilfe, zum Testen. Assistenten und Assistenznehmer können nein sagen, wenn sie nicht miteinander arbeiten wollen. Eine Grundsymphatie ist notwendig. Wer sich gut versteht, landet in einem festen Team, möglicherweise auch bei einem so agilen Behinderten wie Roland Walter. Der braucht seine Assistenten auch bei seinen Auftritten und Proben als Tänzer, so wie jetzt in einem Berliner Hinterhoftheater.
Eine Freiheit, die ihm seine Assistenten schenken
Roland Walter probt für seine 13. Performance in diesem Jahr, der Mehrfachschwerstbehinderte hat sich als Tänzer einen Namen gemacht, landet bei Wettbewerben auf den vorderen Plätzen, wird zu Inszenierungen eingeladen.
Jörg: "In der Zwischenzeit hat sich das so entwickelt, dass die eher auf Roland zukommen."
Assistent ist heute Jörg Pagels, seit zehn Monaten ist er regelmäßig bei Roland Walter. 110 Stunden im Monat, für rund 10 Euro die Stunde. Wann er die Schichten macht, kann er selber mitbestimmen. Weil Roland Walter so aktiv ist, sind die Schichtwechsel dafür manchmal irgendwo in der Stadt, gerne an S-Bahnstationen. Für Jörg Pagels, einen gemütlichen Kerl mit Kinnbart und Rastalocken ist das eher willkommene Abwechslung.
Jörg Pagels: "Also ich find das schon interessant so. Ich komm viel rum, muss nicht immer in der Wohnung hocken, wie es bei anderen Leuten ist."
Jetzt geht er vor dem Rollstuhl in die Knie, fasst seinen Chef um die Schultern und unter den Beinen und hebt ihn vorsichtig auf ein Rollbrett mit Lehne. Yuko Kaseki, die zierliche japanische Choreografin hat sich das für Roland Walter ausgedacht, damit kann er sich mit den Füßen über die Bühne schieben, und sich mit den anderen vier Tänzern bewegen kann.
Yuko: "Ich lerne total viel von ihm - so gegenseitig: Meine Sicht und seine Bewegung. Wie kann man mischen, gut mischen."
Yuko legt Roland Walter eine leere Sporttasche über den Kopf, und gibt ihm eine Schnur in die Hand, die ist mit einer Glocke verbunden. So beginnt die Probe:
Jörg Pagels setzt sich an den Bühnenrand und schaut zu, wie sich Roland Walter die Tasche vom Kopf nimmt, sich ins Licht bewegt und immer größere Kreise zieht. Ein Sinnbild seines Lebens. Auch Jörg Pagels hat sich entwickelt. Der gelernte Automechaniker und Erzieher hatte schon viele Jobs. Versicherungsverkäufer, Hausmeister, im Call-Center, als Promotionskraft.Seine jetzige Stelle als Assistentbietet zwar kaum Aufstiegsmöglichkeiten, für ihn hat sie trotzdem Zukunft.
Jörn Pagels: "Das hier werde ich längere Zeit machen, da geh ich von aus. Weil das sagt mir persönlich auch zu, diese Freiheit , die ich hier hab. Und nicht dieses von Montag bis Freitag von sieben bis 16 Uhr. Damit ich selber mitentscheiden kann, wo ich arbeite, wann ich arbeite. Dieses Stück Freiheit, das sagt mir sehr zu."
Auf der Bühne lebt Roland Walter seine eigene Freiheit: mit den Armen gestikuliert er und genießt seine künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Eine Freiheit, die ihm seine Assistenten schenken.
Gerhard Richter: "Ich hab den Film 'Ziemlich beste Freunde' gesehen und war natürlich beeindruckt von der Freundschaft zwischen dem reichen, gebildeten Behinderten und dem rotzigen Underdog. Aber die Wirklichkeit der persönlichen Assistenten ist anders, allerdings nicht weniger spannend."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Gerhard Richter© Deutschlandradio