So gefährlich ist Lärm wirklich

Von Carolin Hoffrogge · 27.05.2012
Auf dem Pausenhof, beim Rockkonzert, an Silvester: Immer öfter sind wir heute ohrenbetäubendem Krach ausgesetzt. Forscher warnen vor einer Generation von Schwerhörigen - und belegen mit Experimenten die zerstörerische Wirkung des Lärms.
"Man soll ein bisschen leiser sein, weil es den anderen Kindern zu laut ist. Dann kann man auch Ohrenschmerzen kriegen."

So wie der fünfjährigen Maite Freudenthal geht es wohl vielen Kindern im Kindergarten oder in der Schule. Sie fühlen sich beim Spielen und Lernen gestresst. Lachen, Weinen, Brüllen, Schreien: bis zu 100 Dezibel können Kinder dadurch verursachen. Dann ist es so laut wie auf einem Rockkonzert, sagt Tobias Moser, Professor an der Göttinger Uniklinik.

"Ich habe den Lärmpegel im Kindergarten mal gemessen, der liegt im ohrenschädigenden Bereich. Ich denke, da ist ein dringender Handlungsbedarf, dort die Lärmbelästigung einzudämmen, das gilt auch für die Pausen in der Schule."

Mit dem gleichen Lärmpegel wie die Kinder beschallen Wissenschaftler der Harvard University in Boston und der Universität Göttingen auch ihre Versuchsmäuse: mit 100 Dezibel starkem Rauschen, eine Stunde lang. Anschließend schauen Tobias Moser und seine Kollegen mit Hilfe eines Lichtmikroskops bis ins kleinste Detail im inneren Ohr der Mäuse. Sie vergleichen eine beschallte Maus, mit einer nicht beschallten Maus.
"Wir sind jetzt hier im Innenohrlabor der HNO-Klinik der Unimedizin Göttingen."

Biologe Zang Yon Young präpariert gerade die inneren Haarzellen einer Maus auf einem Objektträger, danach beugt er sich über das Hochleistungsmikroskop.

Moser: "Momentan befinden wir uns in dem Bereich, wo wir die Haarzellen direkt untersuchen."

Young: "I´m preparing some innerhaircell. I isolate an inner haircell. You can see the glaspipette and I will show you the cell here, can you see?"

Moser: "Das sind die Härchen der Haarzellen, die man da sieht, das ist ein Präparat einer gesunden Maus."

In einer grasgrünen Flüssigkeit leuchten die Haarzellen, sehen aus wie Garnelen. Einmal mit gesunder, einmal mit ausgefranster Struktur. Denn 100 Dezibel Lärm über eine Stunde lang hat im Ohr der Mäuse eine zerstörerische Wirkung.

"In den Experimenten, die sich mit den Lärmschädigungen beschäftigen, haben die Wissenschaftler in Boston festgestellt, dass unmittelbar nach einer solchen Beschallung viele der Kontaktstellen zwischen Haarzellen und Hörnervenzellen, die Synapsen kaputt sind."

"In den Tierexperimenten ist man erschrocken darüber, dass schon am nächsten Tag die Hälfte der Synapsen gefehlt hat. Wenn sie sich eine Haarzelle vorstellen, dann hat die circa 20 Verbindungen zu den Hörnervenfasern und wenn da jetzt die Hälfte fehlt, dann ist das eine massive Einschränkung und die kann man beim HNO-Arzt tatsächlich nachmessen lassen."

An den Kontaktstellen der Haarsinneszellen und Hörnervenzellen, den sogenannten Synapsen, setzen die Haarsinneszellen den Botenstoff Glutamat frei, der die Nervenzelle erregt. Je lauter die Musik oder der Schall, desto stärker die Erregung bis schließlich die Synapse zerstört ist. Da können Knallfrösche, Silvesterknaller, Spielzeugpistolen, Jagdgewehre oder einfach ein richtig lautes Rockkonzert einiges im Innenohr anrichten, warnt Tobias Moser. Kommt dann noch der Lärm im Kindergarten oder in der Schule dazu, entwickelt sich eine "Generation von Schwerhörigen".

"Es ist in der Tat so, dass wir eine Zunahme von Schwerhörigkeiten im Bereich hoher Töne haben. Schon allein, wenn wir Studenten im Praktikum haben und hier Hörtests durchführen, sehen wir Hörverluste, die dort altersgemäß nicht hingehören. Ich meine, dass die Beschallung im Freizeitbereich unverantwortlich ist."

Haarsinneszellen und Hören gibt es nur einmal, appelliert der Arzt an alle, die sich ständig mit lauter Musik über Kopfhörer beschallen. Und auch wenn sich die Ergebnisse an den Mäusen in Boston und Göttingen nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen lassen, sind sie beunruhigend.

"Das Hörgerät selber wird sicherlich der Versuch bleiben zu helfen, aber wenn sie weniger Kanäle zum Gehirn haben, können sie das eigentlich nicht wirklich reparieren. Man muss Aufklärungsarbeit leisten, was wir hier auch mit Kindern und Jugendlichen machen, in dem wir ihnen erklären, dass Haarzellen nur einmal vorhanden sind und man sich tatsächlich dort schützen muss. Meine Söhne bitte ich eindringlich, dass sie nicht ohne Gehörschutz zu Konzerten gehen, aber das ist eine schwierige Diskussion."

Also kein Rockkonzert mehr ohne Gehörschutz. Wer keinen dabei hat, kann sich auch ein Papiertaschentuch zusammenknüllen und dieses ins Ohr stecken. Immerhin ist das etwas besser als die Ohren durch den Lärm nachhaltig und langfristig zu schädigen. Tobias Moser und sein Team wollen jetzt auch die Lärmschäden im Innenohr des Menschen nachweisen.

"Das ist beim Menschen schwieriger als an der Maus, aber man kann diese Verminderung der Nervenantwort tatsächlich nachweisen. Das ist ein Paradigmenwechsel in unserer Betrachtung der Lärmschwerhörigkeit, ob wir diesen Schaden in unsere Betrachtung der Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit mit aufnehmen müssen."

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