Sommergewitter der Arbeiterklasse

Von Alexander Kohlmann · 24.02.2013
Unter dem Titel "Leeres Theater. Träume, Witze, Atemzüge" hat Dimiter Gotscheff in Hamburg das Spätwerk von Heiner Müller inszeniert. Eines war den Texten des 1995 gestorbenen Dramatikers deutlich anzumerken: Sie haben reichlich Patina angesetzt.
Es sind Texte, die zwischen 1989 und 1995 entstanden, nach dem Ende des Ostblocks und der "Vertagung des Sozialismus", wie es Heiner Müller selber ausdrückte. Die Tragik eines Dramatikers, dessen Utopie von der Wirklichkeit überrollt wurde, ist die Klammer dieses musealen Theaterabends.

Im Dunkel lauscht die fast 70- jährige Schauspielerin Barbara Nüsse auf einem Kassettenrecorder, auch das eine Technik von einst, den Klängen der der Internationale. "Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht...". "Der große Oktober der Arbeiterklasse, gesungen freiwillig, mit Hoffnung oder im doppelten Würgegriff von zu vielen und dazu noch mit durchschnittener Kehle?", fragt Nüsse mit den Worten Heiner Müllers, dem es 1989 wie viele Ost- und Westdeutschen Intellektuellen die Sprache verschlug.

Noch mehr als der Zusammenbruch des Ostblocks muss Müller der in den ersten freien Wahlen in der DDR 1990 manifestierte Wille zur Wiedervereinigung mit dem angeblichen "Klassenfeind" buchtstäblich die Sprache verschlagen haben. "Der große Sommer der Arbeiterklasse" entpuppte sich als ein bloßes "Sommergewitter", über das die Geschichte schneller hinweg ging, als Müller schreiben konnte. Barbara Nüsse mit diesen Texten des überrumpelten Dichter im Dunkel nach der Geschichte, der Auftakt zu diesem Abend, der auch "Heiner Müllers Memory" heißen könne, gelingt Dimiter Gotscheff stark, leider hält er dieses Niveau in den kommenden drei Stunden nicht.

Denn was folgt, ist dann doch wieder eine bloße Aneinanderreihung von Müller-Texten und Fragmenten, nicht nur von nach 1989 übrigens. Texte, die nach über 20 Jahren deutlich Patina angesetzt haben. Heiner Müller ist kein zeitgenössischer Dichter mehr, aber Gotscheff inszeniert ihn eins zu eins wie eh und je. Die Ebene der Reflektion, das Drama des Intellektuellen, der von der Realität überrollt wurde, bleibt unerzählt, dafür gibt es ein allerdings glänzend gespieltes Müller-Museum. An einem an drei Seiten von Zuschauern eingekreisten Konferenztisch arbeiten sich sechs Schauspieler durch die Klassen- und Gesellschaftsgegensätze von einst, erobern mit Müller-Gesamtausgaben den Zuschauerraum, tanzen als "Engel der Gerechtigkeit" über die Beleuchtungsbrücken und verhandeln als Hitler und Stalin noch während der Pause im Foyer Geschichtsbilder und Figuren, die im Müller-typischen Textschwall zu unendlichen Assoziationsketten verschmolzen werden.

Je länger man zuhört, desto mehr fasziniert diese Wiederbegegnung mit der 1995 abgebrochenen Arbeit an der Müllerschen Weltenformel. Das Museum weckt die Sehnsucht nach einem Müller von heute, nicht auszudenken, wie er Finanzkrise, Globalisierung und EU-Krise in seinen Texten verarbeiten würde. Denn das größte Drama ist, dass sich Müller Anfang der 90er-Jahre noch einmal wie viele andere Intellektuelle irrte: Der Zusammenbruch des Ostblocks war doch nicht "das Ende der Geschichte".


Informationen des Thalia Theaters Hamburg zur Inszenierung "Leeres Theater. Heiner Müller: Träume, Witze, Atemzüge"