So fern, so nah

Von Johannes Halder · 29.05.2009
Gerade war in Zürich "Giacometti, der Ägypter" zu sehen, da folgt im schweizerischen Riehen bei Basel nahtlos schon die nächste Schau. Sie heißt schlicht "Giacometti" und ist als eine Art Gipfeltreffen der berühmten Künstlersippe aus dem alpinen Bergdorf Stampa inszeniert: Vater Giovanni und dessen Vetter Augusto, Bruder Diego, dazu Mutter und Schwester als Modelle. Im Mittelpunkt aber Alberto, das Genie.
Neun Frauen stehen gleich am Eingang zum Empfang bereit, eine Parade dürrer Damen, hochbeinig und hager, die krustige Bronzehaut bei jeder anders patiniert. 1956 hat Alberto Giacometti fünfzehn dieser Frauen geformt und neun davon in Bronze gießen lassen für die Biennale von Venedig. Selten sind sie, so wie hier, vereint zu sehen: kleine Köpfe, filigrane Körper, unterschiedlich hoch, doch bei allen archaisch würdevoll die Haltung, das Volumen gerade nur so in den Raum gehaucht.

Der ausgezehrte Mensch - Giacomettis Markenzeichen. Der Mensch, wie er steht, wie er geht und sich bewegt, die besessene Suche nach der idealen Form; ein Thema, von dem Ulf Küster, der Kurator, gar nicht genug bekommen kann:

"Es ist ein Künstler, der außerordentlich rätselhaft ist, der außerordentlich faszinierend ist, der immer wieder neue Fragen aufwirft. Wir denken diese Ausstellung von ihm aus, von Alberto aus, und zeigen eigentlich seinen Kosmos."

Albertos Kosmos, das war die Familie. Er selbst die Sonne, das Genie, und die anderen, die wie Planeten um ihn kreisen. Gleich im ersten Saal die Malereien des Vaters Giovanni, der bald im Schatten seines Sohnes steht. Wir sehen die alpenländischen Landschaftsimpressionen des Vaters, sein Selbstbildnis im Schnee, die Porträts seiner Söhne.

Dann, im nächsten Raum, Vater und Sohn: Porträts und Selbstporträts, ein gegenseitiges Maßnehmen. Alberto, der strotzt vor Selbstbewusstsein, der malt und modelliert, den Vater, die Mutter, die Schwester Ottilia, die jüngeren Brüder Diego und Bruno. Er braucht sie alle, den Vater als verehrten Lehrer, die Frauen als Halt und verlässliche Modelle, den Bruder Diego sowieso, als Objekt, als Gegenüber, aber vor allem als treuen, geschickten Gehilfen, bis zuletzt. Die Rollen sind schon früh verteilt.

"Und weil Alberto hypergenau, hypersensibel, hyperbegabt war, hat er seine Geschwister dazu gezwungen, super still zu stehen, oder selbst die Augen durften sie ja nicht bewegen. Der war ja manisch im Grunde genommen in dem Willen, Wirklichkeit darzustellen, schon als Kind. Also das ist ja von Bruno oft erzählt worden, auch kürzlich wieder. Das war gar nicht angenehm, und das hat sich ja das ganze Leben hindurchgezogen. Alberto brauchte ein Gegenüber, er brauchte jemanden, auf den er sich verlassen konnte, eben weil das für seine Kunst wichtig war."

Der nächste Saal gleicht fast einer Art Folterkammer. Hier ist zu sehen, was Albertos Phantasie im Kreis der Pariser Surrealisten ausgebrütet hat. Aggressive Objekte wie die "Frau mit durchschnittener Kehle", sadomasochistische Apparaturen, Albträume und Visionen von Trieb, Gewalt und Todeskampf, psychische Turnierfelder mit Stacheln, Schneiden, Keilen und Spitzen – ein beklemmendes metaphysisches Schat-tenreich. Und am Boden ein kubisch abgeschrägter Klotz aus Gips, der sich wahlweise als Albertos Kopf deuten lässt oder sein Pariser Atelier.

"Das Atelier von Alberto, das war ja dann seit 1927 immer dasselbe, nur 23 Quadratmeter groß, er sagte ja selber, es war ja nur ein Loch, ich wollte sofort wieder ausziehen, dann merkte ich, ich konnte da alles machen. Und ich konnte da alles drin machen, das heißt ja auch, das war seine Bühne, das war auch seine Festung."

In dieser staubgrauen Höhle, die er nur zu Ausflügen in die Bistros und Bordelle von Montparnasse verließ, entwarf Alberto um 1936 auch jene extravaganten Designobjekte, die zusammen mit den bizarren Bronzemöbeln seines Bruders Diego ausgestellt sind: Vasen und Lampen, Auftragsarbeiten für Geld, nicht, weil sie ihn wirklich interessierten.

Dann aber, der ganze Rest der Schau, Giacometti, wie wir ihn kennen und doch noch nie gesehen haben: das Drama von Nähe und Distanz, von Dimension und Wirklichkeit, von Raum und Zeit, von Stillstand und Bewegung. In einem großen Saal ein einziges, winziges Figürchen, so hoch wie ein kleiner Finger nur, und doch verstörend monumental. Ein Mensch, scheinbar fern, und doch so nah und im Grunde einfach nicht zu fassen.

"Man muss sich natürlich auch immer klar machen, dass er dieses Ideal nie erreichen konnte, und dass im Grunde genommen dieser Trieb, weiterzumachen, eigentlich immer darauf beruhte, dass er immer ge-scheitert ist. Das Scheitern ist Teil des Werkes von Giacometti, weil das Scheitern ihm den Neuanfang, immer wieder den er-neuten Neuanfang ermöglichte. Er war ja nie zufrieden mit allem, er fand das alles schlecht, was er gemacht hat, immer. Er brauchte das Scheitern, um sich weiterzuentwickeln."

Und deshalb hört Giacometti zeitlebens nicht auf, sich selbst zu quälen mit nervös tastenden Fingern in Gips und Lehm, auch mit dem Pinsel auf der Leinwand. Die Schau bietet wunderbare Blickachsen und Raumbezüge, zeigt Köpfe, Büsten und Figuren, in Grau gemalte starrende Gesichter, die den Blick des Betrachters bannen, eindringlich wie Ikonen.

Und trotz der vielen Plastiken – selten hat man die Räume der Fondation Beyeler so luftig und weit erlebt. Die Sockel hat man farblich dem Fußboden angeglichen und dadurch nahezu zum Verschwinden gebracht – ein genialer Inszenierungstrick.

Kein Wunder, dass die ätherischen Gerüste von Giacomettis Figuren dem amerikanischen Maler Barnett Newman vorkamen, als wären sie aus Spucke gemacht. Hier bekommt man eine Ahnung von dem, was den Bildhauer in die Verzweiflung trieb: die Schnittstelle von Raum und Zeit, der vierten Dimension, in der sich die plastische Figur fast substanzlos vergeistigt und verflüchtigt, als wäre ihr Volumen ständig in Bewegung, ständig auf der Flucht.

Es ist die Zeit, die als Gestalter wirkt und sich dem Künstler, der sie fassen will, entzieht. Dass sie ihr Geheimnis bewahrt, ist wohl auch besser so. Denn: "Das Schöne an der Zeit", hat Giacometti mal gesagt, "das Schöne an der Zeit ist, dass man sie nicht in Bronze gießen kann."