"So viele Mythen haben sich als unbegründet herausgestellt"

Louise Arbour im Gespräch mit Doris Simon · 08.02.2011
"Übertriebene Angst" des Westens vor radikal-islamischen Bewegungen kritisiert Louise Arbour. Die Präsidentin der International Crisis Group rät der ägyptischen Opposition, prinzipientreu zu sein und die Muslimbrüder in den demokratischen Prozess einzubinden.
Nana Brink: Egal, ob Ruanda, Kongo, Kirgistan oder eben jetzt Ägypten: Die Fachleute der International Crisis Group in Brüssel wissen Bescheid über die Krisenherde dieser Welt. Die Nichtregierungsorganisation ist so etwas wie ein privates Weltaußenministerium, das seit 15 Jahren Analysen aus den Konfliktherden liefert. Im prominent besetzten Kuratorium sitzt nicht nur der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer, sondern auch Ägyptens neue Galionsfigur der Opposition, Mohammed El Baradei. Aber die International Crisis Group will nicht nur beraten, sondern sie hat auch Lösungsvorschläge parat, auch für Ägypten, das seit zwei Wochen von einer beispiellosen Protestwelle erschüttert wird.

Unsere Brüsseler Korrespondentin Doris Simon hat mit Louise Arbour, Präsidentin der International Crisis Group und ehemalige Hochkommissarin für Menschenrechte bei der UN, gesprochen und gefragt, ob sie nach dem gewaltsamen Eingreifen einen Wandel in der ägyptischen Regierung sieht.

Louise Arbour: Es scheint, als versuche die Regierung allerlei Signale zu senden, dass sie, wenn sie es will, Gewalt einsetzen kann, dass sie, wenn sie es will, bereit zu Verhandlungen ist. In gewisser Weise hat sie vielleicht nicht die Oberhand zurückgewonnen, aber doch die Möglichkeit wieder selbst die Initiative zu ergreifen. Ich glaube, dass die Regierung anfangs kalt erwischt wurde, sie war überrascht. Aber ich denke, dass die Gewaltausbrüche am Tahrir-Platz Mitte letzter Woche gezeigt haben, dass die Regierung in der Lage ist, Signale auszusenden, nämlich dass ihr viele Möglichkeiten zur Verfügung stehen, auf die Situation zu reagieren.

Doris Simon: Sie sehen also keinen klaren Wandel der ägyptischen Regierungspolitik?

Arbour: Zurzeit sind die Signale ermutigender, denn die Zeichen stehen auf Ausgleich und Verhandlungen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass die Gewalt – davon bin ich überzeugt – nicht spontan ausgebrochen ist. Sie sollte die Botschaft aussenden, dass auch das eine Option der Regierung bleibt.

Simon: Die Opposition besteht auf einem sofortigen Rückzug von Hosni Mubarak aus dem Präsidentenamt, der aber will offensichtlich nicht und fühlt sich auch nicht vom Westen gedrängt. Wie wichtig ist so ein rascher Abtritt für eine friedliche Lösung in Ägypten?

Arbour: Selbst die, die freie und faire Wahlen fordern, wissen, dass sie nicht zu früh stattfinden sollten. Bevor Wahlen abgehalten werden, muss eine Menge passieren. Zum Beispiel muss es Verfassungsänderungen geben, die dafür sorgen, dass an den Wahlen wirklich alle teilnehmen können. Ich glaube, dass es eine wachsende Übereinstimmung darüber gibt, dass es einen geordneten Wandel braucht. Wenn also diese Veränderungen im Rahmen der bestehenden Verfassungsordnung gemeistert werden sollen, mag Mubaraks früher Abgang gar nicht so wünschenswert sein. Letzten Endes müssen wir feststellen, dass die Menschen seine Abreise fordern, aber gleichzeitig wollen sie sehr grundlegende Verfassungsänderungen.

Simon: Wir sprechen mit Louise Arbour, der Präsidentin der International Crisis Group. Was, Frau Arbour, muss passieren um sicherzustellen, dass Ägypten zu einem demokratischen und einem sozial gerechteren Land wird?

Arbour: Die USA, die EU oder auch einzelne Regierungen sollten den Prozess des Wandels begleiten. Aber sie sollten sich davor hüten, so zu tun, als wären sie Herr dieses Verfahrens. Sie sollten vielmehr als Garanten auftreten für das, was herauskommen mag als Einigung in den derzeit zwischen Regierung und Opposition laufenden Verhandlungen. Sie sollten die Hoffnungen unterstützen der immerhin 83 Millionen Menschen, und die sprechen beileibe nicht alle mit einer Stimme. Sie haben unterschiedliche politische Vorstellungen, aber genau das macht die Demokratie ja aus. Ein friedlicher, grundlegender Wandel, der die Erwartungen derjenigen erfüllt, die ihr Leben riskiert haben, um Ägypten von Grund auf zu verändern.

Simon: Die Europäische Union ist in der Krise in Ägypten kritisiert worden, sie sei zu zögerlich aufgetreten. Was hätten die Europäer besser machen sollen?

Arbour: Aber wenn Sie sich den Prozess in Ägypten genau anschauen, sehen Sie, wie sehr das Ganze ein innerägyptischer, ein nationaler Prozess ist. Ich möchte nicht sagen, dass es irrelevant wäre, es wäre anmaßend und geschichtsvergesse, davon auszugehen, sie könnten diesen Prozess steuern. Diese Zeiten sind lange vorbei. Ich glaube, dass der Antrieb aus ägyptischen Hoffnungen heraus kommt, nicht aus den Erwartungen und Hoffnungen des Westens, auch aus jenen Irans oder von sonst irgendjemandem. Und es ist wahr: Ich glaube, der Westen war am Anfang langsam darin, die Ernsthaftigkeit der Demonstranten richtig einzuschätzen.

Simon: Müssten die Europäer in dieser Situation neben der angebotenen Transformationspartnerschaft nicht auch konkrete finanzielle Soforthilfe leisten?

Arbour: Die großzügige Unterstützung, die Präsident Mubarak während der letzten 30 Jahre erfahren hat, sollte definitiv erhöht werden, um Ägypten in der neuen Situation zu helfen. Dabei geht es erstens um eine Hilfe angesichts der heftigen ökonomischen Schäden, die die letzten Tage und Wochen mit sich gebracht haben, aber dann auch darum, den Neubeginn einer funktionierenden Demokratie zu fördern.

Simon: Es gibt im Westen die Sorge, dass die Muslimbrüder in Ägypten an die Macht kommen könnten, zugleich sieht man, dass es eine breite nicht-islamistische Opposition gibt, der ja auch Ihr Kuratoriumsmitglied Mohammed El Baradei angehört. Erwarten Sie einen Machtkampf in der Opposition, und wer könnte daraus hervorgehen?

Arbour: Die große Herausforderung der Opposition ist aus meiner Sicht, sich zu vereinigen. Gerade angesichts der Tatsache, dass die Pro-Mubarak-Seite – davon bin ich überzeugt – große Anstrengungen unternehmen wird, die Opposition zu entzweien. Erste Anzeichen dafür können wir schon beobachten. Aber grundsätzlich muss die Opposition sehr prinzipientreu bleiben, sie muss sich an ihren Idealen orientieren, aber sie muss sich gleichzeitig auch pragmatisch zeigen. Und wenn sie genug Garantien hat, dann kann sie weitere Schritte unternehmen. Was die Muslimbruderschaft angeht, auch mit Blick auf ihre Geschichte: Sie hat trotz aller Repression, die sie erfahren hat, erklärt, der Gewalt abschwören zu wollen. Und sie hat ihren Wunsch betont, eine Rolle im demokratischen Prozess zu spielen. Es ist äußerst wichtig, dass sie das laut und deutlich wiederholen.

Simon: Im Gespräch Louise Arbour die Präsidentin der International Crisis Group. Frau Arbour, viel wird ja über Gefahren und Probleme gesprochen im Zusammenhang mit den jüngsten Entwicklungen in Ägypten. – Gibt es da eigentlich auch Chancen für den Westen?

Arbour: So viele Mythen haben sich als unbegründet herausgestellt, etwa die Überhöhung einer aus Unterdrückung resultierenden Stabilität. Die Vorgänge haben die Zerbrechlichkeit von Regimen deutlich gemacht, die alles andere als zerbrechlich wirkten. Viele Legenden haben sich als falsch herausgestellt, eine davon ist äußerst übertriebene Angst in der westlichen Welt, dass alle Formen von religiös-konservativen islamischen Bewegungen zwangsläufig extremistisch sind, und dass ihnen deshalb kein Platz im demokratischen Prozess eingeräumt werden durfte. Das war eine äußerst irrationale Sorge, vor allem im letzten Jahrzehnt.

Nana Brink: Unsere Brüsseler Korrespondentin Doris Simon im Gespräch mit Louise Arbour, Präsidentin der International Crisis Group.

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