Sonderausstellung zu Massenerschießungen

"Der Holocaust hat mich geprägt, aber das liegt hinter mir"

Eine jüdische Familie flüchtet unter dem Gelächter von Wehrmachtssoldaten
Eine jüdische Familie flüchtet. © picture alliance / dpa / UPI
Von Susanne Arlt · 27.09.2016
In einer Sonderausstellung zeigt die Stiftung Topographie des Terrors, wie die deutsche Wehrmacht systematisch ganze Dörfer durch Massenerschießungen vernichtete. Claire Boren konnte rechtzeitig fliehen, ihr Vater jedoch nicht. Sie überlebte den Krieg in einem Erdloch.
Claire Boren wirkt viel jünger. Ihre zierliche Figur, ihre sanften Gesichtszüge, ihre fast scheue, sanftmütige Art. Auch die vielen Lachfältchen um ihre rehbraunen Augen verraten kaum etwas über ihre schreckliche Kindheit. "In mir steckt aber auch viel Ärger und Zorn", sagt sie und lächelt dabei.
Anstatt darüber zu reden, drückt sie diese Gefühle lieber mit ihrer Kunst aus. Mit schemenhafte Gestalten in braun, schwarz, ockerfarben, die sich vor Schmerz krümmen. Einsam, gemeinsam. Es war ein Bild, das urplötzlich Erinnerungen in ihr wach rief. An ihre Zeit im Ghetto in Mizocz.
Ich stehe in einem Türdurchgang und schaue durch eine Glasscheibe nach draußen. Ich weiß, dass das verboten ist, aber trotzdem schaue ich nach draußen und sehe dort drei, vier Männer, die man in aller Öffentlichkeit erhängt hatte.

Ins Ghetto gezwungen

Claire Boren wurde am 8. Juli 1937 im polnischen Mizocz geboren. Ihre Eltern, Josef und Ann Langer, waren Juden, praktizierten ihren Glauben aber nicht streng. Der Vater, von Beruf Kürschner, hatte eine eigene, gutgehende Werkstatt. Der Familie ging es gut. Erst als die Deutschen im Juni 1941 nach Mizocz kamen, mussten die Borens alles zurücklassen und in das Ghetto der Stadt.
Mehrere Monate verbrachten sie dort, bis eines Tages ein Bekannter auftauchte. Er sagte zu uns, wir müssten das Ghetto sofort verlassen. Sie und ihre Mutter gingen mit, der Vater blieb. Die Fünfjährige verabschiedete sich von ihm mit einem letzten Kuss.
"Ich nehme an, er war ja so etwas wie der Kopf der Familie, dass er sichergehen wollte, dass auch seine Mutter und seine Geschwister in Sicherheit kamen. Anders kann ich es mir nicht erklären und als sich mein Vater von mir verabschiedete, hat meine Mutter ihm dies verweigert. Sie war so verärgert darüber, dass er nicht mit uns gehen wollte. Und ich glaube, dass hat sie sich selber nie verziehen, dass sie sich nicht von ihm verabschiedet hat."
Einen Tag später ließen die Deutschen das Ghetto räumen. Sie brachten die Juden in ein kleines Tal. Sie zwangen die Männer, Frauen und Kinder sich nackt auszuziehen, bevor sie sie erschossen. Unkraut wuchert heute über dem Massengrab mit mehr als 1000 Toten. Ob auch ihr Vater dort liegt, weiß Claire Boren nicht.
"Mit meiner Mutter konnte ich nie über meinen Vater sprechen, denn wenn ich es tat, fing sie sofort an zu weinen."

Überleben einem Erdloch

Darum schwieg sie. Erst Jahrzehnte später bricht die heute 79-Jährige ihr Schweigen und spricht - auch öffentlich – darüber. Wie sie und ihre Mutter anderthalb Jahre den Nazis trotzten. Zuerst Unterschlupf fanden bei einem Bekannten. Dann bei einem Bauern, einer religiösen Familie und schließlich im Wald. In einem kleinen, dunklen Erdloch.
"Tagsüber versteckten wir uns in diesem Erdloch. Aber im Rückblick frage ich mich, was haben wir den ganzen Tag damals gemacht? Dort unten in diesem Erdloch. Entweder lag sie auf dem Rücken und ich auf der Seite oder umgekehrt, so eng war es dort. Und es war so dunkel. Ich wusste nicht mehr, wann ist Tag, wann Nacht. Wenn sie schlief, lag ich wach und wenn sie wach war, schlief ich. Ich fühlte mich so allein, dass ich mich völlig in eine Phantasiewelt zurückzog."
Nach Kriegsende verließen sie ihre Heimat Mizocz. Die Mutter heiratete erneut, Claire bekam eine Halbschwester, die Familie wanderte in die USA aus. Alltag ließ die schrecklichen Erinnerungen verblassen.
Claire Boren studierte Geschichte, wollte Lehrerin werden, lernte schließlich ihren Ehemann kennen. Adam Boren, selber Holocaust-Überlebender, ging mit seiner Vergangenheit ganz anders um als sie. Viel offener, viel direkter.
"Ja, mein Mann war ein großer Gläubiger darin, den Tod anzuerkennen, und so haben wir angefangen, darüber zu reden."

Anderen Traumatisierten helfen

Claire Boren hilft das. Und sie hilft damit anderen. Jahrelang arbeitet sie als Therapeutin. Mit Patienten, die zwar keine Holocaust-Erfahrungen gemacht haben, die aber traumatisiert sind durch Missbrauch, Schläge, Gewalt. Ihnen versucht sie bis heute vor allem eins zu vermitteln:
"Ich bin wer ich bin, und ein Teil von mir hat eben diesen schrecklichen Holocaust erlebt. Er hat mich geprägt, aber das liegt hinter mir und Qualen liegen hinter euch. Ihr habt es überlebt. Ich sage nicht, dass man leiden muss, um eine starke Person zu werden. Aber wenn du das alles überlebst, dann wirst Du stärker daraus hervorgehen als du je warst."

Topographie des Terrors: "Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und schwarzem Meer"28. September 2016 bis 19. März 2017

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