Sog ins Unwirkliche

Rezensiert von Maike Albath · 20.10.2005
Die Protagonistin und Ich-Erzählerin ist unterwegs zu ihrem Vater nach Magnitogorsk in den Ural, wo sich das größte Stahlwerk der Welt befindet. Der Vater, Ingenieur von Beruf, arbeitet an der Modernisierung der Schaltkreise. Die gigantischen Technikanlagen erzeugen einen Sog ins Unwirkliche. Jeder, der hier lebt, ist von einer Mischung aus Phlegma, Hass und genussvoller Hingabe durchdrungen - auch die Heldin.
Marion Poschmanns Schwarzweißroman packt den Leser sofort am Schopf und zieht ihn hinein in den endlosen russischen Winter mit seinen Schneemassen, der klirrenden Kälte und dem ewigen Dämmerlicht. Die Geschichte beginnt mit dem Abflug einer jungen Frau von Moskau. "Pochende Dunkelheit, pochend und monoton", lautet der erste Satz, "Ein Motorengeräusch, so gleichmäßig, dass man es bald nicht mehr hörte, formloses Schwarz, ein Raum, der sich nicht aus der Reserve locken ließ." Plastische Sinneseindrücke, bei denen sich die Sphären des Hörens, Sehens und Fühlens immer wieder vermischen, bestimmen den Rhythmus der Entdeckungsreise. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin ist unterwegs zu ihrem Vater nach Magnitogorsk, wo sich das größte Stahlwerk der Welt befindet. Der Vater, Ingenieur von Beruf, arbeitet gemeinsam mit deutschen Kollegen an der Modernisierung der Schaltkreise. Die russische Industriestadt liegt genau an der Scheidelinie zwischen Europa und Asien und ist von titanischer Hässlichkeit: endlose Plattenbausiedlungen, unmenschlich große Plätze, breite Straßen, kaum Vegetation, was an der Umweltverschmutzung und der Verstrahlung liegt. Es war zugleich der Ort, an dem während des Zweiten Weltkrieges der Waffenbestand der Roten Armee angefertigt wurde.

Die gigantischen Technikanlagen erzeugen einen Sog ins Unwirkliche, jeder, der hier lebt, ist von einer Mischung aus Phlegma, Hass und genussvoller Hingabe durchdrungen, und auch die Heldin wird von einer tiefen Ambivalenz ergriffen. Die namenlose Ich-Erzählerin erkundet die Innenstadt mit den kärglich ausgestatteten Läden, besucht die Baustelle, auf der die deutsche Belegschaft tagelang auf Material wartet, das nie eintrifft und eine Fortsetzung der Arbeit unmöglich macht, sie schließt Freundschaft mit einem Mann namens Konstantin, der gemeinsam mit seiner Großmutter ein bescheidenes Haus bewohnt, und sie nimmt teil an den einschlägigen Maßnahmen gegen die Langeweile wie Trinkgelage, Dampfsauna, Tanzfeste und Schlittschuhlaufen. Die Industriewüste hat einen eigentümlichen Effekt auf das Innere der Menschen - plötzlich stimmen die Dimensionen nicht mehr, plötzlich gelten neue Regeln und Gesetze. Selbst ein braver Ingenieur wie Theodor Cziczinski aus dem Ruhrpott ist wie ausgewechselt. Seit Jahrzehnten glücklich verheiratet, mit allem, was nach bundesrepublikanischen Vorstellungen dazu gehört - mehrere Kindern, eigenes Haus, Urlaub in Österreich -, angelt er sich in Magnitogorsk eine Lehrerin namens Vera. Als die Ehefrau auftaucht und sich für längere Zeit bei ihm einnistet, geraten die beiden Welten in Konflikt, vor allem, weil der Ingenieur aus dem Westen für die Russin die einzige Zukunftschance darstellt. Ein weiteres Resultat der speziellen Atmosphäre in der lähmenden Einöde ist eine animalisch hervorbrechende Sexualität: Die Heldin beginnt eine Affäre mit dem Chef ihres Vaters, dem sie mit Haut und Haaren verfällt. Die junge Frau befindet sich, wie man erst gegen Ende des Romans erfährt, in einem "Biographieloch" mit einer halb abgeschlossenen Dissertation und ohne finanzielles Auskommen. Die russische Umgebung wirkt wie eine Spiegelung ihrer Unentschiedenheit. Als wegen des Materialmangels ein offizieller Urlaub anberaumt wird, reist sie mit ihrem Vater nach Tscheljabinsk, das wegen geheimer Atomversuche lange Zeit auf keiner Landkarte verzeichnet war. Von der Stadt aus dringen sie per Bus in das alte Sperrgebiet vor. Dort sieht es aus wie am Ende der Welt.

1969 in Essen geboren, fasziniert die Lyrikerin und Schriftstellerin Marion Poschmann in ihrem dritten Buch vom ersten Satz an durch ihre furiose Sprache. Sie zerlegt die Wirklichkeit in ihre Bestandteile und vermittelt die Eigenart der Fremde über bedrängende Bilder. Poschmann prägt ein Schreiben, das eine große Körperlichkeit besitzt. Emotionale Räume werden sprachlich ausgeleuchtet und übersetzt. So sieht Heimweh aus wie "blanke Quarzlinsen. Stiller Kummer, von schwarzen Flittern überkrustet". Ein anderes Mal heißt es: "Die Zeit rollte über uns hinweg wie ein Sattelschlepper." Ihr gelingen bizarre Sexszenen - erotische Entgrenzung wird zu einer extremen Naturerfahrung. Das Stahlwerk trägt nicht den Charakter einer von Menschen erbauten Anlage, sondern es erinnert an eine Naturkatastrophe. "Ich konnte nicht ausweichen, und ich krallte meine Hände um das eisige Geländer, bewunderte das Monumentale der Anlage, die überwältigende Grässlichkeit von Lärm und Schmutz und die grobe geordnete Unordnung, deren Zwecke ungeheuerlich und undurchschaubar waren." Dann wieder geraten Physiognomien in ihren Blick: die teigigen Körper der russischen Frauen während des Dampfbadbesuchs, die ungesunde Blässe ihres Freundes, der an den Folgen nuklearer Verseuchung sterben wird. Russland ist mehr als nur ein Land, es ist eine metaphysische Erfahrung. Marion Poschmann erzählt davon.


Marion Poschmann: "Schwarzweissroman." Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2005. 320 Seiten, 19,90 €.