Sonderweg Saarland

Von Denise Dreyer · 22.01.2013
Das deutsch-französische Verhältnis lässt sich besonders an der Geschichte des Saarlandes verfolgen. Als 1945 die weißen Bettlaken verschwanden und dem US-Sternenbanner die Trikolore Frankreichs folgte, begann der Sonderweg des jüngsten der alten Bundesländer.
"Was wird geschehen? Niemand wusste, wie es weitergehen wird. Und niemand konnte sich das damals in den ersten Tagen nach dem Einrücken der Amerikaner so recht vorstellen."

Ende März 1945. Die amerikanischen Streitkräfte haben innerhalb einer Woche das Saarland besetzt. Aus den Fenstern verschwinden die weißen Bettlaken, Sternenbanner werden über den Rathäusern der größeren Städte gehisst. Am 10. Juli werden auch sie eingeholt, die Trikolore wird aufgezogen. Mit anderen linksrheinischen Gebieten geht das Saarland aus amerikanischer in französische Besatzungsmacht über. Hier beginnt er: der "saarländische Sonderweg".

Militärgouverneur und später Hochkommissar wird Gilbert Grandval, ein getreuer Weggefährte General de Gaulles. Er wird bis 1955 das politische Schicksal der Saar wesentlich prägen:

"Frankreich hat niemals im Geringsten daran gedacht das Saarland zu annektieren. Denn wie schon General de Gaulle selbst gesagt hatte: Es kommt nicht in Frage, aus den Saarländern Franzosen zu machen. Sie sind germanischer Rasse und Kultur, das kommt nicht in Frage. Infolge dessen war das Ziel, die französisch-saarländische Wirtschaftsunion im Rahmen einer absoluten politischen Autonomie des Saarlandes, also im Rahmen der politischen Unabhängigkeit."

Nach den ersten Gemeinderatswahlen am 15. September 1946 ernennt Grandval eine Verwaltungskommission als politische Regierung. Im Mai 1947 wird eine Verfassungskommission eingerichtet. Sie wird von einer Gesetzgebenden Versammlung verabschiedet und tritt am 17. Dezember 1947 in Kraft. Zwei Tage zuvor, am 15. Dezember 1947, hatte sich die Gesetzgebende Versammlung als Landtag des Saarlandes konstituiert. Erster Ministerpräsident wurde Johannes Hoffmann.

Die Präambel der neuen Landesverfassung legte fest: Wirtschaftlicher Anschluss an Frankreich, Währungs- und Zolleinheit mit der französischen Republik, politische Unabhängigkeit vom Deutschen Reich.

Die Saarländer als "Speckfranzosen"
Den Saarländern geht es vergleichsweise gut unter den Franzosen. Man hat mit dem Saarfranken und später mit dem französischen Franc eine stabile Währung, die Universität wird gegründet, das Theater wiedereröffnet. Es findet ein lebhafter kultureller Austausch statt, und die Wirtschaft, also die Montanindustrie, erholt sich schnell. Die Saarländer genießen zudem die Segnungen eines Sozialsystems, das damals seinesgleichen sucht. Neidvoll macht in den benachbarten Regionen das Wort von den "Speckfranzosen" die Runde.

Hochkommissar Grandval hat eine Vision. Er möchte die Saar auch international etablieren:

"Und ich muss sagen, dass bis zu dem Zeitpunkt, als – sagen wir in den 50er Jahren - die europäische Idee in präziserer Form aufkam der Gedanke dahin ging, aus dem Saarland ein zweites Luxemburg zu machen. Das war absolut praktikabel angesichts der Tatsache, dass das Saarland eine Million Einwohner hatte und Luxemburg 300.000."

Einen Mitkämpfer findet Grandval im ersten saarländischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann, genannt Joho - Journalist, bekennender Katholik, Antifaschist und Politiker; ein beleibter Mann mit dicker Hornbrille. In seiner Sylvester-Ansprache 1953 erklärt er:

"Die Saar wird immer dabei sein, wenn es um Europas Einigung geht. Und sie wird nicht nachlassen, mitzuhelfen, den Weg dahin zu bereiten und zu ebnen. Immer europäisch Denken und europäisch Handeln, das sei unser Wahlspruch für das neue Jahr. Dann wird Friede einziehen in die Familien und Völker, die sich alle einig fühlen in dem Ruf der Zeit: Herr, bewahre uns vor dem Krieg und schenke uns den Frieden."

Doch die Saarländer zögern. Anfang der 50er-Jahre verliert "der Dicke" viele Sympathien. Die Zensur drückt die wenigen Intellektuellen im Land, zum Beispiel den Schriftsteller Ludwig Harig:

"Das war ja nun für mich ein unmöglicher Staat gewesen, wo mir der Mund verboten wird. Wie lange können wir überhaupt diese Regierung Johannes Hoffmann, die ja, wenn man konsequent diese ganze Form der Regierung benennen will, wie lange wollen wir noch in einem klerofaschistischen Staat wie dem Saarland leben?"

Undatiertes Porträt von Johannes Hoffmann (1890-1967), erster Ministerpräsident des Saarlandes
Johannes Hoffmann (1890-1967), erster Ministerpräsident des Saarlandes© picture alliance / dpa
Der Franc schwächelt – die DM boomt
Zudem verschiebt sich das Wohlstandgefälle Anfang der 50er-Jahre. Der Algerienkrieg hält Frankreich in Atem, die französische Wirtschaft schwächelt und mit ihr der Franc. Die Saarländer bringen ihr Geld sicherheitshalber in Rheinland-Pfalz zur Bank. Die junge Bundesrepublik dagegen boomt, setzt zum "Wirtschaftswunder" an.

"Wir bekamen zwar hier im Saarland viele Waren, aber in Deutschland waren besonders technische Artikel, Fotoapparate und sowas, das war moderner, besser und billiger, auch die Kleidung. Und da gab es ganz große Schwierigkeiten bei der Einfuhr, weil die Franzosen das sehr streng kontrolliert haben."

Die allgemeine Unzufriedenheit und die prodeutsche Stimmung artikulieren sich im Nein zum "Saar-Statut", das am 23. Oktober 1955 zur Abstimmung steht. Es geht um die Europäisierung der Saar, mit der Ministerpräsident Hoffmann sein politisches Schicksal verbindet. Doch in der Wahrnehmung der Saarländer geht es nicht um die Frage Ja oder Nein zum Statut, es geht noch nicht einmal darum, ob "der Dicke" weg muss. Es geht um die Frage: Frankreich oder Deutschland.

"Natürlich habe ich für Deutschland gestimmt. Was anderes wäre gar nicht in Frage gekommen. Man hat nicht daran geglaubt, dass da wirklich ein selbständiges Saarland entstehen würde. Man hat angenommen, wir werden von Frankreich beherrscht."

Nein zum deutsch-französischen Saarabkommen 1955
67,7 Prozent stimmen mit "Nein", lehnen das deutsch-französische Saarabkommen ab. Ein klares Votum gegen Europa und für die Rückkehr in den deutschen Nationalstaat. Ministerpräsident Hoffmann tritt sofort zurück. Frankreich gibt umgehend den Weg für die Rückgliederung des Saarlandes frei. Am 1. Januar 1957 wird das Saarland Bundesland der BRD. Hoffmanns Nachfolger, Hubert Ney, CDU, erklärt am Neujahrstag 1957:

"Die Saar kehrt heim. Wenn wir nun zur feierlichen Flaggenhissung schreiten, so ist das der Schlusspunkt unseres mit Kraft und Geduld geführten Kampfes um die endgültige Rückkehr in das deutsche Vaterland und der Beginn unseres neuen gemeinsamen Weges in die Zukunft."

Auf die heißersehnte wirtschaftliche Vereinigung mit der boomenden Bundesrepublik müssen die Saarländer allerdings noch zweieinhalb Jahre warten. Aber schließlich ist er da: der Tag X, die Kleine Wiedervereinigung, der Einzug der D-Mark. Die Nacht zum 6. Juli 1959 am Schlagbaum bei Homburg/Eichelscheid:

"Tausende und abertausende Menschen sind von diesseits und jenseits der Grenze gekommen, um diesen Abend hier mitzuerleben. Heute Abend fällt hier die Grenzschranke. Auf der anderen Seite stehen schon die langen Kolonnen der Lastwagen, die um Null Uhr hier in das Land hineinfahren wollen. Und nun ergreift Ministerpräsident Röder das Wort: 'Meine lieben Landsleute. In diesem Augenblick fällt die letzte Schranke, die uns noch von dem übrigen Bundesgebiet getrennt hat. Damit ist auch das Saarland uneingeschränkt ein deutsches Bundesland geworden.'" (O-Ton Hörfunkreportage)

Das neue Bundesland wird Sanierungsfall
Bundesdeutsche Firmen überschwemmen den saarländischen Markt mit Kleidern, Schuhen, Kühlschränken, Staubsaugern, Fernsehern. Mit verheerenden Folgen für die heimische Konsumgüterindustrie.

Aus dem neuen, kleinen Bundesland an der Grenze zu Frankreich wird ziemlich schnell ein Sanierungsfall. Viele saarländische Unternehmen sind der neuen Konkurrenz nicht gewachsen, gleichzeitig beginnt die Krise der Schwerindustrie. Die Nachfrage nach Steinkohle als Energieträger geht zurück und die erste Kohlenkrise beginnt.

1962 kostet die Schlagwetterexplosion in der Grube Luisenthal bei Völklingen 299 Menschen das Leben.

"In einem Waldstück, nur einen Steinwurf weit von den Fördertürmen des Unglücksschachtes entfernt, stehen unter einem Meer von Kränzen, Blumen und Grün die Särge der Toten. Alle Kirchenglocken des Saarlandes läuten. Und hier ruhen die Toten aus 56 Gemeinden unseres kleinen Landes." (O-Ton Hörfunkreportage)

Den Absatzkrisen im Kohlebergbau und auf dem europäischen Stahlmarkt versucht die Politik mit hohen Subventionen zu begegnen. Trotzdem bleiben Massenentlassungen nicht aus. Bergbau und Stahlindustrie bauen zwischen 1960 und 1996 fast drei Viertel ihrer Belegschaften ab. Die Arbeitslosigkeit, von der 1970 nur 1,2 Prozent betroffen sind, pendelt sich seit 1985 auf 12 Prozent ein. Für die Beschäftigten der Gruben und Hütten, die seit dem 19. Jahrhundert mit wachsendem Selbstbewusstsein eine eigene Arbeiterkultur entwickelt und gepflegt haben, zerbricht eine Welt. 1993 kommt für 5000 Beschäftige der Völklinger Hütte das Aus.

"Für viele Völklingianer war das eine Katastrophe gewesen. Weil man immer gedacht hat: Wer will uns, wir sind die Größten. Diese Stimmung war immer in Völklingen gewesen."

Im Juni wird der Hochofen 6 der Alten Völklinger Hütte stillgesetzt.

"Die Gefühle waren miserabel, das hat mich tief betroffen. Da haben Sie Leute gesehen stehen, mit denen Sie 10, 20 und länger zusammen gearbeitet hann, die hann Tränen in den Augen gehabt am Hochofen."

Strukturwandel und Sanierung der Landesfinanzen werden die wichtigsten politischen Ziele der Jahrzehnte nach 1960. Fast 20 Jahre, von 1959 bis 1977, leitet der CDU-Politiker Franz-Josef Röder, eine wohlwollend patriarchalische Vaterfigur, die Geschicke des Saarlandes. Sein Nachfolger Werner Zeyer wird 1985 mit einem Paukenschlag abgelöst.

Bergarbeiter im Saarland demonstrieren für die Erhalt ihrer Arbeitsplätze
Bergarbeiter im Saarland demonstrieren für die Erhalt ihrer Arbeitsplätze.© AP
Beginn der Ära Lafontaine
Oskar Lafontaine beendet die jahrzehntelange CDU-Dominanz im Saarland. Die erste SPD-Regierung im traditionell katholischen, CDU-treuen Saarland, geführt von einem charismatischer Politiker, der aus der Opposition heraus die absolute Mehrheit holt. Ein ausgeprägter Machtmensch und gewandter Rhetoriker, der den Ton trifft – frech und akademisch:

"Die Gleichung 'Wir brauchen Wachstum und dies schafft zusätzliche Arbeit' ist natürlich zunächst verführerisch. Aber man muss sehen, dass jedes Wachstum mit Energieverbrauch verbunden ist und dass wir die gegenwärtige Form des Energieverbrauchs nicht fortsetzen können. Denn bevor wir alle Arbeit haben …"

"Gibt es irgendwelche Fotos, die mich irgendwie unter Zugzwang setzten könnten oder erpressen könnten? So was gibt’s nicht. Punkt. Wer also etwas anderes behauptet, der kriegt's auf die Nuss."

Die Saarländer liebten und lieben ihren Oskar, trotz "Pensionsaffäre", "Rotlichtaffäre" und Eingriffen in das Presserecht. Kritische Stimmen sind selten.

Am 10. September 1987 empfängt Oskar Lafontaine einen anderen Saarländer, der es auch zu was gebracht hatte. Allerdings im falschen Staat, so die Meinung der großen Mehrheit, die den Besuch des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in seinem Heimatort Wiebelskirchen mit gemischten Gefühlen beobachtet. Der Vorsitzende des dortigen Heimat– und Kulturvereins:

"Man kann sagen, dass die Ansicht geteilt ist. Da ist zunächst der Mensch Erich Honecker, der hier an die Stätte seiner Jugend zurückkehrt, da ist er jedermann willkommen, da hat keiner was dagegen. Auf der anderen Seite ist die Mehrzahl der Einwohner hier der Ansicht, dass er auch eine Macht vertritt, von der eine Mauer errichtet wurde, an dieser Mauer wird geschossen. Und da hat man halt auch die Hoffnung, dass dieser Besuch auch mit dazu beitragen wird, dass es hier auch Erleichterungen gibt für unsere deutschen Landsleute drüben in der DDR."

Ein kleines Häuflein Getreuer lässt den Generalsekretär dennoch hochleben, was Honecker auch zu schätzen weiß:

"Wie sie alle wissen, verbinden mich mit Neunkirchen viele persönliche Gefühle und Erinnerungen, nicht zuletzt aus der Zeit gemeinsamen antifaschistischen Kampfes. Mit tiefer Bewegung treffe ich hier heute alte Kampfgefährten."

Die Bundestagswahl 1998 beendet die 13-jährige Führung des Saarlandes durch Oskar Lafontaine. Mit der Abwahl von Bundeskanzler Kohl wechselt der Ministerpräsident als Finanzminister in das rot-grüne Kabinett unter Bundeskanzler Schröder. Neuer Ministerpräsident wird Lafontaines Getreuer Reinhard Klimmt - keine Identifikationsfigur wie Lafontaine. Klimmt führt in dem vom wirtschaftlichen Strukturwandel stark betroffenen Saarland den politischen Kurs seines Vorgängers fort. Zugleich betont er die Distanz zur Bundesregierung und kritisiert sie in wichtigen innen- und außenpolitischen Fragen.

Hatten die gleichen saarländischen Wurzeln: Oskar Lafontaine (links) und Erich Honecker
Erich Honecker (rechts) trifft den damaligen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine (SPD)© picture alliance / dpa
Erste Erfolge beim Strukturwandel
Nach nur zehn Monaten im Amt verliert Klimmt die Landtagswahl im September 1999, die CDU wird mit 1,1 Prozent mehr Stimmen stärkste Partei:

"Wenn wir Bilanz ziehen bei dem, was wir in den letzten 15 Jahren für dieses Land in der Verantwortung mit einer absoluten Mehrheit getan haben, sind wir stolz auf das Ergebnis. Wir haben es geschafft, das Land für das nächste Jahrtausend, für das nächste Jahrhundert fit zu machen."

Den SPD-Landesregierungen verdankt das Saarland erste Erfolge beim Strukturwandel, die Schaffung einer modernen Forschungslandschaft an der Universität und die zweifache Teilentschuldung des Saarlandes, das finanziell nach wie vor vom Bund und den finanzstarken Ländern abhängig ist.

Am 29.September 1999 übernimmt CDU-Ministerpräsident Peter Müller die Regierungsgeschäfte in Saarbrücken.

Die Geschichte des Saarlandes wurde auch nach dem Krieg von der internationalen Politik geprägt. Entscheidenden Einfluss dabei übte das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich aus. Das Saarland ist das französischste unter den Bundesländern.

Mit der Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik am 1. Januar 1957 wurde es zum jüngsten der alten Bundesländer. Dabei kam es zu erheblichen wirtschaftlichen Verwerfungen. Die Umstrukturierung der Wirtschaft dauert an.

Unter den Bundesländern war und ist das Saarland Vorreiter auf dem Weg zum Vereinigten Europa. Gemeinsam mit Lothringen und Luxemburg bildet es die SaarLorLux-Region, eine europäische Modellregion. Rheinland-Pfalz und Wallonien kamen hinzu. Etwa elf Millionen Menschen leben in der Großregion.

Die Identität bildet sich durch wirtschaftliche, kulturelle und touristische Zusammenarbeit heraus.

Bleibt noch anzufügen: Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit der CDU verabschiedete sich der Ministerpräsident im August 2011 aus dem Amt und wechselte zum Bundesverfassungsgericht. Annegret Kramp-Karrenbauer übernahm das Amt der Ministerpräsidentin. Nach Querelen mit der FDP beendete sie die erste Jamaika-Koalition auf Landesebene in der Bundesrepublik. Seit 2012 führt sie die schwarz-rote Koalition an der Saar.

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Themenseite 50 Jahre Élysée-Vertrag
Annegret Kramp-Karrenbauer
Seit 2011 Landeschefin: Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU)© picture alliance / dpa / Boris Roessler
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