Solidarische Hilfe im Alter

Von Jantje Hannover · 25.01.2008
Die Pflege von Verfolgten des Naziregimes ist heute in der Altenhilfe kaum ein Thema. Dabei leben in Deutschland noch mehrere zehntausend Menschen, die im KZ gesessen, Zwangsarbeit geleistet oder im Widerstand gekämpft haben. Viele von ihnen sind schwer traumatisiert. Der Pflegedienst "Solidarische Hilfe im Alter" widmet sich schwerpunktmäßig dieser Klientel sowie deren Angehörigen und Freunden.
"Bist du das Hartmut? Hej, hallo Hartmut, da bin ich wieder, freu mich, dass du da bist und ich aufstehen kann, lachen, wollen wir gleich loslegen?"

Günther Schwarberg sitzt aufrecht im Bett und greift nach dem Arm von Hartmut Wehrstädt. Fast täglich besucht der Psychologe von der Solidarischen Hilfe im Alter seinen Klienten, der früher als politischer Journalist für den Stern geschrieben hat. Schwarberg ist heute 81 Jahre alt und krebskrank. Mühsam erhebt er sich aus dem Bett und streift einen Morgenmantel über. Gemeinsam geht es ins Badezimmer. Dort hilft ihm Hartmut Wehrstädt beim Duschen und Anziehen. Die Beiden gehen wie Freunde miteinander um. Eine persönliche Beziehung vom Pfleger zum Klienten gehört bei der Solidarischen Hilfe zum Konzept. Für Günther Schwarberg ein Grund mehr, diesen Pflegedienst zu wählen:

"Ich kannte die SHA schon ganz lange, bevor ich sie selbst brauchte, weil ein Freund von mir, Nisse Mijerano, ein Israeli,) der Parkinson hatte, der daran gestorben ist, rührend betreut von der solidarischen Hilfe, und ich war da schon sehr beeindruckt davon."

Günther Schwarberg war jahrelang in der VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, aktiv gewesen. Die Organisation war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Überlebenden aus dem kommunistischen und sozialistischen Widerstand gegründet worden. Für Günther Schwarberg und seine Mitstreiter ist ihre politische Überzeugung auch im Alter wesentlich:

" Mir hat mal der Berliner Bürgermeister, Pastor Albertz, den ich gut kannte, als er mit seiner Frau in ein Altersheim in Bremen gezogen ist, hat mir gesagt: es ist schrecklich, es sind so viele alte Nazis rings um uns herum. Du weißt nie, wer wohnt hinter der nächsten Tür, wenn man das bloß mal ändern könnte."

Politisch korrekte Betreuung ist kein Luxus, finden die Mitarbeiter der Solidarischen Hilfe im Alter, der SHA. Umso mehr, wenn es sich um Menschen handelt, die wegen ihrer Rasse oder ihrer politischen Meinung zu Opfern geworden sind. Nach dem Krieg lebten viele der Betroffenen in Hamburg: darunter Angehörige der großen jüdische Gemeinde, die aus dem Exil zurückgekehrt waren, befreite Zwangsarbeiter, die nicht in ihre Heimat zurückkonnten und die Überlebenden aus der organisierten Arbeiterbewegung.
Die Gründer der SHA hatten schon viele Jahre ehrenamtlich mit Verfolgten gearbeitet. Als immer mehr ihrer Klienten pflegebedürftig wurden, entwickelten sie den Pflegedienst als Geschäftsidee. Inzwischen ist die Solidarische Hilfe elf Jahre alt. Petra Vollmer führt die Geschäfte.

"Wir haben schlicht gefragt: stößt so was auf Interesse, Wenn wir so was aufmachen, würdet ihr da Leistung in Anspruch nehmen. Ich hab in der Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes lange Jahre Entschädigungsberatung gemacht. Wir haben festgestellt, das reicht nicht aus, um den Problemen, die auftauchen, genüge zu tun. Es gab ja damals neu die Pflegeversicherung, und das war unser Ausgangspunkt, zu sagen: wir gucken uns das mal an, was kann man darüber Leuten anbieten."

Heute wird die Arbeit der Solidarischen Hilfe fast vollständig aus der Pflegeversicherung finanziert. Die Zentrale befindet sich in einem einstöckigen Backsteingebäude auf dem ehemaligen Güterbahnhof im Hamburger Schanzenviertel. Im Büro der Geschäftsleitung sind die Wände mit Literatur zur NS-Zeit gepflastert. Die Bücher schlucken das Licht in dem niedrigen Raum, an der Wand steht der vollgepackte Schreibtisch von Petra Vollmer, auf einem niedrigen Tisch in der Mitte warten Tee und Kaffeekanne und ein Teller mit Gebäck. Hier finden kleine Mitarbeiterbesprechungen statt. Außer der Geschäftsführerin und der Pflegeleiterin sitzt der Psychologe Hartmut Wehrstädt mit am Tisch:

"Jemand wie ich, der 42 geboren wurde, konnte dem nicht entkommen, dieser Geschichte und der stattfindenden oder auch nicht stattfindenden Aufarbeitung."

Wehrstädts Vater hatte als KPD-Mitglied im KZ gesessen und später als Kämpfer im Strafbataillon den Krieg überlebt. Das sei aber nicht seine ursprüngliche Motivation für die Pflegearbeit, betont Wehrstädt:

"Wollte Arbeitsbedingungen mir schaffen, wo ich die Menschen kennenlernen kann, die mich kennenlernen können, aufheben von Entfremdungssituationen, das war für mich wichtig, ich möchte lieber mit Leuten, die Widerstand geleistet haben oder sonst wie Opfer geworden sind des dritten Reiches, zu tun haben, als, sag ich mal polemisch, mit dem alten Panzergeneral."

Die gelernte Krankenschwester Barbara Kämper ist über eine Stellenanzeige zur Solidarischen Hilfe gekommen. Als Pflegeleiterin ist sie heute unter anderem für die Neueinstellungen zuständig. Wer bei der Solidarischen Hilfe arbeiten möchte, braucht ein bisschen mehr als nur die fachliche Qualifikation.

"Dass in erster Linie eine große Offenheit diesem Thema gegenüber da sein muss und ein Grundverständnis für diese Situation: dass viele, die wir betreuen, sich nach wie vor als Kommunistinnen und Kommunisten definieren, und dass sie darin nicht ständig hinterfragt werden wollen. Man kann sich gerne auch mit ihnen darüber streiten. Aber alle, die hier anfangen, dürfen kein Problem damit haben, dass das so ist. Da sind wir ganz klar ein Tendenzbetrieb.
Hier muss niemand eine politische Richtung vorweisen, bei einer Bewerbung, aber es muss die Bereitschaft da sein, sich mit diesen Leuten in Sympathie auseinandersetzen. Wenn jemand anfängt und sagt: die Verbrechen der DDR-Regierung sind mit dem gleichzusetzen, was hier im Faschismus passiert ist, dann wird es sicherlich problematisch vor Ort."

Inzwischen ist der Mitarbeiterstab der Solidarischen Hilfe im Alter auf fast 40 Menschen angewachsen, zwölf Stellen davon sind Vollzeitarbeitsplätze, der Rest arbeitet in Teilzeit oder als Aushilfe.
Man will mehr anbieten als das übliche Pflegeprogramm. Dazu gehört, gebrechlichen Leuten den Besuch bei Freunden zu ermöglichen oder sie zu speziellen Veranstaltungen der Verfolgtenverbände zu begleiten. Vieles funktioniert nur, wenn einzelne Mitarbeiter auch immer wieder zu ehrenamtlichen Zusatzeinsätzen bereit sind. Aber im Wesentlichen wird versucht, mit den Pflegegeldern über die Runden zu kommen, erklärt Barbara Kämper:

"Wir haben ja einen Leistungskatalog, der bezahlt wird, und wir rechnen da in irgendeiner Form Zeit gegen. Die ist natürlich immer begrenzt, weil wir nicht mehr Geld kriegen als andere Pflegedienste. Aber wir versuchen, dass Leute vor Ort soviel Zeit haben, wie es wirtschaftlich zu vertreten ist. Und die Leute vor Ort bestimmen, was in dieser Zeit passieren soll. Wenn sie nicht eine große Grundpflege morgens haben wollen, sondern lieber mal eine Zigarette rauchen und reden, dann ist das so, das ist deren gutes Recht."

Zeit zum Reden ist in der Altenpflege wichtig und in den meisten Fällen nicht mit eingeplant. Die Solidarische Hilfe versucht dem gerecht zu werden, indem sie einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt. Gemeint ist, dass nicht einer die therapeutischen Gespräche führt, ein anderer Patienten wäscht und Windeln wechselt und ein dritter das Klo putzt. Wer in einen Haushalt fährt, muss dort alles erledigen, was ansteht. Jeder Mitarbeiter muss also auch zuhören können.

Bei den Gesprächen geht es dabei nicht zwangsläufig um die persönlichen Erlebnisse. Viele haben die erlittenen Qualen während der Nazizeit ein Leben lang erfolgreich verdrängt. Auch wenn im Alter vieles wieder an die Oberfläche dringt, versuchen die Menschen alleine damit klarzukommen.

"Zu mal man sagen muss, dass gerade bei den jetzt Hochbetagten, so was wie Psychotherapie einen ganz anderen Stellenwert hat, als vielleicht heute in der 50-jährigen, oder vielleicht jüngeren Generation. Das ist eher ein ganz großes Tabu, dass da ein Therapeut aufgesucht wird. Es geht darum, dass man bestimmte Probleme, die jemand hat, im Umgang mit anderen oder sich selbst, erstmal ganz praktisch angeht."

Die Pflegekräfte müssen versuchen für komische Verhaltensweisen Verständnis aufzubringen. Viele Klienten entwickeln im Alter zwanghafte Ticks. Bei der Morgentoilette gilt es, bestimmte Rituale strikt einzuhalten, Gegenstände in genau der gleichen Reihenfolge an genau den gleichen Orten abzulegen. Wenn es wegen solcher Forderungen in der Beziehung zwischen Pfleger und Patient knirscht, berät der Psychologe Hartmut Wehrstädt die Mitarbeiter.

Einer der schwierigsten Fälle für die Solidarische Hilfe war eine inzwischen verstorbene Patientin, die in der Nazizeit als Asoziale verhaftet und zwangssterilisiert worden war. Eine Herausforderung für Pflegeleiterin Barbara Kämper:

" Sie hat nur erfahren, dass Ärzte und Krankenschwestern ihr wehtun, sie einsperren und Dinge mit ihr anstellen, die sie nicht will. Insofern war es immer wieder sehr schwierig, überhaupt in die Wohnung dieser Patientin zu gelangen. Es ist immer wieder vorgekommen, dass sie körperlich auf uns losgegangen ist, sie hat versucht, uns zu schlagen. In dem Moment kann man nur zurückgehen, abwarten. Gerade bei dieser Frau war es so, dass es einen unheimlichen Erfolg gab. Wenn sie diese Aggressionen ausleben konnte, wenn sie diese Phase überwinden konnte, dann durfte man kommen: danach durfte man sich hinsetzen, dann kriegte man einen Kaffee, dann sagte sie: so jetzt kannst du den Schrank aufmachen, kannst die Sachen rausholen und darfst mir auch Insulin geben."

Inzwischen gelten die Leute von der Solidarischen Hilfe als Fachleute für die schwierigen Fälle. Ärzte und Ämter vermitteln frühverentete Drogenabhängige, Migranten, die nicht deutsch sprechen oder Menschen mit psychischen Problemen an den Pflegedienst.
Aber Arbeit mit Verfolgten heißt nicht in erster Linie, mit besonders schwierigen alten Menschen klarzukommen. Ganz im Gegenteil können die Pfleger von der Erfahrung dieser Menschen profitieren, findet Petra Vollmer:

"Es ist ja gar nicht so selbstverständlich, dass man da leibhaftig in Kommunikation und Auseinandersetzung tritt, weil da eher die Haltung ist: NS-Opfer, KZ-Opfer, die waren, die sind alle tot, man redet über Geschichte, man redet nicht mit leibhaftigen Menschen, die sich auch heute noch im Jahr 2007 über politische Vorgänge aufregen, auch wenn sie NS-Verfolgte sind. Das ist eine Erfahrung, gerade für jüngere Leute, das kann ich auch von mir selber sagen, gibt dem ganzen eine andere Facette, wenn mit Leuten darüber sprechen kann, die 60 Jahre Bundesrepublik erlebt haben."

Auch das jüdische Ehepaar Wittenberg war Anfang der 50er Jahre aus dem Exil zurückgekehrt. Die beiden haben sich als Zeitzeugen einen Namen gemacht und sind immer wieder vor Publikum aufgetreten. Inzwischen kann sich Steffi Wittenbergs 87-jähriger Mann Kurt nur noch mit Mühe erinnern, was er und seine Familie in der Nazizeit durchgemacht haben.

"Du weißt doch, was im Januar 33 war, was da passiert ist mit deinem Vater, was sie mit ihm gemacht haben!
Den haben sie durch die Stadt geführt. mit einem Schild, mit Schild, ja, dass dieser Jude ein deutsches Kind geschlagen hat, weil die ihn angepöbelt haben, ich krieg das jetzt nicht mehr zusammen …"

Kurt Wittenberg leidet unter Altersdemenz und ist schwerhörig. Seine Familie, kleine Leute, die ein Lederwarengeschäft besaßen, waren seinerzeit aus Osterode in Ostpreußen nach Montevideo, Uruguay ausgewandert. Dort lernte der Maurergeselle Kurt seine spätere Frau kennen, die ebenfalls geflohen war - aus Hamburg.

"Wir sind ja nicht freiwillig irgendwo hingegangen, das war ja praktisch eine Ausweisung."

Das Schicksal von Ausweisung und Verfolgung hat die Wittenbergs ein zweites Mal getroffen. Sie lebten damals in Texas. Steffi Wittenberg arbeitete als Fremdsprachenkorrespondentin. Ihr Mann war aktiver Gewerkschafter und sympathisierte mit den Kommunisten. In einem aufsehenerregenden Prozess wurden sie während der Mc Carthy-Ära des Landes verwiesen.

In Hamburg engagierten sich die Wittenbergs dann fast 50 Jahre im Verein der Verfolgten des Naziregimes. Dort haben sie die Leute kennengelernt, die heute die Solidarische Hilfe im Alter betreiben. Bis sie sie eines Tages selber brauchten:

"Dann war das praktisch so, dass er überhaupt nicht mehr alleine konnte, ins Badezimmer musste ich mitkommen. Die Treppe war ganz schwierig, er konnte kaum runterkommen, ich musste ihn ständig begleiten, da wusste ich, er braucht einen Pflegedienst, da haben wir beide sofort an die Solidarische Hilfe gedacht."

Inzwischen kommt die Solidarische Hilfe zweimal täglich in das winzige Reihenhaus in Hamburg-Niendorf. Die Hauptbezugsperson von Kurt Wittenberg ist der 33-jährige Marc Allhorn. Er gehört zu den Jüngeren im Team und ist gelernter Altenpfleger. Marc trägt schwarze Kleidung und ein ebenfalls schwarzes Basecap. Lippe und Nase sind mit mehreren Silberringen gepierct.

"Für mich war das immer Thema, Faschismus und vor allem Antifaschismus, auch durch meine eigene Familie. Mein Großvater war auch Faschist. Das war immer Thema, irgendwann kristallisierte sich das raus, dass wir mit mehreren Leuten uns zusammengetan und eine Antifa gegründet haben. Ich habe KZs besucht und mich mit dem Thema auseinandergesetzt.
Ich bin nach Hamburg gekommen, und hab einen Job gesucht, ich bin dann eher zufällig durch eine Stellenanzeige im Internet auf die Solidarische Hilfe aufmerksam geworden, hab mir das Leitbild angesehen, was an Grundaussagen da ist, und war sofort Feuer und Flamme."

Weil immer weniger Überlebende aus der Nazizeit zu betreuen sind, stammen mittlerweile mehr als die Hälfte der Klienten nicht mehr aus dem Kreis der Verfolgten. Die Solidarische Hilfe fühlt sich aber auch jetzt der Idee verpflichtet, Menschen mit einem besonderen Pflegebedarf ein würdevolles Altern zu ermöglichen.