So sieht die Wahrheit aus

02.02.2008
Ob es um die Klassifikation von Pflanzen oder Tieren, von Schneeflocken oder Sonnenwirbeln geht: Ein Atlas ist der Speicher aller maßgebenden Bilder eines Fachs. Seit dem 16. Jahrhundert lehren Atlanten ihre Betrachter das richtige Sehen, weil sie Dinge und Lebewesen so darstellen, wie es der Atlasmacher zu seiner Zeit für wahr und wissenschaftlich geboten hielt.
Bilder aus Atlanten des 18. bis 20. Jahrhunderts haben sich die Wissenschaftshistoriker Lorraine Daston und Peter Galison in diesem Buch vorgenommen, um zu untersuchen, wann genau ein Bild für die Forscher als wahres Abbild seines Gegenstandes gelten konnte. Sie sind dabei auf Unterschiede gestoßen, die ein faszinierendes Licht auf den Wandel des Erkenntnisinteresses der Forscher werfen.

Sie erzählen davon in Geschichten von berühmten wie von fast vergessenen Forschern, die dem Leser das Ringen um das wahre Bild als hochgradig spannenden Streit um den richtigen, den einzig wahren Blick auf die Welt vor Augen führen: Wenn der Botaniker Carl von Linné im 18. Jahrhundert mit größtem Selbstbewusstsein Formen von Blüten und Blättern begradigt und idealisiert, um die individuellen Wucherungen der unendlich vielen Einzelexemplare auf den einen, natürlich schönen Typus der Pflanze zurückzuführen.

Wenn der britische Physiker Arthur Worthington Ende des 19. Jahrhunderts schockiert vor den ersten Photographien chaotisch auseinander spritzender Tropfen steht, die er in seinen Zeichnungen bislang doch stets als völlig symmetrisch sich auffächernde Kronen dargestellt hat.

Und wenn der Berliner Meteorologe Gustav Hellmann schließlich 1893 den ersten Atlas vorlegt, der Schneeflocken nicht mehr als geometrisch vollkommene Kristalle, sondern als schiefwinklige, oft beschädigte Gebilde präsentiert. Dann können die Autoren jedes Mal zeigen: Hinter dem Bild steht eine ganze "kollektive Weise des Erkennens".

Lorraine Daston, Direktorin am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und Peter Galison, Professor für Wissenschaftsgeschichte in Harvard, erzählen in diesem großartigen, an Erkenntnissen unendlich reichen Band die erstaunlich kurze Geschichte der Objektivität. Des Strebens, etwas für andere überprüfbar darzustellen? Viel mehr als das. Die Autoren zeigen, dass Objektivität als wissenschaftliches Ideal erst im 19. Jahrhundert entsteht und bedeutete, ein Wissen anzustreben, dass "keine Spuren des Wissenden trägt".

An die Stelle des weisen Naturforschers der Aufklärung, der die Fülle der Erscheinungen souverän zu ordnen wusste, trat im 19. Jahrhundert der skrupulös noch die kleinste Abweichung, den winzigsten Ausreißer der Messwerte dokumentierende Wissenschaftler, der ein neues Hindernis auf dem Weg zur Erkenntnis entdeckt hatte: Sich selbst.

Die große Leistung der Autoren besteht nun in zweierlei: Zum einen suchen sie dieses neue Ideal der Forscher in ganz konkreten Bildern und alltäglichen Praktiken auf, in penibel geführten Laborprotokollen mit Echtzeit-Einträgen und millimeterfeinen Gitternetzen für die Zeichner. In akribisch registrierenden Messapparaturen und in der Weigerung, ein Foto zu retuschieren. Zum anderen erklären sie diese neuen Praktiken nicht allein mit dem technischen Fortschritt, mit der Erfindung neuer Maschinen und Medien. Stattdessen stellen sie den neuen Bildern ein neues Selbstbild der Forscher gegenüber, das sich in Notiz- und Tagebüchern, Biographien und Autobiographien, Porträts und Lobreden auf die Wissenschaftler studieren lässt.

Mit seinen brillanten Schilderungen von Bildentstehungen und Bilderkämpfen ist dieses Buch ein eindrucksvoller Beweis für die Bedeutung einer Bildwissenschaft, die sich nun seit über zehn Jahren Fächerübergreifend etabliert und Bilder als unschätzbar wertvolle Quelle für das Verständnis historischer Erkenntnisstrukturen entdeckt. Der detektivische Spürsinn, den Daston und Galison hier unter Beweis stellen, ist gegenwärtig allenfalls noch mit den Studien des Kunsthistorikers Horst Bredekamp zu vergleichen, der in seinem jüngsten Werk die Zeichnungen Galileo Galileis einer atemberaubenden Lektüre unterzieht.

Nicht genug loben kann man auch die wunderbar bildreiche Sprache der Autoren. Wer so schreibt, kann selbst einen Streit, der im Jahr 1906 zwischen zwei Neurologen um die Darstellung von Nervenzellen ausgetragen wurde, als das kenntlich machen, was er bislang wohl nur für eingeweihte Fachleute war: Ein Wissenschaftskrimi, der vom Streit um das Verstehen der Welt erzählt.

Rezensiert von Alexandra Mangel

Lorraine Daston, Peter Galison: Objektivität
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa Krüger
Suhrkamp Verlag 2007
530 Seiten, 43,90 Euro