Sowjetischer Gottesersatz

Von Thomas Franke · 12.05.2013
Nach der russischen Revolution wurde der Sowjetbürger zum "Neuen Menschen" erklärt. Darunter verstand man einen Mensch der Tat, kraftvoll und mit dem Kollektiv verschmolzen. Dass es Zusammenhänge mit religiösen Vorstellungen gibt, stellt Thomas Tetzner in seinem Buch fest.
Erstmals, so verspricht der Klappentext, werde eine utopische Hoffnung der Russischen Revolution ideengeschichtlich entschlüsselt und erklärt. Doch zur russischen Revolution kommt Thomas Tetzner erst im dritten Kapitel. Dort setzt er sich mit Anatoli Lunatscharski auseinander, der Volkskommissar für das Bildungswesen und ein Weggefährte Lenins war.

"Was meinte Lunatscharski (1875-1933) nun mit seiner 'gottbildnerischen' These vom Sozialismus als einer 'Religion'? (…) Nach Lunatscharski entwerfen die Menschen in der Religion sowohl eine Erklärung für die reale Welt (Schöpfung, Sündenfall) als auch einen Plan zur Überführung ebendieser Welt in einen idealen Zustand (Reich Gottes), den sie dann also verfolgen (Kulthandlungen).

Mit der modernen Ablösung der religiösen durch eine natur- und sozialwissenschaftliche Welterklärung wäre nun zwar die tradierte Vorstellung von einem göttlichen Ursprung sowie von der allzu menschlichen Gegenwart der Welt samt der daraus abgeleiteten Möglichkeiten ihrer Überwindung endgültig hinfällig geworden (Evolution statt Schöpfung, Privateigentum statt Sündenfall, Aufklärung statt Abendmahl, Revolution statt Apokalypse).

Die Hoffnung auf eine übermenschliche Zukunft habe sich damit aber keineswegs als illusorisch blamiert, sondern würde im Gegenteil erstmals realistische Konturen gewinnen. Diese Zukunft sei der Sozialismus."


Doch eben dieser Sozialismus, die Perversion der Utopie in der Sowjetunion, sorgte dafür, dass das Konzept des "Neuen Menschen" totalitär wurde, wenn es das nicht immer war. Das Interesse des Politologen aber geht weit darüber hinaus.

"Die geisteswissenschaftliche Problematik und Relevanz des Themas besteht also darin, dass zwar schon mehrfach die allgemeine Bedeutung des 'Neuen Menschen' für die Russische Revolution konstatiert und mit entsprechenden Beispielen illustriert wurde, dass aber die Frage, was diese Idee selbst zu bedeuten hatte, woher sie rührte und worauf sie demzufolge abzielte, damit noch lange nicht beantwortet ist: Ihr spezifischer Gehalt blieb bislang so diffus und mehrdeutig wie der Begriff 'Neuer Mensch' selbst, denn allein aus sich selbst und ihrer Zeit heraus ist sie m.E. nicht zu verstehen.

(...) Solange eine inhaltliche Bestimmung, d. h. eine nachvollziehbare Interpretation auch dieser Denkfigur fehlt, so lange ist die Frage unbeantwortbar, ob sich der 'Neue Mensch' des frühen Christentums und der des revolutionären Russlands wirklich zu einer ideengeschichtlichen Einheit fügen. Die Klärung ebendieser Frage stellt aber nicht weniger als die grundlegende Bedingung für eine sachliche geisteswissenschaftliche Einordnung und Bewertung des revolutionären 'Neuen Menschen' dar: War diese Idee tatsächlich bloß eine vermessene 'totalitäre Verirrung' des 20. Jahrhunderts – oder muss man sie im Gegenteil als moderne Fortsetzung einer uralten kulturgeschichtlichen Tradition begreifen?"


Weltanschauliche Einflüsse auf das Konzept des "Neuen Menschen"
Ausführlich schildert er den Einfluss unterschiedlichster Weltanschauungen auf das Konzept des "Neuen Menschen", des kollektiven Gottes in Russland. Um da anzukommen, geht er chronologisch vor. Und das macht es sperrig. Er fängt kurz nach Adam und Eva an: in der Antike, bei den Schamanen, mit hebräischer Tradition und dem alten Testament. Er schlägt den Bogen über Christus und zitiert Nietzsche:

"Könntet ihr einen Gott schaffen? – So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen."

Später betrachtet er die Weltbilder russischer Denker und endet beim Proletenkult, schließlich im stalinistischen Realismus:

"Bis in die 30er Jahre hinein hatte das Motiv des 'Neuen Menschen' in seinen verschiedenen Facetten in der Sowjetunion eine bedeutende kulturelle und politische Rolle gespielt. Doch nach dem Großen Vaterländischen Krieg und Stalins Tod 1953, mit dem Wiederaufbau des Landes und des gesamten Ostblocks, setzte sich die Profanisierung der Idee nur weiter fort. (...) Der 'Neue Mensch' hatte längst aufgehört, ein Heilsversprechen zu sein und war zum subjektiven Faktor der sozialistischen Produktivkraftentwicklung degradiert worden."

Cover: "Der kollektive Gott. Zur Ideengeschichte des 'Neuen Menschen' in Russland."
Cover: "Der kollektive Gott. Zur Ideengeschichte des 'Neuen Menschen' in Russland."© Wallstein Verlag
Ein intelligentes Buch, aber kompliziert geschrieben
Das Buch hat eine große Schwäche: Der erste Teil ist ohne Not sehr kompliziert geschrieben. Es ist der Stil, mit dem Wissenschaftler manchmal versuchen, über inhaltliche Schwächen hinwegzutäuschen. Thomas Tetzner hätte das nicht nötig gehabt. Das Buch ist intelligent. Er macht es den Lesern dadurch nur unnötig schwer. Erst am Schluss zeigt er, dass er stilistisch mehr drauf hat:

"Um der Entfaltung der Produktivkräfte kognitiv und mental nicht im Wege zu stehen, sollte der Mensch dahingehend erzogen werden, seine Subjektivität aus den objektiven Erfordernissen der sozialistischen Gesellschaftsentwicklung abzuleiten.

Im marxistisch-leninistischen Jargon wurde diese deutlich einseitig zu erbringende Anpassungsleistung etwas euphemistisch 'das Verschmelzen der gesellschaftlichen und persönlichen Interessen' genannt. Das Ideal des sich solchermaßen in harmonischer Übereinstimmung mit seiner sozialistischen Umwelt befindlichen Menschen bezeichnete man als Sowjetmensch oder, etwa in der DDR, als sozialistische Persönlichkeit.

Dieser Begriff, der auch in Abgrenzung zum bürgerlichen Individuum gedacht war, ersetzte allmählich den älteren Ausdruck 'neuer Mensch'. (…) Damit war eine lange und reiche Ideengeschichte an ihr äußerst bescheidenes Ende gekommen, zumindest auf absehbare Zeit.

Wie schon das Christentum vor ihm hatte auch der russische Kommunismus im Zuge seiner staatlichen Etablierung und Institutionalisierung das in seiner revolutionären Frühzeit so wichtige Hoffnungsziel eines 'Neuen Menschen' nach und nach relativiert, revidiert und schließlich ad acta gelegt und vergessen."


Ob Konzepte vom 'neuen Menschen' wirklich der Vergangenheit angehören, mag bezweifelt werden. Zu verlockend ist die Heilsversprechung für totalitäre Botschaften von Religionen wie Diktaturen - gerade in Russland, wo derzeit versucht wird, an alte Größe anzuknüpfen.

Thomas Tetzner: Der kollektive Gott. Zur Ideengeschichte des "Neuen Menschen" in Russland.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013
400 Seiten, 39,90 Euro