Solotänzer des christlichen Glaubens

Von Arne Reul · 24.09.2011
Ein neues Berufsbild mit Bibel, aber ohne Amtskirche sind die freien Theologen. Sie bieten religiöse und spirituelle Begleitung außerhalb der Institution Kirche an. Vor allem bei Hochzeiten und anderen privaten Anlässen sind ihre Dienste gefragt.
"Als Paulus auf den Weg nach Damaskus war, um wieder mal die Christen zu verfolgen, da ist ihm Jesus in den Weg getreten und hat ihn gestoppt und hat gesagt: 'Saul, was verfolgst du mich'? – Und hat ihn zu Boden geworfen: 'Schluss damit!'"

Von Zeit zu Zeit predigt Thomas Nachtigall in einer kleinen freikirchlichen Gemeinde in Berlin-Tegel. Nachtigall ist freier Theologe. Damit gehört er zu einer Berufsgruppe, die in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat:

"Ich denke, dass die Qualität, worum es geht, grundsätzlich erhalten bleibt. Der einzige Unterschied ist natürlich der des freien Theologen – und da ist natürlich der Vergleich zu Paulus vielleicht gar nicht so verkehrt. Der war ja nun doch die meiste Zeit seines Lebens Einzelkämpfer und somit solo unterwegs und hat Spuren hinterlassen. Und insofern bin ich als freier Theologe auch nicht eingebettet in eine Institution oder eine Gemeinschaft, sondern agiere sozusagen schon ein wenig als Solotänzer."

Ein freier Theologe hat dieselbe Universitätsausbildung wie ein Pfarrer. Im Gegensatz zu diesem hat sich der freie Theologe aber für die berufliche Selbstständigkeit entschieden. Aber wer nimmt die Dienste eines freien Theologen überhaupt in Anspruch und worin bestehen diese? Macht es überhaupt Sinn, als Theologe außerhalb der offiziellen Kirchen zu agieren?
Offenbar können die Kirchen das Bedürfnis der Menschen nach christlicher Orientierung allein nicht mehr abdecken. Dass die katholische und evangelische Kirche in den letzten Jahren an Glaubwürdigkeit eingebüßt haben, ist kein Geheimnis. Ein Grund dafür sieht Thomas Nachtigall in einem zunehmenden Kontaktverlust der Kirchen zur Basis der Gläubigen:

"Der Punkt ist schlichtweg der, dass innerhalb einer kirchlichen Institution doch eine gewisse Subkultur entstanden ist, die in eigener Sprache und auch im eigenen Verständnis vom Leben häufig ganz schwer Zugang zum Menschen haben. Während sozusagen der freie Theologe an der Stelle – egal, welcher Konfession er sich zugehörig fühlt – sich doch sehr stark an Martin Luther halten muss: Dem Volk aufs Maul schauen und dessen Sprache reden, denn der Mensch auf der Straße versteht die Kirchensprache nicht."

Wenn viele Menschen keinen Kontakt mehr zu ihrer örtlichen Gemeinde haben, dann bestehen auch Vorbehalte, den Dienst der Kirche für private Anlässe in Anspruch zu nehmen wie Hochzeiten, Beerdigungen oder eine Taufe. In solchen Situationen wenden sich immer mehr Menschen an freie Theologen, die nicht für die Institution Kirche arbeiten, denen aber trotzdem theologische Autorität zugesprochen wird.

"Vielleicht spielt auch einfach eine Rolle, dass sie einem Theologen am ehesten zutrauen, so eine Zeremonie auch gestalten und halten zu können."

Peter Anhalt gehört zu einer Berliner Bürogemeinschaft freier Theologen, die sich "tun und sein" nennt und eine Vielzahl von Angeboten offeriert. Das Büro, das es seit etwa fünf Jahren gibt, hat sich nach anfänglichen Startschwierigkeiten etabliert. Daher ist Anhalt davon überzeugt, dass seine Berufsgruppe weiter an Bedeutung gewinnen wird. Ein Pastorenamt hat der Theologe nie angestrebt:

"Ich glaube schon, dass das ein Zukunftsmodell ist. Ich verfolge das seit Mitte der 90er-Jahre. Da hatte ich zum ersten Mal davon gehört, dass es so etwas gibt wie freie Theologen und hatte damals begonnen, auch zu überlegen, ob das was für mich sein könnte, wenn ich mit dem Studium fertig bin. Ich bin ja dann 2001 in die Freiberuflichkeit gegangen als freier Theologe, da waren wir bundesweit 13 in der Arbeitsgemeinschaft, jetzt sind wir über 30."
Peter Anhalt ist Mitglied in der "Arbeitsgemeinschaft freier Theologen". Das bundesweite Netzwerk will die Reputation freier Theologen fördern und auf das Spektrum der Angebote aufmerksam machen. Darüber hinaus werden gemeinsame Standards formuliert, neue Betätigungsfelder ausgelotet und die gegenseitige Unterstützung ermöglicht.

Auch Kati Bond arbeitet, wie Peter Anhalt, in der Berliner Bürogemeinschaft "tun und sein" und auch sie hat sich der Arbeitsgemeinschaft freier Theologen angeschlossen:

"Wir treffen uns zwei Mal im Jahr für zwei Tage und tauschen uns da aus, haben auch manchmal Externe, Leute, die uns noch mal an unsere Werte führen. Also, wir tauschen uns manchmal über ganz praktische Sachen aus – was macht ihr in so einer Zeremonie? Welche Texte habt ihr? Aber auch, welche Werte bewegen uns? Wo ist unsere Spiritualität, unser Gottesbild? Wir haben alle ein abgeschlossenes Theologiestudium, das ist das eine; und das andere ist tatsächlich keine Missionartätigkeit. Also wir missionieren niemanden und wollen niemanden von irgendwas überzeugen, also diese offene Haltung, die ist wichtig."

Durch die Arbeitsgemeinschaft freier Theologen, die sich auch im Internet präsentiert, kann man zum Beispiel erfahren, welcher Theologe mit welchen Angebotsschwerpunkten in der eigenen Region zu finden ist. Die Durchführung von Hochzeiten nimmt dabei einen herausragenden Stellenwert ein. Allerdings werden die Theologen hierfür aus den unterschiedlichsten Gründen engagiert.

Kati Bond: "Was ich gelegentlich hatte, waren katholische Paare, wo einer geschieden ist und wo der katholische Priester sagt, er macht das nicht mehr. Die kommen zu mir. Die wollen auch oft – das habe ich schon ein paar Mal gehabt – wirklich eine relativ katholische Zeremonie. Und dann machen wir es eben katholisch, sage ich mal so. Das Schöne ist bei uns, wir kommen auch an den Ort der Wahl. Wir machen das auch draußen, wir machen das am Strand, wir machen das um Mitternacht, wenn es gewünscht ist – im Ballon – naja, gab es schon! Das ist natürlich auch eine Attraktion, dass wir sozusagen da sehr flexibel sind."

Vielen scheint die offizielle Kirche dem Bedürfnis nach einer sehr persönlichen Gestaltung einer Familienzeremonie nicht mehr gerecht zu werden. Auch weil, so Peter Anhalt, bestimmte Riten häufig als eingefahren empfunden werden. Das gilt nicht nur für Hochzeiten:

"Ich habe mal eine Trauerfeier gemacht für eine Familie, die in der Kirche war und ich habe sie gefragt: Warum nehmen sie denn mich, weil mich müssen sie ja extra bezahlen. Da sagte die Witwe: Nein, sie wollten keinen Pfarrer, der redet nur von Gott. Und das fand ich schon sehr bezeichnend. Darum geht es eben ja nicht, dass man nur von Gott redet, sondern da war das Bedürfnis, dass der Mensch, der gestorben ist, gewürdigt wird – dass das dann auch eine spirituelle Erfahrung wird, das ist durchaus mit drin."

Die Auslastung freier Theologen kann als Beleg für ein allgemein vorherrschendes Bedürfnis nach Spiritualität gewertet werden. Viele Menschen wollen wichtige Momente des Lebens in einen solchen Kontext einbettet erleben. Sie legen allerdings keinen Wert mehr darauf, bestimmte Feierlichkeiten nach einem spezifisch christlichen Ritus abzuhalten. Hinzu kommt eine zunehmende Verständnislosigkeit für christliche Inhalte.

Peter Anhalt: "Ich frage ja auch die Paare: Was ist euch wichtig? Und da können die Paare unter Umständen sehr berührend beschreiben, was Gott oder das Göttliche für sie bedeutet. Und bei 95 Prozent dieser Paare ist es so, dass überhaupt nicht spezifisch Christliches vorkommt. Das finde ich theologisch sehr interessant."

Schon vor etwa zehn Jahren hat der katholische Theologe Hermann Häring in dem Buch "Glaube ja – Kirche nein?" den Versuch einer Bestandsaufnahme über den Zustand der heutigen Kirche unternommen. Er stellt dabei fest, dass die zunehmende Pluralisierung unserer Gesellschaft auch vor den Kirchen nicht Halt macht. Damit habe Religion ihre einheitsstiftende Funktion eingebüßt. Trotz Säkularisierung ist nach Häring aber das Religionsbedürfnis nicht verloren gegangen:

"In den industrialisierten Ländern des Westens haben Religiosität und die Geltung der Kirchen in dramatischer Weise abgenommen; das bleibt durch alle messbaren Kriterien belegt. Das inhaltlich diffuse, in der Sache aber unbestreitbare neue Bedürfnis nach Religion und Religiosität zeigt sich an vielen Orten."

Heute sucht vielmehr der einzelne Mensch nach einem individuellen Zugang zu religiösen Fragen. Krankheit, Verlust und Tod verlangen nach Antworten, die für viele nach wie vor eine spirituelle Dimension haben. Dabei soll die eigene, persönliche Erfahrung mit einbezogen werden, der bloße Nachvollzug kirchlicher Riten ist vielen zu wenig.

Bei kritischen Katholiken spielen auch noch andere Aspekte eine Rolle. Das erst seit 1870 bestehende Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit ist für viele ähnlich unhaltbar wie ein autoritäres System, das bis hoch zu den Bischöfen mehr oder weniger blinde Gefolgschaft einfordert.

Und schließlich: Was Menschen von der Kirche entfremdet, ist die Unfähigkeit der Würdenträger und Oberhäupter beider Seiten, 500 Jahre nach der Reformation in grundsätzlichen theologischen Fragen Einigkeit zu erzielen. Dabei werden die Streitpunkte von vielen überhaupt nicht mehr verstanden.

Aber wie ist es um die Kirchen bestellt, wenn sich die Konfessionen nicht einigen können? Für den nachdenklichen und kritischen freien Theologen Thomas Nachtigall stellt es sich so dar:

"Ich denke, die Kirche als Institution hat von Gott keine Garantie auf alle Zeiten. Das Evangelium, das ist ewig, das wird nicht untergehen. Und ich bin mir sicher, dass der auferstandene Christus immer wieder seine Menschenherzen erreichen wird, wodurch auch immer. Aber wenn sozusagen die Institution Kirche – und jetzt mal unabhängig, ob katholisch oder protestantisch – sich in der Mitarbeit mit diesen Christus weiter empfinden und auch tätig sein will, dann muss sie sich schon fragen, ob sie auf seinem Weg ist."

Zu den Angeboten von Thomas Nachtigall gehören neben der Durchführung religiöser Zeremonien auch theologische Seminare und Gesprächsrunden über Gott und das Christentum. Die Bürogemeinschaft "tun und sein" von Kati Bond und Peter Anhalt bietet darüber hinaus auch Coachings an. Firmen oder Teams aus Unternehmen haben die Möglichkeit, sich hier beraten zu lassen und ihre Strukturen auf den Prüfstand zu stellen.

Kati Bond: "Ich frage ja immer die Leute: 'Warum haben Sie gerade mich ausgesucht?' Und wirklich sehr oft höre ich: 'Weil Sie Theologin und nicht Psychologin sind.' Das scheint die Menschen anzusprechen, so diese Ahnung von: Mit denen können wir darüber reden, was uns wirklich bewegt, und das ist im Coaching zunehmend auch wirklich Thema. Wie kommt das, was mir wichtig ist, wie kommt das in meinem Arbeitsleben, in meinem persönlichen Leben zum Ausdruck? Wie kann ich das einbringen?"

Anhalt und Bond betonen, dass es ihnen darauf ankommt, einzelnen Kunden oder Teams dabei zu helfen, Schwächen, Kommunikationsdefizite oder Ziele selbst zu erkennen. Dass diese von ethischen und religiösen Grundsätzen gelenkt sind, spielt bei Unternehmen eine immer größere Rolle.

Peter Anhalt: "Das ist auch ein Grund, warum ich nicht Pfarrer geworden bin: Ich habe keine Antworten. Mich interessieren auch die Antworten nicht, also dass ich sage, so und so ist Glauben und so und so ist Religion. Was mich interessiert, ist, die Fragen zuzulassen und den Raum zu geben, dass jeder auch seine Antworten findet. Und da würde ich mir mehr eine Kirche wünschen, die mehr für Fragen offen ist und weniger eine Kirche der Antworten. Das, glaube ich, entspricht mehr den Bedürfnissen."

Peter Anhalt studierte an der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin. Das Studium an diesem Institut beinhaltet die Option einer freiberuflichen Tätigkeit. Etwa 20 Prozent der Studierenden entscheiden sich für ein Theologiestudium mit Diplomabschluss. Die Diplom-Theologen arbeiten in den Medien, in Verlagen, wissenschaftlichen Einrichtungen, der Erwachsenenbildung oder eben als freie Theologen. Dass freie Theologen außerhalb der Kirche ein Betätigungsfeld finden, wird auch an der Universität wahrgenommen, wie Andreas Feldtkeller, Professor an der theologischen Fakultät der Humboldt-Universität bestätigt:

"Ja es ist ja von der Gesellschaft her ganz klar erkennbar, dass eben ein wachsender Bedarf darin besteht, dass Menschen sich zwar rituelle Begleitung wünschen in den dafür einschlägigen Lebenslagen, also bei der Geburt eines Kindes, im Übergang zum Jugendalter, bei Hochzeiten oder bei Todesfällen. Und eben immer mehr Menschen auch sich mit diesem Anliegen nicht mehr an die Kirche wenden wollen oder gar nicht Mitglied der Kirche sind und insofern sich dann eben auch an Menschen wenden, die das außerhalb der Kirche anbieten, und wo dann eben die freien Theologinnen und Theologen auch mögliche Anbieter von solchen Handlungen sind."

Manchmal entscheiden sich auch Pfarrer nach einigen Dienstjahren für den Weg in die Selbstständigkeit – wie zum Beispiel Thomas Nachtigall. Von Seiten der offiziellen Kirchen bestehen allerdings gewisse Ressentiments gegenüber der Tätigkeit freier Theologen.

Andreas Feldtkeller: "Also ich habe da jetzt keine offiziellen Stellungnahmen dazu, aber mein Eindruck ist, dass das durchaus nicht nur positiv wahrgenommen wird. Dass Menschen mit einem Theologiestudium eben auch außerhalb der Kirchen arbeiten und hier eben auch gewisse Sorgen seitens der Kirche bestehen, dass etwas, was eigentlich ein kirchliches Arbeitsfeld nach kirchlicher Auffassung ist, hier sozusagen außer Kontrolle gerät."

Eine Annäherung zwischen den Kirchen und den freien Theologen scheint im Moment schwer vorstellbar. Auch Kati Bond und Peter Anhalt geben zu, bei den Kirchen eher auf Ablehnung zu stoßen. Dabei verfolgen alle Seiten im Grunde ein ähnliches Ziel: Den Dienst am Menschen unter dem Vorzeichen christlicher Werte. Die meisten freien Theologen sind Mitglied ihrer jeweiligen Kirche, sie bekunden häufig Interesse daran, in unterschiedlichen Formen mit den Kirchen zusammenzuarbeiten. Die halten sich allerdings bisher sehr bedeckt. Wahrscheinlich können sich nicht alle freien Theologen langfristig etablieren, die Nachfrage nach den von ihnen angebotenen Dienstleistungen ist im letzten Jahrzehnt jedoch beständig gestiegen.

Das einstündige Einzelgespräch im Rahmen eines Coachings kostet cirka 80 Euro, eine Beerdigung etwa 350 und eine Hochzeit 650 Euro. Dies entspricht mehr oder weniger dem üblichen Satz der in der Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen freien Theologen; schließlich legt man Wert darauf, dass Qualität, Aufwand und Erfahrung auch etwas kosten sollen.

Die Zukunft des jungen Berufszweigs mag allerdings auch Thomas Nachtigall nicht vorherzusagen:

"Welche Rolle der freie Theologe auf längere Sicht einnehmen kann – ich fürchte, dafür ist das Berufsbild doch noch zu neu, zumindest in dieser formulierten Daseinsweise. Und das wird die Geschichte zeigen müssen und das wird auch in der Verantwortung der agierenden freien Theologen liegen, ob sie es schaffen, sich selbst ein positives glaubwürdiges Image zu zulegen."