Sorge um Christen im Irak

Moderation: Dieter Kassel · 09.04.2008
Nach Einschätzung von Otmar Oehring vom katholischen Missionswerk missio sind Christen im Irak besonders gefährdet. Viele würden getötet, entführt, vergewaltigt oder mit Schutzgeldforderungen zur Flucht gezwungen. Auch wenn sie in die Nachbarländer des Irak fliehen, seien sie vor ihren Verfolgern nicht sicher. Oehring forderte daher, dass Deutschland 30.000 christliche Flüchtlinge aus dem Irak aufnehmen soll.
Dieter Kassel: 4,2 Millionen Iraker sind seit Beginn der US-Invasion in ihrem Land geflüchtet. Und unter diesen 4,2 Millionen befinden sich auch mehrere hunderttausend Christen. Sie fliehen vor Verfolgung durch muslimische Extremisten. Die meisten von ihnen leben heute in Syrien und dem Libanon. Inzwischen gibt es Forderungen, Deutschland solle gerade diese christlichen Flüchtlinge bevorzugt aufnehmen. Ein Kontingent von 20.000 bis 30.000 Menschen ist im Gespräch. Heute Nachmittag findet dazu eine Diskussion im Menschenrechtsausschuss des Bundestages statt, an der auch Innenminister Wolfgang Schäuble teilnehmen soll. Wie erwähnt, viele der Christen, die aus dem Irak bereits geflüchtet sind in den letzten Jahren, leben unter anderem jetzt im Nachbarland Syrien. Dort hat Otmar Oehring vor einer Weile einige von ihnen getroffen. Otmar Oehring von der Auslandsabteilung des katholischen Missionswerk missio. Er ist jetzt bei mir im Studio. Guten Morgen, Herr Oehring.

Otmar Oehring: Grüß Gott!

Kassel: Diese Menschen, die aus dem Irak geflohenen Christen, die Sie in Syrien konkret vor einigen Monaten zum Beispiel das letzte Mal getroffen haben, in welcher Situation sind die? Wünschen die sich überhaupt eine endgültige Ausreise, zum Beispiel nach Deutschland?

Oehring: Die Menschen, die wir in Syrien getroffen haben, die wünschen sich einfach irgendeinen Platz, wo sie in Frieden leben können. Ob das nun Deutschland ist, oder ob das irgendein anderes Land in der westlichen Welt ist, ist in dem Fall eigentlich mehr oder weniger egal. Es ist so, dass sie vollkommen am Ende sind. Viele von diesen Flüchtlingen sind bereits seit drei, vier Jahren in Syrien und auch in den Nachbarländern. Sie sind in jeder Hinsicht abgebrannt und ausgebrannt. Sie haben kein Geld mehr, sie dürfen nicht arbeiten, sie haben keine Zukunftsperspektiven, sie sind traumatisiert, sie werden zum Teil auch in Syrien und in anderen Aufnahmeländern von ihren Verfolgern aus dem Irak weiterhin verfolgt. Und in dieser Situation ist ihnen natürlich jedes Land, das sie aufnimmt, recht.

Kassel: Wovor genau sind die geflohen im Irak?

Oehring: Sie sind massiv bedroht worden im Irak. Da gibt es ganz unterschiedliche Dinge. Es ist ihnen zum einen vorgeworfen worden, sie würden mit den Amerikanern zusammenarbeiten. Die Amerikaner seien Christen, sie seien Christen, also sei das ja auch naheliegend, dass sie mit denen zusammengearbeitet haben, also praktisch die gleichen Teufel seien wie die Amerikaner.

Das Zweite ist, dass natürlich einige islamistische Extremisten dann auch alle möglichen Behauptungen in die Welt gesetzt haben, diese Leute würden zum Beispiel Alkohol verkaufen, was stimmt, was aber nach dem Koran nicht erlaubt ist. Deswegen wurden ihre Läden zerstört, wurden sie selbst bedroht. Andere haben zum Beispiel als Frisöre, als Ärzte, als was weiß ich gearbeitet und sind bedroht worden, weil der unreine Christ in dem Fall aus der Sicht dieser Extremisten einen Muslim nicht berühren darf. Es gibt also ganz viele Fälle, wo Menschen direkt bedroht worden sind.

Es hat Entführungen gegeben, es hat Tötungen gegeben, es hat den Zwang, die Aufforderung zur Konversion zum Islam gegeben, die dann auch noch damit unterstützt worden ist oder untermauert worden ist, dass man gesagt hat, wenn ihr dann tatsächlich konvertiert, dann müsst ihr uns auch noch eure Frauen und Töchter geben, damit wir mit denen machen können, was wir wollen, um zu zeigen, dass ihr wirklich ernsthaft konvertiert seid. Und in der Situation sind natürlich die Menschen in großer Zahl geflohen.

Kassel: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass über diese Ereignisse relativ wenig berichtet wird? Wenn zum Beispiel der katholische Bischof von Mossul umgebracht wird, dann macht das natürlich Schlagzeilen auch im Westen, aber im Vergleich zu den regelmäßigen Anschlägen über die auch berichtet wird, relativ wenig. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Oehring: Ich denke, dass zunächst einmal natürlich im Westen, in der westlichen Welt relativ unbekannt ist in der Breite, dass es überhaupt Christen in diesen Ländern gibt und wie viele Christen es tatsächlich in diesen Ländern auch gegeben hat in der Vergangenheit. In der Vergangenheit, muss man ja auch sagen, war das Zusammenleben der Christen und der Muslime relativ friedlich. Das ist ja doch eine relativ neue Erfahrung, dass es eben diese Auseinandersetzungen gibt, dass es diese Übergriffe von muslimischer Seite auf die Christen gibt. Hat es in der Vergangenheit natürlich auch gegeben, aber nicht in dem Umfang und in dem Ausmaß.

Ich denke, dass man das wirklich halt hier bei uns nicht gesehen hat und dass man sich natürlich auch auf ganz andere Fragestellungen konzentriert hat. Es geht natürlich um die Interessen des Westens im Nahen Osten. Und das größte Interesse gilt natürlich nicht zunächst den Minderheiten, zu denen dann in dem Fall auch die Christen gehören.

Kassel: Diese Christen, um das kurz einzuordnen, leben da aber seit 2000 Jahren. Die größte Gruppe der Christen, die es im Irak im Moment gibt, sind die so genannten katholisch-chaldäischen Christen. Das heißt, das ist jetzt keine neue Entwicklung. Die sind nicht in den letzten 20, 30 Jahren dahingekommen wie eine noch viel kleinere protestantische Minderheit, sondern das ist historisch gesehen ihr zu Hause.

Oehring: So ist es. Ich meine, die Christen haben natürlich lange vor den Muslimen dort gelebt. Das heißt, die Bevölkerung war natürlich zunächst mal, waren das Angehörige von irgendwelchen anderen Religionen und die sind dann natürlich im Laufe der Zeit Christen geworden. Im fünften Jahrhundert hat sich dann die nestorianische, assyrische Kirche gebildet. Im Mittelalter hat es dann eine Union zwischen dieser Kirche und Rom gegeben, daraus sind dann die Chaldäer entstanden, also die katholisch-chaldäische Kirche. Die Christen waren also praktisch vor den Muslimen da. Sie waren die Mehrheit der Bevölkerung lange Zeit. Und das hat sich dann natürlich in islamischer Zeit geändert, und jetzt scheint es sich weiter zu ändern.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Otmar Oehring vom Katholischen Missionswerk "missio" über die Lage der Christen im Irak und über die Forderung der Katholischen, aber inzwischen auch der Evangelischen Kirche in Deutschland, möglichst schnell und unkompliziert viele dieser Flüchtlinge aufzunehmen. Diese Zahl von 20.000 bis 30.000 christlichen Flüchtlingen aus dem Irak geistert so herum, darüber wird geredet, damit hat die Politik auch begonnen sich zu beschäftigen. Warum diese Zahl? Das ist ja nun nicht exakt die Zahl der geflohenen Menschen.

Oehring: Nein, das ist nicht die Zahl der geflohenen Menschen, aber ich habe mich bei dieser Forderung, die ich zum ersten Mal in der "Süddeutschen Zeitung" im Oktober aufgebracht habe, eigentlich an dem orientiert, was die Bundesrepublik Deutschland aufgenommen hat in den 70er Jahren, als die "Boat People" zu uns gekommen sind. Damals ist es um eine ähnlich große Zahl gegangen. Ich denke, dass ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, ein so wirtschaftsstarkes Land, ein Land mit einer so geringen Asylantenzahl momentan durchaus in der Lage sein sollte, eine so große Zahl aufzunehmen.

Es gibt ja neben der Forderung, 20.000 bis 30.000 Angehörige von nichtmuslimischen Minderheiten hier in Deutschland aufzunehmen aus dem Irak, gibt es ja auch die Forderung, dass man natürlich auf der Ebene der Europäischen Union zwischen 50.000 und 60.000 Menschen aufnimmt. Die Zahl ist auch dadurch entstanden, dass ich gemeinsam mit Reiseteilnehmern einer Reise in die Region uns überlegt haben, dass bei einer Zahl von zirka 150.000 bis zirka 200.000 christlichen Flüchtlingen, die in dieser Region leben, zudem dann noch vielleicht 50.000 bis 60.000 Angehörige anderer nichtmuslimischer Minderheiten, das Problem gelöst werden könnte, wenn es von der westlichen Welt tatsächlich eine gemeinsame Anstrengung gäbe und man innerhalb eines Zeitraumes von zwei, drei Jahren einen Großteil dieser Flüchtlinge aufnehmen könnte. Daraus ist dann diese Zahl von 30.000 entstanden, die natürlich über einen Zeitraum von drei Jahren vielleicht aufgenommen werden sollte.

Kassel: Diese Zahl, die ich auch schon genannt habe von 4,2 Millionen Flüchtlingen aus dem Irak insgesamt seit Beginn der US-Invasion, also seit dem Ende der Diktatur, die stammt aus verschiedenen Kreisen. Das sind UN-Zahlen, auf denen basieren dann Berechnungen von Amnesty International. Wenn man jetzt sagen würde, Deutschland nimmt, nehmen wir mal eine runde Zahl, exakt 30.000 Flüchtlinge aus dem Irak auf und man wäre relativ logisch, dann würde man ja sagen, wenn wir von 4,2 Millionen 30.000 nehmen, rein rechnerisch, ich bin nicht gut im Kopfrechnen, aber wären davon, je nachdem wie man das einschätzt, ungefähr 1200 christliche Flüchtlinge. Ich nehme an, so haben Sie das nicht gemeint.

Oehring: Nein, so haben wir das nicht gemeint. Wir haben uns natürlich schon auf die nichtmuslimischen Minderheiten konzentriert und gesagt, es ist besonders wichtig, dass die westliche Welt sich dieser Gruppierungen annimmt, ...

Kassel: Aber entschuldigen Sie, Sie wissen ja, worauf ich hinaus will, mit diesem Zahlenspiel auch. Würde das nicht ein falsches Zeichen setzen, wenn wir sagen, christliche Flüchtlinge interessieren uns sehr, die anderen nicht?

Oehring: Es ist ja nicht so, dass uns nur die christlichen Flüchtlinge interessieren. Uns interessieren zunächst mal in der Forderung, die wir aufgestellt haben, die nichtmuslimischen Flüchtlinge, weil wir davon ausgehen, dass natürlich die muslimischen Flüchtlinge, sowohl die Sunniten als auch die Schiiten, natürlich in den Nachbarländern des Irak sich immer noch in der Heimat irgendwie fühlen können. Das sind dominant islamische Länder, wo es natürlich für einen Muslim von vornherein einfacher ist zu überleben als für einen Angehörigen einer nichtmuslimischen Minderheit. Das ist der Punkt, warum wir uns auf diese Gruppe konzentriert haben.

Wir haben uns dabei natürlich auch daran orientiert, dass der UNHCR, also das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, ganz klar sagt, dass die Christen und auch die anderen Minderheiten, dass die tatsächlich zu den sogenannten most vulnerable gehören, also zu den besonders betroffenen Flüchtlingen, die also ganz hohe Priorität auch vonseiten des UNHCR im Hinblick auf eine Umsiedlung in ein Aufnahmeland haben.

Kassel: Wenn wir aber noch mal einen anderen Aspekt sehen, im Irak lebten vor nicht allzu langer Zeit unter dem Diktator Hussein, die Schätzungen, die haben ja nun keine ganz exakten Statistiken gehabt, aber die positiven Schätzungen sagen sogar 1,5 Millionen Christen, realistischer ist vielleicht 1,2, 1,3. Jetzt sind es unter 200.000. Wenn man jetzt durch eine liberale Einwanderungspolitik in den europäischen Ländern und vielleicht Nordamerika denen noch mehr Gelegenheit gibt, aus dem Irak zu verschwinden, hilft man damit der Sache? Ich meine, Sie sind der Sprecher eines Missionswerkes. Ist es in Ihrem Interesse, dass es keine katholischen Christen mehr im Irak gibt?

Oehring: Das natürlich nicht, aber die Erfahrung der letzten tausend Jahre, kann man fast schon sagen, zeigt eben, dass es bei allen Fluchtbewegungen, die es natürlich immer gegeben hat im Nahen Osten, insbesondere auch in Bezug auf die Christen, dass es immer noch christliche Präsenz gegeben hat. Wir sind natürlich weiterhin daran interessiert, dass es christliche Präsenz im Irak auch weiterhin gibt. Nur muss man das eine gegen das andere abwägen.

Man muss das Leid der momentan zirka 180.000 bis 200.000 christlichen Flüchtlinge in den Nachbarländern des Irak sehen und muss dann einfach sagen, den Leuten muss natürlich in irgendeiner Weise vernünftig geholfen werden. Und das muss jetzt passieren und nicht in zehn Jahren. Wir wissen alle nicht, wie der Konflikt im Irak sich weiterhin gestalten wird, wann es zu einer friedlichen Lösung kommt, und wir wissen vor allem nicht, ob diese Leute dann eines Tages tatsächlich auch wieder in den Irak zurückgehen können. Die Zukunftsperspektiven insbesondere der Angehörigen der nichtmuslimischen Minderheiten schauen diesbezüglich sehr schlecht aus.

Kassel: Herzlichen Dank. Otmar Oehring vom katholischen Missionswerk missio war das über die Lage der christlichen Minderheit im Irak und auch vor allen Dingen in Syrien und Libanon, wo viele von ihnen schon hingeflüchtet sind, und über die Forderung, nicht nur, aber vor allem auch der christlichen Kirchen in Deutschland, 20.000 bis 30.000 dieser Flüchtlinge möglichst schnell und unkompliziert aufzunehmen.