"Solch ein Diskurs nährt den Rassismus"

Liliam Thuram im Gespräch mit Burkhard Birke · 18.02.2012
Die Politik schüre rassistische Vorurteile, lautet der Vorwurf von Fußballidol Lilian Thuram, der im französischen WM-Team von 1998 spielte. Dies geschehe etwa durch Äußerungen von Frankreichs Innenminister Claude Guéant über eine angebliche Hierarchie der Kulturen, so Thuram. Dasselbe gelte auch für Bundeskanzlerin Angela Merkel, wenn sie davon spreche, dass Multikulti gescheitert sei.
Deutschlandradio Kultur: Man wird Rassist, man wird nicht als Rassist geboren. Das ist auch der Slogan der von Ihnen gegründeten Stiftung. Man erblickt allerdings mit einer bestimmten Hautfarbe das Licht der Welt. Sie, Lilian Thuram, sind als Schwarzer auf die Welt gekommen. Welche Erfahrungen mussten Sie aufgrund Ihrer Hautfarbe machen?

Lilian Thuram: Ich bin erst in den Augen der Anderen schwarz geworden, als ich in die Pariser Region zog. Ich stamme aus Guadeloupe. Und erst als ich mit neun Jahren hierherzog, habe ich angefangen über meine Hautfarbe nachzudenken und zwar als Problem. Ich habe meine Mutter gefragt, wieso das so sei. Sie konnte mir nicht richtig antworten. Und im Laufe der Jahre ist mir bewusst geworden, dass der Rassismus in erster Linie ein intellektuelles Konstrukt ist. Man wird nicht als Rassist geboren, sondern man wird dazu. Und da es sich um ein intellektuelles, ein politisches, ein Konstrukt der Geschichte handelt, kann man es abbauen.

Deutschlandradio Kultur: Sie definieren also Rassismus als intellektuelles Konstrukt?

Lilian Thuram: Ja natürlich. Man braucht doch nur in die Geschichte zurückzublicken. Zum Beispiel der Nationalsozialismus baute auf einer Hierarchie, auf der Überlegenheit der arischen Rasse auf. Das war eine intellektuelle Konstruktion. Diese Idee der Überlegenheit der arischen Rasse stammte nicht von Hitler. So befindet sich zum Beispiel in den Schriften von Gobineau zur Ungleichheit der Rassen bereits dieser Gedanke, dass es überlegene und unterlegene Rassen gibt.

Deutschlandradio Kultur: Als Sie in Italien Fußball spielten, haben die Zuschauer oft Affengeräusche von sich gegeben, als Sie am Ball waren. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Was haben Sie empfunden?

Lilian Thuram: In der Tat hatten in Italien einige Zuschauer Affengeräusche von sich gegeben, als schwarze Spieler den Ball berührten. Die Journalisten waren damals bestürzt. Denen habe ich gesagt, sie sollten nicht schockiert sein, sondern sich vielmehr die Frage stellen, weshalb diese Zuschauer solche Geräusche machen. Das liegt einfach an unser Kultur: Unsere Kultur baut auf Rassismus auf.

Deutschlandradio Kultur: Lilian Thuram, Sie waren Spitzenfußballer – wie kam es dazu, dass Sie sich so stark gegen Rassismus einsetzen? Weshalb diese Kampagne im Rahmen einer eigenen Stiftung? Sie sind auch Kurator der Ausstellung "L’invention du sauvage" im Pariser Museum Quai Branly, die derzeit Fragen der Sklaverei, der Degradierung einer Hautfarbe gegenüber einer anderen aufgreift? Woher rührt Ihr Engagement?

Lilian Thuram: Das hat zunächst persönliche Gründe. Frankreich hat 1848 die Sklaverei abgeschafft. Mein Großvater kam 1908, also nur 60 Jahre nach dem Ende der Sklaverei, auf die Welt. Deshalb ist es mir ein sehr persönliches Anliegen geworden. Dann ist das natürlich eine Frage von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Von Rassismus zu sprechen bedeutet doch in erster Linie von Gerechtigkeit zu sprechen. Und jede Generation muss gegen die Ungerechtigkeiten kämpfen. Deshalb gehe ich in die Schulen, um über die Sklaverei und vor allem darüber zu sprechen, wie man den Mitmenschen sieht. Denn die Art und Weise, wie man den anderen sieht, ist nie unverfänglich, sie ist das Resultat einer Konditionierung, und über diese Konditionierung muss man nachdenken.

Deutschlandradio Kultur: Wie reagieren die Kinder, wenn Sie in die Schulen gehen?

Lilian Thuram: Sehr positiv, denn ich habe das Glück, die Fußballweltmeisterschaft gewonnen zu haben. Deshalb freuen sie sich, mich zu sehen. Dann versuche ich Ihnen zu erklären, weshalb es unterschiedliche Hautfarben gibt. Man verbindet so viel mit der Hautfarbe, aber selbst viele Erwachsene wissen nicht, dass die Hautfarbe der Menschen das Resultat der Anpassung an unterschiedliche klimatische Bedingungen im Laufe der Menschheitsgeschichte ist. Allein diese Information reicht schon, um die menschliche Vielfalt zu verstehen. Das eigentliche Problem ist nämlich, dass wir die Vielfalt der Menschen nicht akzeptieren. Wir neigen dazu, Dinge in Hierarchien einzuordnen, was, wie die Geschichte belegt, zu großen Katastrophen geführt hat. Deshalb muss man den neuen Generationen beibringen, dass wir alle gemeinsam auf einem Planeten leben und eine gemeinsame Zukunft bauen müssen.

Deutschlandradio Kultur: Sie arbeiten dabei auch mit einer DVD in einer Auflage von 1,3 Millionen, was beinhaltet diese?

Lilian Thuram: Es handelt sich um eine Doppel-DVD. Sie ist gedacht als Unterrichtsmaterial für die Lehrer der 4. und 5. Klassen, um das Thema Rassismus zu behandeln und genau dieses intellektuelle Konstrukt durch wissenschaftliche Fakten zu entkräften. Da werden geschichtliche Fakten geliefert und vor allem sollen die Kinder zum Nachdenken gebracht werden. Wie wird man zu dem Menschen, der wir sind? Denn wir vergessen alle, dass wir durch ständige Konditionierung zu dem werden, was wir sind. Weshalb vertreten wir bestimmte Positionen? Darüber soll nachgedacht werden und über die Aussagen der Politik, die den Rassismus teilweise noch fördern, die die Bevölkerung spalten.

Deutschlandradio Kultur: Ist Frankreich ein rassistisches Land?

Lilian Thuram: Es geht nicht darum, ob Frankreich rassistisch ist. Es geht doch um die Frage, warum es rassistische Vorurteile in Frankreich gibt. Natürlich gibt es die genauso wie es Sexismus und Homosexuellenfeindlichkeit gibt! Und in Deutschland, Italien oder Spanien dürfte es nicht anders sein. Deshalb müssen wir über diese Konditionierung nachdenken. Wenn wir auf Frankreich blicken, so gibt es derzeit hier politische Bestrebungen, die Unterschiede zu verfestigen – etwa wenn Innenminister Guéant von einer Hierarchie der Kulturen spricht! Solch ein Diskurs nährt den Rassismus.

Wenn z.B. Bundeskanzlerin Merkel davon spricht, dass Multikulti gescheitert ist, dann ist auch das ein Diskurs, der rassistische Thesen fördert. Wenn es dann zu Ausschreitungen in den Stadien kommt oder zu Zwischenfällen wie unlängst in Italien, als ein junger Mann zwei Senegalesen ermordet hat, dann zeigt das doch, wozu ein Diskurs führen kann, der die Menschen so konditioniert, dass sie glauben, der eine sei überlegen und der andere unbedeutend.

Deutschlandradio Kultur: Lilian Thuram, werfen Sie den Politikern vor, den Rassismus zu schüren?

Lilian Thuram: Seit jeher haben doch die Politiker die Unterlegenheit des anderen aufgebaut. Zum Beispiel während der Kolonialzeit – das waren doch die Politiker und nicht die Bauern in Europa, die die Unterlegenheit vorgegeben haben. Der Nationalsozialismus, das waren doch die Politiker und nicht die einfachen Bürger, die die Unterlegenheit bestimmter Gruppen vorgegeben haben, das Gleiche gilt für die Apartheid. Dieses intellektuelle, dieses politische Konstrukt wird meiner Meinung nach immer von den Regierungen getragen.

Deutschlandradio Kultur: Wir befinden uns gerade im Wahlkampf in Frankreich. Amtsinhaber Nicolas Sarkozy hat sich gerade zum Kandidaten für die Präsidentschaft erklärt. Sein Diskurs scheint nicht sehr tolerant zu sein. Sie, Lilian Thuram, haben von der Anerkennung des Anderen gesprochen, der Homosexuellen. Nicolas Sarkozy hat in einem Interview im "Figaro" erklärt, er sei gegen gleichgeschlechtliche Eheschließungen. Schürt Nicolas Sarkozy damit den Rassismus und die Homophobie in Frankreich?

Lilian Thuram: Selbstverständlich. In dem Augenblick, wo sie einem Teil der Bevölkerung nicht die gleichen Rechte zusprechen, handeln Sie gegen den Gleichheitsgrundsatz. Das ist die Realität. Ein jeder von uns möchte doch gleich in der Gesellschaft behandelt werden. Deshalb müssen wir uns für eine egalitäre Gesellschaft einsetzen.

Deutschlandradio Kultur: Das bedeutet, Sie werden auf keinen Fall für Nicolas Sarkozy Wahlkampf machen, womöglich aber für dessen Gegner, den Sozialisten François Hollande?

Lilian Thuram: Ich werde mich ehrlich gesagt für niemanden engagieren. Ich bin hier, weil Sie mir Fragen stellen, die ich beantworte. Jeder von uns muss aber für eine gerechtere Gesellschaft arbeiten. Denn, wenn die Gesellschaft gerechter wird, geht es uns allen besser.

Deutschlandradio Kultur: Wir sprechen über Politik, Lilian Thuram, die Rechtsradikalen sind in Frankreich mit der Partei Front National sehr stark. Glauben Sie, dass es deren Kandidatin Marine Le Pen in die Stichwahl schafft? Ein Drittel der französischen Bevölkerung teilt ihr Gedankengut, beunruhigt Sie das?

Lilian Thuram: Ich besitze noch keine Kristallkugel, deshalb kann ich Ihnen die Zukunft nicht vorhersagen. Es ist aber bezeichnend, dass man in Krisenzeiten auf die Unterschiede zwischen den Individuen abhebt, die eine Gesellschaft formen. Ich hoffe, dass wir erwachsen genug sind, um nicht in diese Falle zu tappen. Die Geschichte hat gelehrt, dass in Krisenzeiten immer ein Sündenbock gesucht wird. Man darf jetzt nicht in diese Falle tappen, sondern muss allgemein für mehr soziale Gerechtigkeit kämpfen. Politiker neigen dazu, Nebelkerzen zu werfen, damit wir die Realität und das Wesentliche verkennen. Das darf man nicht verkennen und deshalb ist es aus meiner Sicht das Intelligenteste, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu fordern. Das sollte momentan im Vordergrund stehen. Auf den Fassaden sämtlicher Rathäuser in Frankreich prangen die Worte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese Art Gesellschaft sollten die Politiker verteidigen!

Deutschlandradio Kultur: Ich hake nach: Gibt es denn eine Partei oder eine Person in Frankreich, die diese Ideale für Sie momentan verkörpert?

Lilian Thuram: Für mich ist viel relevanter, dass es heutzutage Parteien gibt, die diese Ideale nicht verkörpern, sondern die auf Konfrontation und Spaltung setzen. Wir wissen doch aus der Geschichte, dass man sehr aufpassen muss, wenn man die Menschen spaltet!

Deutschlandradio Kultur: Lilian Thuram, haben Sie in jüngerer Vergangenheit die Entwicklungen beim Rechtsextremismus in Deutschland verfolgt, bei dem man sogar eine Facette des Terrorismus entdeckt hat?

Lilian Thuram: Ehrlich gesagt nein, aber diese Entwicklung überrascht mich nicht. Wenn in der EU ein Diskurs gepflegt wird, der die Fremden stigmatisiert, wenn die muslimische Bevölkerung seit 2001 durch Zeitungsartikel und politische Reden stigmatisiert wird, dann ist es doch normal, dass der Rassismus in Krisenzeiten zunimmt. Deshalb sage ich: Die Politiker tragen besondere Verantwortung. Wenn Kanzlerin Merkel davon spricht, dass Multikulti gescheitert ist, was steckt denn dahinter? Was soll damit gesagt werden? Dass wir nicht gut miteinander leben können?

Deutschlandradio Kultur: Bundespräsident Wulff hat aber auch gesagt: Der Islam hat seinen Platz in Deutschland.

Lilian Thuram: Glücklicherweise gibt es auch noch Menschen, die darauf bedacht sind, nicht noch Öl ins Feuer zu gießen. Deshalb hoffe ich, dass unsere Gesellschaften nicht in Konfrontation verfallen, dass wir reif genug sind, um zu verstehen, dass wir eine bessere Gesellschaft, eine bessere Welt schaffen müssen, denn immerhin ist uns bewusst, dass wir alle auf demselben Planeten leben.

Deutschlandradio Kultur: Eine bessere Welt schaffen – bedeutet das auch, Lilian Thuram, dass wir alle Illegalen in Frankreich, Deutschland, Spanien legalisieren müssen?

Lilian Thuram: Wenn man an eine bessere Welt denkt, dann muss man sich auch die Frage stellen, weshalb Menschen aus dem Süden in den Norden auswandern. Das ist doch das Wichtige! Weshalb gibt es Länder wie die unsrigen, die große Mengen an Rohstoffen verbrauchen? Jeder will doch ein besseres Leben. Wenn Menschen unter Lebensgefahr die Wüste durchqueren, das Mittelmeer überqueren – manche sterben auch beim Versuch, ihr Glück in Europa zu suchen – dann muss man sich doch die Frage stellen, ob es nicht an der Zeit ist, die Reichtümer dieser Welt zu teilen. Die Frage stellt sich im Land selbst. Wenn wir von Gleichheit sprechen, dann muss man natürlich auch überlegen, wie der Wohlstand in einer Gesellschaft verteilt werden kann.

Deutschlandradio Kultur: Den Wohlstand gerecht zu verteilen, das wird extrem schwer in Krisenzeiten und ist natürlich auch in ein und demselben Land sehr schwer. Wie kann dieser Teufelskreis durchbrochen werden?

Lilian Thuram: Nur mit dem nötigen politischen Willen gelingen Veränderungen. Nur mit dem nötigen politischen Willen gelingt das. Ohne Auseinandersetzung kommt es jedoch nicht zu Veränderungen. Gerechtigkeit kann nur über Kampf erzielt werden, sie kommt nicht automatisch. Wenn die Politik aber wirklich eine Gesellschaft wollte, in der jeder seinen Platz hätte, dann, glauben Sie mir, wäre das möglich.

Deutschlandradio Kultur: Der Kampf besteht der auch darin, dass man die Illegalen legalisiert?

Lilian Thuram: Das ist die falsche Frage.

Deutschlandradio Kultur: Die illegalen Einwanderer sind aber hier – etwas muss mit ihnen passieren!

Lilian Thuram: Nein – ich sage noch mal: Die Frage stellt sich doch vorher. Weshalb kommen Menschen nach Europa, um hier ihr Glück zu suchen? Weil die internationale Politik, die von den wichtigsten Staaten der Welt gelenkt wird, ob das nun Deutschland oder Frankreich sind, dafür sorgen muss, dass die Reichtümer geteilt werden. Das ist jedoch nicht der Fall.

Deutschlandradio Kultur: Dennoch besteht Handlungsbedarf. So sagt der französische Präsident Nicolas Sarkozy beispielsweise, die Einwanderung müsse beschränkt werden. Auch die Europäische Union bemüht sich, die Einwanderungsströme zu bremsen, weil es zu viele werden. Selbst wenn man die Probleme international lösen würde, bräuchte man dazu Zeit. In der Zwischenzeit kommen Immigranten – was sollen wir mit ihnen tun?

Lilian Thuram: Selbst wenn die Politik behauptet, sie wolle die Probleme auf internationaler Ebene lösen, so ist das nicht wirklich der Fall. Lassen Sie uns realistisch bleiben. Ich gebe Ihnen ein einziges Beispiel. Die Länder, die im UN-Sicherheitsrat die Sicherheit der Welt garantieren sollen, sind doch genau die Länder, die am meisten Waffen produzieren. Da sieht man doch, wo das Problem liegt.

Deutschlandradio Kultur: Sollte man denn das Geld aus der Rüstungsindustrie in Investitionen in Afrika, Lateinamerika, Asien umlenken?

Lilian Thuram: Nein. Das Wichtigste wäre wohl – wenn man die Rüstungsausgaben kürzt – das Geld in jedem einzelnen Land in die Bildung zu stecken und damit anzufangen, für mehr Gleichheit zu sorgen. Das ist möglich, man muss es nur politisch wollen. Wir sollten wirklich über die Bildung für unsere Kinder nachdenken, über den Zugang zur Gesundheitsversorgung, das ist ganz entscheidend. Auch an die Alten sollte man denken, denn am Umgang mit ihnen erkennt man eine Gesellschaft und ihre Lebensphilosophie. Bildung ist elementar, Zugang zu Gesundheit für alle und möglichst viele Menschen sollten Arbeit bekommen!

Deutschlandradio Kultur: Lilian Thuram, Sie kämpfen gegen Rassismus, für Gleichheit. Sie waren Teil der berühmten Nationalmannschaft, die 1998 Fußballweltmeister wurde, black blanc beur – das stand für eine Mannschaft, einen Traum aus schwarzen, maghrebinischen und weißen Spielern. Ist dieser Traum ausgeträumt, wenn Ihr Weltmeister-Mannschaftskollege und aktueller Trainer Laurent Blanc fordert, nur noch 30 Prozent schwarze und maghrebinische Spieler auszubilden, da diese sonst womöglich für ihre Ursprungsländer antreten?

Lilian Thuram: Diese Überlegung war falsch. Laurent Blanc hat sich auch dafür entschuldigt. In unseren Gesellschaften gibt es leider viele Menschen, die schlecht denken und die muss man zur Ordnung rufen, das ist geschehen.

Deutschlandradio Kultur: Hätten Sie als früherer Fußballspieler Interesse daran, mit Ihrer Stiftung mit dem Deutschen Fußballballbund und dem französischen Verband gemeinsam gegen Rassismus, für mehr Toleranz und ein besseres Verhalten der Fans in den Stadien zu kämpfen?

Lilian Thuram: Mit großem Vergnügen. Ich möchte aber betonen, dass der Kampf gegen Rassismus in erster Linie eine erzieherische Aufgabe ist. Jeder von uns hat Vorurteile. Man muss sich bewusst machen, dass diese Vorurteile eine Geschichte haben. Unsere rassistischen Reflexe sind häufig emotional, unkontrolliert. Da muss man ansetzen. Man muss Verständnis für die Leute zeigen, ihnen Wissen vermitteln, das ihre Überzeugungen zu Fall bringt. Wer rassistische Vorurteile hat, glaubt, dass diese wahr sind. Diese Vorurteile müssen abgebaut werden. Dazu müssen wir in die Geschichte gehen, um aufzuzeigen, wie über Generationen hinweg der Eindruck vermittelt wurde, der Andere sei anders, sei minderwertig.

Deutschlandradio Kultur: Wo sähen Sie denn Parallelen? In Frankreich gibt es eher Probleme mit Schwarzen oder Menschen, die ursprünglich aus Nordafrika stammen, in Deutschland hingegen existieren eher Probleme mit Menschen türkischer Abstammung. Wo gäbe es da gemeinsame Ansatzpunkte?

Lilian Thuram: Die Bevölkerungsschichten, denen man mit den größten Vorurteilen begegnet, sind in der Regel die ärmsten. Deshalb müssen wir uns um die Bedürftigsten kümmern. Die Armen haben in der Regel aber keine Stimme und viele fühlen sich den Armen überlegen. Hinzu kommt noch, dass man in den meisten Gesellschaften vor den Armen Angst hat. Das ist das eigentliche Problem. Es sind doch nicht die Hautfarbe oder die Religion, die am meisten spalten, sondern ich glaube, die Armut schafft die größte Kluft.

Deutschlandradio Kultur: Demnächst werden Sie ein Buch mit dem Titel "Manifest" veröffentlichen – welchen Blickwinkel verleiht dieses Buch Ihrem Einsatz gegen Rassismus?

Lilian Thuram: Es geht darum, unsere Gesellschaft zu verstehen, auch aus der Historie heraus. Denn meiner Meinung nach blicken wir nicht genug in unsere Geschichte, um die Gegenwart zu erklären. Erst wenn wir unsere aktuelle Situation verstehen, können wir eine bessere Zukunft entwerfen. Dazu soll Manifest einige Denkanstösse bieten.

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns noch ein bisschen über Fußball sprechen. Hatten Sie damals kein Interesse, in Deutschland zu spielen wie Ihre früheren Nationalmannschaftskameraden Sagnol, Lizarazu oder Ribéry?

Lilian Thuram: Ich hatte das Glück, in Ländern und Clubs spielen zu dürfen, wo ich mich sehr wohl gefühlt habe. Leider kam es also nicht dazu, aber das wäre durchaus möglich gewesen. Wenn Bayern München mich damals kontaktiert hätte, wäre das sehr schmeichelhaft gewesen, denn Bayern ist ein ganz toller Verein.

Deutschlandradio Kultur: Wen sehen Sie bei der Europameisterschaft als Favorit?

Lilian Thuram: Ich habe zu lange Fußball gespielt, um eine Prognose zu wagen. Es ist ein kurzer Wettbewerb und wir werden sehen, welche Nationalmannschaft sich am besten vorbereitet. Es ist extrem schwierig, irgendwelche Vorhersagen zu treffen.

Deutschlandradio Kultur: Was halten Sie von der deutschen Nationalmannschaft im Augenblick?

Lilian Thuram: Ich verfolge die deutsche Mannschaft momentan nicht so genau – übrigens die französische auch nicht. Ich muss aber sagen, dass die deutsche Mannschaft bei der letzten Weltmeisterschaft eines der schönsten Spiele entwickelt hat. Und das Interessante war, dass das multikulturelle Element in den Vordergrund gestellt wurde. Es hat die deutsche Mannschaft lange im Wettbewerb gehalten. Wir müssen doch einfach nur die Geschichte, die Natur der Menschen verstehen. Wir sind eine Spezies, die Beziehungen aufbaut, die Kulturen, die Sprachen schafft, deshalb sollte man vor solchen Änderungen keine Angst haben.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie sich aus dem Fußballverband ganz herausgezogen oder wären Sie versucht, Michel Platini als UEFA-Präsident nachzufolgen?

Lilian Thuram: Nein. Momentan arbeite ich in meiner Stiftung. Ich habe Gelegenheit, mit Intellektuellen zusammenzuarbeiten und mich so zu bereichern. Und ich bemühe mich, dem jungen Publikum die Botschaften möglichst einfach zu vermitteln. Ich konnte ein Buch "Mes étoiles noirs" (Meine schwarzen Stars), veröffentlichen, und sehe, dass die Lehrer in den Schulen dieses Buch benutzen. Wir haben das Unterrichtsmaterial entworfen. Wir haben diese Ausstellung im Museum Quai Branly gestaltet, zu der viele Kinder kommen. Diese Ausstellung ermöglicht zu verstehen, weshalb es Vorurteile gibt, weshalb man bestimmte Menschen auf ihre Hautfarbe, auf ihre Religion reduziert. Aus diesen Identitätsschranken muss man ausbrechen, manchmal sperrt man sich selbst oder den Mitmenschen darin ein, dabei sollten wir die Frau oder den Mann dahinter sehen und uns fragen, wie wir eine bessere Gesellschaft aufbauen können.

Deutschlandradio Kultur: Was sagen Sie auf den Vorwurf: Lilian Thuram übertreibt, er macht einfach zuviel mit seinem Engagement gegen Rassismus?

Lilian Thuram: In jeder Gesellschaft gibt es Menschen, die sich dafür einsetzen, Mentalitäten zu verändern. Andere wollen keine Veränderung. Damit jemand nicht gehört wird, muss man ihn diskreditieren. Das ist so alt wie die Menschheit.

Deutschlandradio Kultur: Merci beaucoup!

Das Gespräch mit Lilian Thuram können Sie mit deutscher Übersetzung (MP3-Audio) oder im französischen Original (MP3 Audio) mindestens bis zum 18.7.2012 in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören.

Lilian Thuram, geboren 1972 im französischen Übersee-Departement Guadeloupe, kam als 9-Jähriger ins französische Mutterland, wo er in der Jugendmannschaft von Fontainebleau seine fußballerische Karriere begann. Diese krönte der heute 40-jährige frühere Verteidiger 1998 bei der WM in Frankreich mit dem Weltmeistertitel, es folgten ein Europa- und ein Vizeweltmeistertitel. Lilian Thuram hält mit 142 Einsätzen als Nationalspieler den Rekord bei Frankreichs Fußball-Männern. Er spielte als Profi beim AS Monaco, bei AC Parma und Juventus Turin, zuletzt bis 2008 für den FC Barcelona, bevor er seine Sportler-Karriere wegen eines Herzfehlers beenden musste. Seither widmet sich Lilian Thuram besonders dem Kampf gegen Rassismus.
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