Soziale Gerechtigkeit 2013

Von Christian Schüle · 09.04.2013
Soziale Gerechtigkeit ist DAS Thema – aber was bedeutet der Begriff? Wahre soziale Gerechtigkeit muss an der Garantie unterer Mindeststandards ansetzen, sagt der Philosoph Christian Schüle.
"Soziale Gerechtigkeit" ist zum Kampfbegriff einer politischen Kultur avanciert, die sich neuerdings eine Menge Denkfehler, Ressentiments und ideologische Reflexe leistet. Geht es um soziale Gerechtigkeit, geht es immer auch um letzte, wahlweise neue Reservate weltanschaulicher Bastionen. Mit dem Ruf nach sozialer Gerechtigkeit werden Interessen maskiert, Ansprüche eingeschleust und Bedürfnisse getarnt, die mit Gerechtigkeit im eigentlichen nichts zu tun haben.

Soziale Gerechtigkeit wird permanent in Stellung gebracht, instrumentalisiert zur klassenkämpferischen Lagerbildung eines primitiven Links-Rechts-Schemas, innerhalb dessen – wer im Namen sozialer Gerechtigkeit spricht – sofort auf Seiten des Richtigen und Guten steht.

In Zeiten, da Empörungen Argumente ersetzen und Erregung als demokratische Partizipation missverstanden wird, schultert "soziale Gerechtigkeit" nahezu die gesamte Last des politischen Diskurses einer Gesellschaft, deren einziges Interesse an der res publica sich auf die Frage zu reduzieren scheint: Wer bekommt wann wie viel mehr Geld?

Der Begriff "Soziale Gerechtigkeit" ist eine moralische Kategorie geworden. Und genau hier beginnen die Probleme – wobei Altersarmut, Leistungsdruck und individuelle Gier nicht im Entferntesten geleugnet werden sollen.

Soziale Gerechtigkeit ist im Wesentlichen kein moralischer Begriff, sondern ein formaler, der aber zunehmend moralisiert wird. Und wer einen absoluten Begriff von Gerechtigkeit zum Maßstab seines Urteils macht, wird in den allermeisten Fällen seine Situation als ungerecht empfinden; im Vergleich zu jenen paar Prozent Superreichen im Land sind wir alle mehr oder weniger arm. Nichts wird hierzulande ja schlimmer veranschlagt als das Gefühl der Benachteiligung, das nicht einmal tatsächlicher Benachteiligung entsprechen muss.

Der Feind der Gerechtigkeit ist seit langem ausgemacht. Er heißt: "Neoliberalismus". Das Wort neoliberal ist der Schlüsselreiz einer Agenda, die den Sinn des Begriffs bedauerlicherweise vollkommen missversteht. Im Zuge der wohlfeilen Dämonisierung des Marktes an sich als "neoliberal" muss deutlich in Erinnerung gerufen werden, dass der Neoliberalismus – der unter dem Namen "Ordoliberalismus" zum Nukleus der Sozialen Marktwirtschaft in der deutschen Nachkriegsrepublik wurde – von Beginn an in der christlichen Sozialethik wurzelt; dass er also genau das Gegenteil dessen im Blick hatte, was ihm heute vorgeworfen wird.

Der Kerngedanke eines sozialethisch geprägten Unternehmertums besteht seit jeher darin, den einzelnen Mitarbeiter nicht als verschleiß- und austauschbaren Produktionsfaktor, sondern als Person mit Wert, Würde und Verantwortung zu begreifen. Für Ordo- und also Neoliberale war diese Haltung die entscheidende Voraussetzung zur Verwirklichung einer humanistischen Ethik – als Investition in den sozialen Frieden und eng gebunden an einen starken, regulierenden Staat. Wäre dieses Denken gerade heute womöglich nicht bedenkenswert?

Allzu oft mit sozialer Gleichheit verwechselt beziehungsweise synonymisiert, tappt der moralisierte Gerechtigkeitsbegriff immer öfter in die Kategorienfalle: Er hat Verteilungs- und Fürsorgegerechtigkeit im Sinn, nicht Zugangs- und Chancengerechtigkeit. Es kann und soll ja nicht ernsthaft darum gehen, das maximale und also monetäre Wohl jedes einzelnen Bürgers sicherzustellen.

Wahre soziale Gerechtigkeit muss an der Garantie unterer Mindeststandards ansetzen und kann immer nur strukturelle, auf das Gemeinwohl ausgerichtete Gerechtigkeit sein. Soziale Gerechtigkeit, der alle – wohlgemerkt: alle –zustimmen können, kann nur heißen: Gleichheit aller vor dem Recht sowie garantierte Freiheit für alle, ihre ungleich verteilten Begabungen und Fähigkeiten gleichermaßen entwickeln und einbringen zu können.

Die Forderung nach Begrenzung exorbitanter privatwirtschaftlicher Manager-Boni ist verständlich, vor dem Hintergrund eines moralisierten Gerechtigkeitsverständnisses allerdings selbstgerecht. Mit einer gesetzlichen Deckelung ist kein einziges staatspolitisches Strukturproblem gelöst.

Christian Schüle, 42, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klettt-Cotta) und den Essay "Vom Ich zum Wir" (Piper).
Christian Schüle, Philosoph und Schriftsteller
Christian Schüle, Philosoph und Schriftsteller© privat